Der Zertifizierungswahnsinn

Was wird heute nicht alles zertifiziert?! Und bekommt irgendein „Wapperl“ (eine aufgeklebte Marke), das eine irgendwie bezeichnete Zertifizierung bestätigt. Warum ist das so? Ist etwas ohne Zertifikat wertlos? Denken wir an „Bio“ als Auszeichnung von Lebensmitteln, bei denen – ja, was nun? – angeblich keine landwirtschaftlichen „Kampfstoffe“ Verwendung gefunden haben sollen? Oder denken wir an die ISO-Zertifizierung von Prozessen, bei denen nicht die Prozesse selbst gesichert werden, sondern nur die Dokumentation der Prozesse beurteilt wird.

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Heißt das nun, dass alle nicht zertifizierten Prozesse die reine Schlamperei darstellen? Das ist doch hirnrissig! Am Ende dieses Zertifizierungswahns steht neben jedem, der aktiv etwas tut, ein zweiter, der eifrig dokumentiert, dass der erste etwas getan hat. Gibt es ein schöneres Beispiel für Bürokratie?

In einem Wirtschaftssystem, indem nur die Quantität (Absatz) und Preis zählt, kommt die Qualität unter die Räder. Zertifizierung ist ein Versuch, den verlorenen Qualitätsbegriff durch die Hintertür wieder einzuführen, aber zu welchem Preis? Bei einem Hersteller eines Produktes (vom alten Schlag) stand immer die Qualitätsfrage im Vordergrund, denn von alters her war Qualität das wesentliche Verkaufsargument. Wenn die Qualität den Verbraucher nicht zufrieden stellte, war das ein absolutes KO-Kriterium. Man kaufte ja auch nicht, um aus Langeweile zu shoppen, sondern man trug sein schwerverdientes Geld nur dorthin, wo man für sein Geld Qualität geliefert bekam. Das Gekaufte musste jahrelang gebrauchsfähig bleiben und ggfs. auch zu reparieren sein. Ramsch war unter diesen Umständen undenkbar.

Das hat sich grundlegend gewandelt. Bei dem Versuch, Umsatz zu maximieren, wurde das Argument der Qualität durch den Preis ersetzt. Da Qualität Geld kostet, blieb sie auf der Strecke. Um im Preiswettbewerb bestehen zu können, hat sich die Qualität in aller Regel dem sinkenden Preis angepasst. Wenn man sich auf dem Markt ein wenig umschaut, stellt man zumindest im Retail (Einzelhandel) fest, dass zahllose angebotene Artikel im Grund nur produzierten Müll darstellen, der kaum eine sinnvolle einmalige Anwendung übersteht, um dann sofort im Müll zu landen. Wir merken dieses Verhalten schon gar nicht mehr; man kann sich heute Dinge mal schnell billig kaufen, für die musste ich vor 50 Jahren monatelang sparen. Mein Verhältnis zu dem Gekauften war aufgrund des Preises nicht durch Wegwerfen geprägt, sondern vom langfristigen Gebrauch.

Nun gibt es einen großen Teil der Bevölkerung, den dieser Wegwerfkonsum abstößt. Man hat irgendwo noch eine Idee von Qualität, kann und will sich aber auf die werblichen Aussagen des Handels und vieler Hersteller zu Recht nicht verlassen. Hier wurde dann wohl der Gedanke einer Zertifizierung geboren. Es ist der Versuch, die ursprüngliche Selbstverständlichkeit, Qualität abzuliefern, durch die Erlangung von Zertifikaten wieder einzuführen: Wer dieses Zertifikat erworben hat, so die Meinung, liefert Qualität!

Man merkt schon an der Wortwahl, dass diese Zertifikate gekauft werden müssen. Und wer zahlt, schafft an (Das ist ein wesentliches Grundgesetz des Kapitalismus)! Damit ist im Prinzip alles gesagt. Zertifizierung ist ein gnadenloses Geschäft und der Zertifizierungswahn befeuert diesen Markt. Wenn doch die kapitalistische Grundregel der Effizienz dazu führt, dass die Qualität aus dem System heraus fliegt, warum sollten dann „Zertifizierer“, die sich dem gleichen Prinzip zu unterwerfen haben, sicherstellen können, dass Qualität wieder Teil des Prozesses wird.

Die Zertifizierung bezieht sich in keinem Fall auf konkrete Vorgänge, es geht immer nur um die Zertifizierung der Beschreibung (Dokumentation) des Vorgangs. In einem zweiten Schritt wird dann überprüft, ob die Dokumentation auch angewendet wird. Wie macht man sowas? Man fordert von den Tätigen (im Unterschied zu den Kontrolleuren) auf jedem Stück Papier viele Häkchen, ein Datum und seine Initialen zu hinterlassen. Ob es stimmt, was da im Akkord abgehakelt und unterzeichnet wird, wissen nur die Götter. Aber mit jedem falsch gesetzten Haken riskiert der tätige Arbeitnehmer seinen Job. Und will man jemanden im Betrieb loswerden, so gibt es mindestens zwei Stellen, an denen man drehen kann: Reisekosten (in den oberen Etagen) und Mängel beim Ausfüllen von Zertifizierungs-Vorgaben.

Man muss sich das möglichst konkret vorstellen – beim Qualitätsmanagement geht nicht um das Produkt, um die verwendeten Materialien, die Sinnhaftigkeit des Produktes, es geht schlicht darum, dass diese Produkte immer mit der gleichbleibenden ‚Prozedure‘ hergestellt werden. Das Produkt selber kann funktional Schrott oder Müll sein. Das zu beurteilen steht der Zertifizierung auch nicht zu.

Heute bestimmt das Qualitätsmanagement häufig die Abläufe im Detail statt sich auf Abweichungen oder Ausnahmesituationen zu konzentrieren, die dann konkret im jeweiligen Fall eine gesonderte Korrekturmaßnahme erfordern würde. Das QM geht per se davon aus, dass Qualität nur dann erreicht wird, wenn alles unter Kontrolle ist. Aber es sollte umgekehrt sein: Der Produktions-oder Leistungsprozess ist so strukturiert, dass in 90 oder 95% der Fälle das gewünschte Maß an Qualität hervorgebracht wird und nur wenn hier Abweichungen entstehen, greift die Kontrolle.

Es wird immer wieder betont, dass unsere Wirtschaft kreativ oder innovativ sein solle. Dem kann man wenig entgegen setzen. Aber es muss klar sein, dass Zertifizierung als ein Element der verstärkten Bürokratisierung aufgefasst werden muss und in kreativen oder innovativen Kreisen keinen Platz haben kann. Zertifizierung kann erst dann einsetzen, wenn der ehemals eventuell innovative Ausgangsprozess in eine Standardabwicklung überführt wird. Er wird bürokratisiert. Dann hat der Prozess aber jede Kreativität verloren.

Ich denke, das beschreibt in wesentlichen Zügen, was Zertifizierung in unserem System zu leisten im Stande ist. Aber eins muss dabei klar sein, mit dem abstrakten Begriff Qualität, der sich aus der Beziehung von Produkt und (nachhaltiger) Anwendungsmöglichkeit entwickelt, hat die Zertifizierung nichts gemeinsam. Zertifizierung ist ein schlecht gemachtes Feigenblatt, mit dem wir uns einbilden, wir könnten die Eigenschaft ‚Qualität produzieren‘ in das System zurückholen. Es ist die Quadratur des Kreises: Ein auf Quantität programmiertes Wirtschaftssystem ist nicht in der Lage, wirkliche Qualität zu verstehen. Das kapitalistische System hat dafür keine Kategorien. Das schließt ja nicht aus, dass in unserem Land und anderswo Qualität produziert wird. Nur hat das mit der Zertifizierung nichts zu tun. Die meisten Hersteller, die Qualität produzieren, haben sich inzwischen (Not gedrungen) zertifizieren lassen, weil es offensichtlich dazu gehört, aber zu dem, was vernünftige Menschen unter Qualität (eines Produktes) verstehen, trägt die Zertifizierung nichts bei.

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