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Management „by desaster“?

Problemlösungsansätze variieren zwischen „Design“ und „Desaster“ als Endpunkte eines Kontinuums von Aktionsmöglichkeiten. Der Ansatz über das „Design“ läuft über Erkenntnis, Einsicht und Vernunft, handeln nach Plan A oder B unter Berücksichtigung möglicher Kollateralschäden. Am anderen Ende des Kontinuums läuft der Ansatz ins „Desaster“, geprägt von Unwissenheit, kompletter Überforderung, fehlender Übersicht, egoistischem Aktionismus (rette sich, wer kann), völlig unstrukturiertem Handeln und für die Betroffenen oft mit überraschenden, ungerechten und schmerzvollen Folgen.

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Unter diesen Prämissen wäre ein Handeln im Rahmen von „Design“ fraglos das Wünschenswerte und Richtige. Warum tun wir es dann nicht? Seit über 50 Jahren wissen wir, dass wir ein Verhalten an den Tag legen, das es dem Planeten auf lange Sicht unmöglich macht, dieses Verhalten zu tolerieren. Wir wissen um das Problem, aber wir handeln nicht. Mit anderen Worten: Das „Design“ zu entwickeln und umzusetzen, würde konsequentes Handeln erfordern und das ist uns zu mühselig; wir müssten aus der ‚Komfortzone‘ ins wirkliche Leben treten. Also bewegen wir uns „konsequenter Weise“ auf dem Kontinuum Schritt für Schritt, Jahr um Jahr, in Richtung „Desaster“.

Wie könnte das „Desaster“ aussehen? Ein Blick auf unsere Energiepolitik gibt uns einen kleinen Vorgeschmack, wie etwas, das wir alle wissen, dass wir es ändern müssen, plötzlich, wie ein „Schwarzer Schwan“ (Nassim Taleb) zwischen uns landet und uns die Komfortzone mit wenigen Handgriffen zerstört. Ob die Ursache des Schwarzen Schwans mit Wladimir Putin in Verbindung gebracht wird, ist Ansichtssache. Das Problem der Rohstoffabhängigkeit bestand schon lange vorher. Wenn Wladimir Putin wirklich ins Spiel gebracht werden muss, dann ist er nicht das Problem, sondern nur der Anlass.

Es ist möglicherweise ein klassisches Beispiel, wie Gewohnheit, Bequemlichkeit und falschverstandener Optimismus uns regelmäßig an den Rand des Desasters führen. Schwierig wird es nur, wenn die Probleme oder die Desaster sich häufen: Wir sind gerade dabei, die Pandemie als überwunden zu betrachten (trügerisch) und die Tragweite der Klimakrise richtig zu verstehen, da tritt auch noch eine Situation ein, die die schon lange angestrebte Energiewende in einer Art und Weise auf die Tagesordnung setzt, die der Politik keine Chance lässt, sie weitere zwanzig Jahre in die Zukunft (also in den Bereich der nächsten Generationen) schieben zu können. Wir werden nun in zwanzig Jahren keinen Plan mehr für das „Design“ einer Energiewende benötigen. Der Sachzwang, der durch den Einmarsch der russischen Streitkräfte in der Ukraine und den damit verbundenen Sanktionen auf beiden Seiten auftritt, wird die Energiewende jetzt und sofort ohne Wenn und Aber einleiten.

Die Energiepreise werden weiter steigen und brechen alle Rekorde. Eine gesicherte Versorgungslage bei den notwendigen Rohstoffen ist mittelfristig zweifelhaft. Und die Politik will das Problem über die erneuerbaren Energieträger lösen, hat aber die letzten Jahrzehnte viel darüber geredet und wenig bis gar nichts dafür getan. Die große einseitige Abhängigkeit von den russischen Ressourcen ist nun überdeutlich und für jedermann erkennbar. Warum erst jetzt? Das ist doch nicht überraschend.

Wir haben noch einen Schwarzen Schwan: wir wissen seit vielen Jahren um die unzureichende Ausrüstung der Bundeswehr und haben geglaubt, dass wir als Natomitglied schön warm sitzen und statt die eigene Infrastruktur aufzubauen, die der Nato nutzen können. Dieser Schwarze Schwan kostet uns mal schlappe einhundert Milliarden Euro. Bisher musste das Amt für Beschaffung sparen und hat sich auch nicht durch besonders cleveres Handeln ausgezeichnet. Und plötzlich gibt es Geld im Überfluss. Ob das wohl gut geht? Jahrelang wurde die Bundeswehr „kaputtgespart“ und plötzlich soll sie „Gas“ geben. Das ist ein kompletter Perspektivwechsel. Eine Bürokratie ist von ihrer Struktur her darauf nicht eingerichtet.

Denken wir an die Bundesbahn, die in den 1990iger Jahren im Auftrag der Bundesregierung ebenfalls kaputtgespart bzw. davor überflüssigerweise auf einen ‚Börsengang‘ vorbereitet wurde. Die Bahn hat sich heute (nach über 25 Jahren) noch nicht von dieser unsinnigen „Rosskur“ erholt. Die Zeit drängt auch hier, weil die Bahn eine unverzichtbare Säule unseres künftigen Mobilitätskonzeptes darstellen wird.

Das zusätzliche Problem liegt dabei in der gewaltigen Ballung von Aktionen: die Pandemie hat uns richtig Geld gekostet, die Klimakrise war bisher noch der billigste Sachverhalt, dann kommt die Infrastruktur der Bundeswehr mit einer Beschaffungsamtstruktur, die nur auf Klein-klein ausgerichtet ist. Hinzu kommt jetzt auch noch eine Form der „Energiewende“, auf die unsere Politik nicht vorbereitet ist. Das sind m.E. deutliche Zeichen für das, was man landläufig ein „Desaster“ nennt.

Hätten wir zwischen den einzelnen Aktionen Zeit, so wäre manches zu regeln. Wenn die Bundesregierung eine Energiewende in Eigenregie ausgerufen hätte, könnte man davon ausgehen, dass man sich hinsichtlich der finanziellen und politischen Verträglichkeit Gedanken gemacht hat. Der „Schwarze Schwan“ sitzt jetzt aber (dick und fett) mitten unter uns und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Politik ein Konzept hat, was jetzt wie geregelt werden könnte. Die, die die Klimakrise ernst nehmen, wollen ja eine Energiewende, aber wir sind leider überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass es jetzt und sofort passieren soll.

Es besteht die Gefahr, dass das Zeitfenster für das Handeln, das sich unerwartet (als Desaster-Scenario) auftut, nicht richtig oder nicht angemessen genutzt werden kann. Es fehlt an einem Plan oder wenigstens an einer guten Idee. Eine zweite Chance werden wir aber nicht so schnell bekommen. Dieses Mal kann die Politik bei allem kommenden Ungemach auf die Großwetterlage verweisen und sich für die notwendigen strikten und auch eventuell schmerzhaften Maßnahmen mit Hinweis auf Putin aus der Verantwortung stehlen. Beim nächsten Mal muss das Ganze aus der Überzeugung in die Richtigkeit der Maßnahme geschehen. Und das wird richtig hart!

Jetzt sind wir Mitläufer einer (eher zufälligen) Entwicklung, die wir nur sehr begrenzt beeinflussen können. Das Desaster-Szenario vermeidet, die Schuld für die absehbaren Unpässlichkeiten in den eigenen Reihen zu suchen. Diese Auseinandersetzungen bleiben uns erspart bzw. werden eventuell erst nachträglich geführt. Dann sind aber schon die Fakten geschaffen. Der verbleibende Spielraum ist dann äußerst gering.

Design als Strategie geht immer von einer geplanten (bewussten) Entwicklung aus. Das Desaster als „Schwarzer Schwan“ lebt von der Brüchigkeit der Situation und ermöglichst als Krise des Gesamtsystems Entwicklungssprünge, die kein „Designer“ zu planen wagt. Das Design ist Wunschdenken aus der Komfortecke heraus, das Desaster erfordert den Umgang mit der ‚Not – wendigkeit‘ im eigentlichen Sinne des Wortes. So gesehen sind „Desaster“ für eine bequeme Gesellschaft eine einmalige Chance, das Notwendige in Bewegung zu setzen.

Wenn immer wieder von der ‚Großen Transformation‘ gesprochen wird, glauben die wissenschaftlichen Berater dieses Vorhabens in der Lage zu sein, ein „Design“ i.w.S. zu praktizieren, also eine Veränderung der Gesellschaft herbeizuführen, die durch Erkenntnis, Einsicht, Vernunft und Teilhabe getragen wird. Ich würde dieses Ziel sofort unterschreiben, wenn ich bloß erkennen könnte, dass die von der Regierung eingeleiteten Schritte erkennbar zielführend wären. Wir verfügen über ein bestehendes weitgehend funktionsfähiges Gesellschaftssystem, das wir radikal verändern müssen, um längerfristig ausreichend interessante Überlebensaussichten zu erhalten. Dabei ist unsere Komfortzone in Gefahr. Es ist nicht absehbar, ob die schiere Änderung der Struktur ausreichen wird. Es ist zu erwarten, dass wir als Akteure in diesem Zusammenspiel unser Verhalten ändern müssen. Dabei ist nicht immer klar, ob das Verhalten der Struktur folgt oder umgekehrt.

Wenn man diesbezüglich der Systemtheorie, wie sie u.a. von Helmut Willke[1] vertreten wird, folgen will, so ist es notwendig, das bestehende System zu intervenieren. Die Systemtheorie ist der Auffassung, dass jedes komplexe System ein gewisses Maß an Selbststeuerung aufzuweisen hat, also kann der jeweilige Berater nicht steuernd, sondern nur intervenierend eingreifen.

Erfolgen dabei die Interventionen auf der Grundlage eines trivial-mechanistischem Verständnisses der Zusammenhänge, so laufen diese Interventionen i.d.R. ins Leere bzw. machen die Veränderungsaufgabe nur komplizierter. Deshalb stellt Willke eine gesonderte Interventionstheorie zusammen, die versucht, dem Grundsatz von Ashby gerecht zu werden: Only complexity can destroy complexity. Hier schließe ich, weil ich zu dieser Fragestellung noch ein paar Gedanken entwickeln und insbesondere auch Lösungshinweise suchen muss.


[1] Willke, Helmut;  Systemtheorie II: Interventionstheorie, Stuttgart 1994

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Vernetztes Denken

Hin und wieder gelingen Gespräche, die G. E. Lessings Ideal des „laut denken mit dem Freunde“ entsprechen. Es ging um vernetztes Denken und um die Frage, ob das heute nicht mehr denn je von Nöten sei. Mein „Freund“ wandte ein, die Kognitionswissenschaft hätte nachgewiesen, dass das menschliche Gehirn ein „vernetztes Denken“ nicht zulassen würde. Da ich auf seine Meinung gerne zurückgreife und er hinsichtlich Kognition als Psychologe wohl die größere Kenntnis besitzt als ich, habe ich mich zurückgehalten und wir haben unserem Gespräch eine andere Richtung gegeben. Aber das Argument saß und ich muss einen Weg suchen, der mich „aus der Ecke“ entlässt.

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Das Argument meines „Freundes“ bestätigt unsere allgemeine Haltung eines linearen Denkens, die wir schon seit einigen Jahrhunderten pflegen und die sich darin erschöpft, kleinteilig und präzise eine Ursache mit einer Wirkung zu verknüpfen. Wir kennen zwar Nebenwirkungen, meinen aber, sie seien bis zu einem gewissen Punkt irrelevant oder zumindest zu vernachlässigen. Dabei hat die Menschheit mit dieser Strategie eine erstaunliche Entwicklung genommen und hat sich dabei eine lange Reihe von schwer lösbaren Problemen geschaffen.

Die Frage ist nun, ist das lineare Denken Gewohnheit oder ist es die Folge einer (im Wesentlichen unveränderlichen) kognitiven Struktur. Dabei muss ich aufpassen: meine Kenntnisse über kognitive Fähigkeiten sind recht begrenzt und wo ich über Restkenntnisse verfüge, sind auch sie wieder knapp 50 Jahre alt.

Also zuerst zu Fredric Vester[1], der kluger Weise sein Buch unter das Thema: „Leitmotiv vernetztes Denken“ gestellt hat. Also behauptet Vester in keiner Weise, dass vernetztes Denken uns ‚angeboren‘ sei. Sein Argument ist die Erkenntnis, dass das lineare Denken (hier als Gegensatz des vernetzten Denkens) uns in Probleme führt oder geführt hat und dass diese Erkenntnis uns auffordern sollte, vernetzt zu denken. Und dann kommt das Merkwürdige: Er berichtet über zahllose Fälle, in denen vernetztes Denken zu neuen Einsichten oder zumindest anderen Problemperspektiven geführt haben. Da gibt es doch einen eklatanten Widerspruch. Überspitzt ausgedrückt: laut Theorie können und dürfen wir es nicht können, aber in der Praxis kümmert uns diese Aussage dann wenig. Das ist wie mit der Hummel: nach den Regeln der Physik kann sie gar nicht fliegen, da sie das nicht weiß, fliegt sie unbehelligt von Blume zu Blume.

Vielleicht handelt es sich auch um ein Missverständnis insoweit als unsere kognitiven Strukturen es uns nicht leicht machen, vernetzt zu denken, mit anderen Worten – wir können es grundsätzlich, aber es fällt uns schwer und wir sind die letzten Jahrhunderte den Weg des geringsten Widerstandes gegangen und haben uns bequem auf das lineare Denken begrenzt. Die Methode war in vielen Fällen und zu Beginn auch recht erfolgreich. Doch die Auswirkungen der vernachlässigten „Nebenwirkungen“ (Kollateralschäden) treffen uns jetzt mit voller Wucht.

In den 70iger Jahren gab es in der verhaltenswissenschaftlichen Wirtschaftslehre die Erkenntnis, dass der Mensch nur eine sehr beschränkte Informationsverarbeitungskapazität besitze. Wenn ich mich richtig erinnere, war das die Position von Herbert A. Simon[2] (und seinen Mitstreitern) aus den 1950iger Jahren. Diese Feststellung hatte eingeschlagen wie eine Bombe, weil damit die meisten schönen Modelle der Wirtschaftswissenschaften auf einen Schlag in Frage standen. Ich kann nicht ausschließen, dass hier Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften eingeflossen sind. Als Konsequenz ergäbe sich die Erkenntnis, dass wir aufgrund der Beschränkungen der Verarbeitungskapazität unsere täglichen Probleme bevorzugt linear zu lösen versuchen statt es in Form einer Vernetzung zu versuchen. Letztere führt uns dabei sehr schnell an unsere kognitiven Grenzen.

Meine Erinnerungen an diese Zusammenhänge sind bruchstückhaft. Die Beschränkung der Verarbeitungskapazität drückte sich dadurch aus, dass unsere kognitive Verarbeitungskapazität auf sieben(?) parallel auftretende „Chunks“ (vereinfacht: Sachverhalte) begrenzt schien. Treten mehr Sachverhalte auf, so war eine parallele individuelle Verarbeitung nahezu ausgeschlossen. Wem das zu abstrakt ist, den darf ich an die Diskussion über das ‚Multitasking‘ erinnern. Es gibt Menschen, die glauben besondere Fähigkeiten auf diesem Gebiet zu besitzen. Hinsichtlich der Zahl der Aufgaben ist dem Multitasking aufgrund der (max. sieben) „Chunks“ zumindest eine Obergrenze gesetzt.

Aber das Problem liegt häufig ganz anderswo: Mit jeder zusätzlichen Aufgabe (jedem zusätzlichen Chunk) sinkt die Effizienz und die Effektivität des Handelns pro Aufgabe, es sei denn, der Handelnde erhöht seine Schlagzahl beträchtlich über jene Schlagzahl, die noch eine Balance zwischen Stressdauer, Gesundheit und Wohlbefinden zulässt. Jede zusätzliche ‚Aufgabe‘ bindet überproportional viel Energie ohne letztlich die Produktivität und den Output zu erhöhen. Also insoweit erscheint die Aussage bedingt richtig, dass unser Gehirn nicht unbegrenzt parallel auftretende Informationen verarbeiten kann.

Ist das nun das Ende des vernetzten Denkens? Das würde ich klar verneinen. Vernetztes Denken ist keine Abart des Multitasking, das suggerieren würde, dass bei diesem Denken alle Aspekte parallel (zeitgleich) bedacht werden müssen. Das stimmt aber nicht. Vernetztes Denken ist durchaus auch sequenziell möglich, indem wir das Netz (der Problemzusammenhänge) oder das „System“ zu Beginn der Untersuchungen grob stricken und es dann entlang der bestehenden Verknüpfungen zu „dekomponieren“(zerlegen), um uns der Untersuchung der jeweiligen Teilnetze (Subsysteme) nacheinander zu widmen.

Aus den Detailuntersuchungen der fokalen Systeme sind Rückkopplungen auf das gesamte Netz als auch auf die anderen Teilnetze (Subsysteme) zu erwarten. Sie können jederzeit in die Grobstruktur verändernd aufgenommen werden und lösen entlang der Dekompositionslinien innerhalb der benachbarten Subsysteme ihrerseits Änderungsprozesse aus. Das Nacheinander löst einen Iterationsprozess aus, der mit jeder Iteration die Chance hat, besser zu werden.

Zweifelsohne haben wir einen kognitiven Engpassfaktor. Aber wir sind in der Lage, ihn intelligent zu nutzen, um aus der Beschränkung der parallelen Verarbeitung eine erfolgreiche sequentielle Verarbeitung zu entwickeln. Und das wäre wohl auch das Ziel von Vesters Leitmotiv gewesen.

Das menschliche Gehirn ist also strukturell grundsätzlich in der Lage (ggfs. mit kleinen Einschränkungen) vernetzt zu denken. Trotzdem fällt es uns offensichtbar schwer, die Idee von einem vernetzten Denken (im Alltag) umzusetzen.

Ursache und Wirkung

Auf der Suche nach Gründen führt Vester u.a. an, dass das lineare Denken (als Gegenteil eines vernetzten Denkens) durch unsere Jahrhunderte alte Denktradition mit der Konzentration auf Ursache und Wirkung zurückzuführen sei. Man hat dabei versucht, eine Wirkung als Folge einer Ursache darzustellen. Um diesem Ideal Folge leisten zu können, muss man der beobachteten Realität Zwang antun. Es gibt in der Realität nur wenige Dinge, die so trivial gebaut sind, dass die mit einem einfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhang beschreibbar wären. Also muss man vieles weglassen. Aber man lässt nichts weg (das wäre ja das Eingeständnis der Vereinfachung des Problems), sondern man ‚abstrahiert‘ – hebt die Diskussion auf eine neue Ebene und kann dann (scheinbar) ganz gut damit leben. Mit der Abstraktion wird nicht nur der Zusammenhang von Ursache und Wirkung i.d.R. einfacher gestaltet, die Problemstellung verliert dabei i.a.R. erheblich an Komplexität und damit auch an Konfliktpotenzial.

Wenn dann das lineare Denken in der Abstraktion auch noch als praktisch umsetzbar eingeschätzt wird, hat der lineare Denkansatz das Ringen um eine Lösung gewonnen.

In meinen letzten Beiträgen habe ich diesem linearen Denken erhebliche ‚Nebenwirkungen‘ (wir kennen diesen Begriff aus der Medizin) zugerechnet, die dann je nach Bedeutung der Nebenwirkungen in den Prozessen im Zeitverlauf zu Bergen von Kollateralschäden auflaufen. Diese virulenten Schäden sind jetzt nicht mehr nur ‚Nebenwirkungen‘. Sie fordern uns heraus, sie als eigenständige Problemstellungen anzuerkennen. Mit anderen Worten: Die Abstraktion von der Realität frisst ihre Kinder. Was wir vorher wegdefinieren konnten, um die Sache (und die Ursache-Wirkung) einfacher, weniger komplex und weniger konfliktträchtig zu arrangieren, holt uns jetzt ein. Diese Erkenntnis tut natürlich weh, weil das ‚einfache Weiterso‘ in simpler Linearität konsequenter Weise sein Ende finden muss.

Funktion vs. Ursache u. Wirkung

Der analytische Ansatz, der sich über Ursache – Wirkung – Zusammenhänge bestimmt, arbeitet sich vom Detail in kleinen Schritten zu größeren Zusammenhängen. Die Gefahr, dass der größere Zusammenhang vor lauter Details verloren geht, darf nicht unterschätzt werden. Der Systemansatz geht von einer zu definierenden funktionalen Ganzheit aus und identifiziert seine Teile über die Verknüpfungen zum Ganzen. Es gibt nach dieser Vorgehensweise kein System ohne Funktion. Ein System ohne Funktion wäre gewissermaßen ein leeres System und in diesem Sinne überflüssig.

Nehmen wir unsere Wirtschaft und unterstellen, dass wir es dabei mit einem System zu tun haben. Nach den oben angeführten Gedanken stellt sich als erstes die Frage, welche Funktion hat dieses System? Durch die Brille der Gesellschaftswissenschaften gesehen, würde man diese Frage am ehesten mit dem relativ weiten Begriff einer ‚Versorgung‘ beantworten. Wenn man mit dieser vorläufigen Feststellung auf die Wirtschaft und ihre realen Zusammenhänge schaut, wird man feststellen, dass die Aussage nur sehr eingeschränkt stimmt.

Wechseln wir unsere Brille zu der eines Ökonomen, und fragen nach der Funktion des ökonomischen Systems, so wird man feststellen, dass man diese Frage dort besser nicht stellt. Sie wird auch nicht gerne ehrlich beantwortet. Die Ökonomie lebt diesbezüglich in einen Zwiespalt: Angesprochen auf ihre Funktion wird sie sich auf die Seite der „Versorgung“ schlagen, aber die Funktion des kapitalistischen Wirtschaftssystems besteht nachweislich nicht in der „Versorgung“, sondern in der Mehrung des eingesetzten Kapitals, was einen wesentlichen Unterschied ausmacht. Wenn trotzdem so etwas wie Versorgung stattfindet, dann ist das im Prinzip eine der vieldiskutierten systemischen ‚Nebenwirkungen‘, die es braucht, damit das Kapital überhaupt vermehrt werden kann.

Die Frage nach der Funktion eines Systems ist der gegenwärtigen Ökonomie eher lästig. Mit dieser Frage wird indirekt die Frage nach dem Sinn oder Zweck gestellt. Bei der Frage nach einer Zielvorstellung kann man sich leicht selbst betrügen. Wenn aber eine Funktion als für das System konstituierend betrachtet werden muss, sollte man nicht phantasieren, sondern muss hinreichend konkret werden, um die systemtheoretische Methode mit Aussicht auf Erfolg anwenden zu können. Wenn man sich schon bei der Bestimmung der Funktion in die Tasche lügt, drohen die weiteren Schlussfolgerungen irreal zu werden.

Wenn wir also konsequent unsere Strukturen und Aktivitäten als eine Folge von Systemhierarchien (System – Subsystem) betrachten würden, müssten wir uns jeweils darüber klar werden, welche Funktion das jeweilige in Betracht gezogene (das fokale) System innehat. Mogeln (A sagen, aber B meinen) geht nicht, weil die Funktionen ja ineinandergreifen. Nach wenigen weiteren Funktionszusammenhängen würde klar werden, dass sich ein ‚Fake‘ eingeschlichen hat. Diese funktionsbezogene Vorgehensweise würde große Teile unserer herrschenden linearen Perspektive sprengen, aufweichen oder lösen und könnte damit Platz für die notwendigen neuen Perspektiven schaffen.

Vernetztes Denken

Bis hierher wurde zwar von vernetztem Denken gesprochen, es gibt auch zahllose Beispiele für ein hinreichend vernetztes Denken. Aber es gibt keine so rechte Anleitung, wie diese Idee umgesetzt werden könnte. Wir wissen offensichtlich genauer, was vernetztes Denken nicht ist als dass wir vernetztes Denken erfolgreich beschreiben können. Also versuchen wir es!

Vester versucht Prinzipien herauszuschälen, wie unsere Umwelt (hier die Natur i.w.S.) mit den materiellen Dingen umgeht, die sie hervorbringt, entfaltet und auch wieder resorbiert. Diese Strategien sind sehr alt, bewährt und nachweislich erfolgreich. Ohne das Vester dies ausspricht, könnte man davon ausgehen, dass diese acht Strategien seinen Begriff von „vernetzt“ umschreiben.

In einer Welt, die ihr Selbstverständnis aus dem Gedanken des „immer höher, immer weiter, immer schneller“ bezieht, ist schon die erste Aussage schwierig umzusetzen: „… ein permanentes Wachstum ist für alle Systeme eine Illusion[3].“ Heute wird die Aussage nicht mehr in Frage gestellt, aber 1988 war das eine ketzerische Aussage. Trotz besseren Wissens verstoßen wir aber auch heute im täglichen Handeln unablässig dagegen. Das ‚richtige‘ Denken auf Basis von Erkenntnis wäre wichtig – das Denken, so hoffen wir, geht dem Handeln voraus. Wachstum ist bestenfalls als eine temporäre Nebenbedingung zu akzeptieren (1).

Das Ursache-Wirkung-Denken führt zu einem produktbezogenem Handeln. Dieser Ansatz lenkt davon ab, ob ein Produkt in einem größeren Rahmen auch einer systemischen Funktion gerecht werden sollte. Wir reden zwar viel vom Nutzen, aber wir geben dem Nutzen nur eine einseitig individuelle Richtung. Erst die systemische Funktionserfüllung würde dem Produkt einem übergeordneten Ziel zuordnen. Das Funktionsdenken ist gegenüber dem Produktdenken zu stärken (2). Im herkömmlichen Verständnis ist ein Produkt nur ein Mittel, um individuell Umsatz zu generieren. Und das ist viel zu einseitig.

Die von uns erstellten Güter stehen i.d.R. im individuellen Eigentum. Bohrmaschine, Werkbank, Pkw und zahllose andere Güter des täglichen Lebens erfüllen im nichtgewerblichen Bereich nur eine Vorratsfunktion. Ihre Nutzungscharakteristik ist bestenfalls durch 95%ige Nutzlosigkeit geprägt, weil zwischen den Zeiten der Nutzung gewaltige Ruhezeiten liegen, die die Effektivität und Nutzungseffizienz dieser Güter gegen Null laufen lassen. Einer Mehrfachnutzung durch Leihe oder Miete steht unsere überzogene Eigentumsideologie im Wege (3).

Das Recht einer positiven Rückkopplung (als das Recht zur Akzeleration u. Wachstum) nehmen wir als Ausdruck unseres Freiheitsrechts unbedenklich in Anspruch und vergessen, dass in einem nahezu geschlossenen System dieser egoistische Freiheitsanspruch nur auf dem Rücken unserer aller Lebensgrundlagen wahrgenommen werden kann. Das ‚Maß und Mitte‘ der alten Griechen oder der ‚Mittlere Weg‘ der buddhistischen und taoistischen Philosophen vor 2500 Jahren, drückt sich in der negativen Rückkopplung aus. Die überwiegend negative Rückkopplung ist erst der systemische Garant einer lebenswerten Zukunft (4).

„Hier geht es um die (bewusste) Nutzung vorhandener, auch störender Kräfte…(5)“[4] Widerstände meinen wir oft nur durch brachiale Gewalt mit Hilfe von Technologie überwinden zu können ohne sich die Mühe zu machen, nach einer intelligenteren systemischen (d.h. funktionalen) Lösung Ausschau zu halten. Statt zu einem zweifelhaften (am Ende meist tödlichen) Chemieeinsatz zu greifen,  könnte man sich fragen, ob es nicht natürlichere Regulationsmechanismen gibt, die Erfolg versprechen. Durch die Einflussnahme auf die Regelung des Zusammenspiels der vorhandenen Kräfte kann oftmals ein hinreichend guter Erfolg erzielt werden. Diese Form des Eingriffs ist weder tödlich, noch bringt er mit Gewalt Ingredienzien in Umlauf, deren Verträglichkeit keinen systemisch-biologischen Ansprüchen genügt.

Wir müssen lernen, symbiotisch zu handeln. Niemand lebt für sich allein, wir brauchen unsere Nachbarn und wir brauchen auch die Teile der biologischen Sphäre, die wir nicht jeden Tag sehen. Symbiose (6) heißt „die gegenseitige Nutzung von Verschiedenartigkeit durch Kopplung und Austausch.[5]“ Dieses Prinzip ist eine Absage an die Globalisierung, weil Symbiose nur kleinräumig funktioniert. „Monostrukturen können ebenfalls von den Vorteilen der Symbiose nicht profitieren“, weil der (systemische) Vorteil der (komplexen) Verschiedenartigkeit fehlt.

Wir verstehen uns vielfach als die Krone der Schöpfung und glauben deshalb, wir könnten über die natürliche Umwelt so herrschen, wie wir es mit der von uns entwickelten Technologie halten. Wir dürfen nur nicht vergessen, dass wir Teil der planetarischen Biologie sind und hier nicht die Voraussetzungen mitbringen, um herrschen zu können. Unser Handeln muss in eine Feedbackplanung mit der Umwelt durch ein biologisches Design (7) eingebunden sein, „um Vereinbarkeit und Resonanz mit biologischen Strukturen, insbesondere mit derjenigen des Menschen“[6] sicherzustellen.  

Das Prinzip des Recyclings (8) verstehen wir oft als den letzten Schritt in dem Lebenslauf eines Produktes. Das Denken der meisten Produzenten endet beim Verkauf des Produkts. Was dann damit passiert, liegt regelmäßig nicht mehr in der Verantwortlichkeit des Produzenten. Es muss umgekehrt sein: Mit Schaffung eines Produktes muss das Ende mitgedacht werden, um eine aussichtsreiche Resorption (Stichwort: Kreislaufwirtschaft) umsetzen zu können. Diese Verantwortlichkeit muss die Gesellschaft aber sicherstellen.  

Damit wird hoffentlich klar, was Vester unter vernetztem Denken versteht. Es sind „nur“ acht Prinzipien. Deren Durchsetzung wird unseren Generationen aber noch viel Schweiß bei der Umsetzung und Konkretisierung kosten.


[1] Vester, Frederic, Leitmotiv vernetztes Denken, 1988.

[2] March, James G., Simon, Herbert A., Organizations, 1958, pp. 136

[3] Vester, Frederic, Leitmotiv vernetztes Denken, 1988, S. 20

[4]  Vester, Frederic, Leitmotiv vernetztes Denken, 1988, S. 20

[5] Ebda., S. 21

[6]  ebda. , S. 21

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Neuland des Denkens – wo liegt dieses Land?

Der Titel des Hauptwerkes von Frederic Vester aus dem Jahr 1984 war mir Anlass, zu fragen, was aus den Ideen rund um die Systemtheorie geworden ist. Vester hat damals zahllose Sachbücher zu diesem Thema geschrieben und viele Herausforderungen schon vor Jahrzehnten auf der Grundlage der Systemtheorie zur Diskussion gestellt, denen wir uns heute mehr denn je konfrontiert sehen.

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Aber im Zusammenhang mit der Klimakrise habe ich nicht den Eindruck, dass diese m.E. interessanten Überlegungen heute eine Rolle spielen. Ich habe keinen namhaften Wissenschaftler der gegenwärtigen Generation gefunden, dessen Argumentation dieses Paradigma der Systemtheorie im Blick hätte. Helmut Willke[1] (Jg. 1945) erlaube ich mir meiner Generation zuzurechnen.


Niklas Luhmann war m.E. der letzte mir bekannte Vertreter einer soziologisch geprägten Systemtheorie in Deutschland. Er verstarb Ende 1998. Mein persönlicher Kontakt zur Systemtheorie entstand gegen Ende meiner Studien- und Postgraduiertenzeit (1970 – 1975) unterstützt durch Prof. Dr. Lindemann an der Universität Mannheim. Der Lehrstuhl Prof. Dr. Werner Kirsch, dem Prof. Lindemann angegliedert war, war wohl zu dieser Zeit führend in der Anwendung der Systemtheorie in der sozialwissenschaftlichen Wirtschafts- und Organisationslehre. Was war bzw. ist aus meiner heutigen Sicht unverändert das Besondere an der Systemtheorie? Ich will versuchen holzschnittartig ein paar Hinweise zu geben: Ein System ist eine Menge von Elementen, die durch „Relationen“ (Verbindungen) mit einander verknüpft sind. Luhmann nennt die Verknüpfung später Kommunikation. Entscheidend für das System ist nicht die Art der Elemente, (deren Substanz, deren Beschaffenheit oder Zustand,) sondern die Art, wie diese Elemente miteinander kommunizieren (verknüpft sind). Ein System grenzt sich i.d.R. durch die besondere Form bzw. die erhöhte Zahl seiner internen Verknüpfung ab. Ein System zeigt also deutlich mehr interne Verknüpfungen als das (offene) System Verknüpfungen zur Umwelt aufweist. Der Ansatz ist hochgradig verknüpfungs- bzw. prozessorientiert.

Da weder die Elemente noch die Verknüpfungen inhaltlich vorfixiert sind, kann man von einer Metatheorie sprechen, die insbesondere dann zum Einsatz kommt, wenn interdisziplinär zusammen gearbeitet werden soll. Wenn die Systemtheorie allen Beteiligten hinreichend vertraut ist, lassen sich schnell und relativ einfach Problemstellungen beschreiben und ggfs. auch diskutieren ohne gleich in fachlichen Details zu versinken. Eine Metatheorie enthebt die Beteiligten keinesfalls von der Arbeit im „Fachspezifischen“, bietet aber die Möglichkeit, unabhängig von den Details, die eigentlichen, oft interdisziplinären Zusammenhänge und Perspektiven zu beschreiben und damit die überlappenden Verbindungen zwischen den beteiligten Fachbereichen aufzuzeigen.

Systeme unterliegen einem Prinzip der Hierarchie. In erster Linie differenziert die Systemtheorie zwischen System und Umwelt (=Nicht-System). Dabei gibt es Subsysteme, geschlossene Systeme, offene Systeme, dynamische, stabile und instabile Systeme. Sogenannte ‚lebende‘ Systeme sind i.d.R. offene, dynamische Systeme. Ein stabiles und/oder dynamisches System liegt insbesondere dann vor, wenn es in der Lage ist, durch verschiedene regulative Maßnahmen sein Überleben für einen längeren Zeitraum sicher zu stellen.

Insbesondere Teile der regulativen Maßnahmen stammen aus Ideen von Norbert Wiener. Der Ansatz hat unter der Bezeichnung ‚Kybernetik‘ Eingang in die Wissenschaft gefunden. Dabei ergab sich die Möglichkeit, Systemstrukturen kybernetisch abzubilden, die eine hohe Systemkomplexität erfassen in der Lage sind. Ross Ashby[1] hat dabei den Satz geprägt: „Only complexity can destroy complexity.“ Konkret ist damit gemeint, dass man komplexe Zusammenhänge nur durch entsprechend komplex gebaute Methoden erfassen und beurteilen kann. Dabei ist Komplexität nicht zu verwechseln mit Kompliziertheit: Komplexität beschreibt die Eigenschaft eines Gefüges, ein ‚System‘ von Prozessen, während Kompliziertheit sich i.d.R. auf das jeweilige Systemelement bezieht.

Auf der anderen Seite schafft die Kybernetik die Voraussetzungen, Systeme unter bestimmten Bedingungen und komplexer Anwendung der negativen Rückkopplung als selbststeuernd (autopoietisch) zu gestalten. Diese Möglichkeit eröffnet neue Zugänge zu Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen in den Systemen.

Hier möchte ich mit der Darstellung der Systemtheorie auch schon wieder enden[2]. Weitere Ausführungen benötigen viel Raum und würden den hier gegebenen Rahmen sprengen.

In unserer üblichen Sichtweise bringen leistungsfähige Objekte meist ‚Produkte‘ hervor. Das ‚Produkt‘ eines Systems wird durch seine jeweilige Funktion definiert. Als Beispiel diene das Verkehrssystem, das die Funktion hat, Möglichkeiten bereitzustellen, Personen und Sachen von A nach B zu schaffen. Das Produkt ‚Automobil‘ ist (systemisch gesehen) eine mögliche funktionelle Antwort, Mobilität bereitzustellen. Gelingt es nicht oder nicht mehr, diese Funktion zu erfüllen, wäre das Produkt „dysfunktional‘ und es gäbe gute Gründe, darüber nachzudenken, wie das Produkt verändert oder (symbiotisch) ergänzt werden müsste (z.B. durch ÖPNV, Car-Sharing, Taxi, Fahrrad, Fußgänger), um die Funktionalität zu erhalten oder wieder sinnvoll herzustellen. In letzter Konsequenz kann ein Produkt als dauerhaft dysfunktional erkannt werden und verliert dadurch seine Attraktivität und Sinnhaftigkeit. Ökonomisch gesehen fällt es dann aus dem Markt.

Die Systemtheorie wurde von Niklas Luhmann als eine Gesellschaftstheorie verstanden. Wenn es vordem Gesellschaftstheorien gegeben hat, bauten sie meist auf einer Vorstellung des Menschen, einer Gruppe (z.B. Elite) oder dem Staat auf. Gesellschaft war dabei das Produkt der involvierten Individuen. Es wird aber schwierig, auf dieser Grundlage vom jeweils menschlichen Verhalten zu abstrahieren und sich einer gesellschaftlichen Organisationstruktur ‚sui generis‘ zu nähern. Die Erwartung scheint die Systemtheorie erfüllen zu können, ohne den konkreten Menschen aus dem Auge zu verlieren. Die Systemtheorie behauptet, dass es Regeln, Heuristiken und Steuerungsimpulse gibt, die sicherstellen können, dass Systeme überlebensfähig bleiben. Diese Regeln gelten ohne primären Rückgriff auf menschliche Verhaltensweisen, sondern lassen sich als systemische Prozess- und Organisationsgrundsätze ableiten und realisieren.

Viele unserer Erkenntnisse über jüngste Fehlentwicklungen stammen m.E. aus der Systemtheorie, die sich in den 1940iger Jahren aus der Biologie entwickelt hat. Wenn wir die mangelnde Artenvielfalt beklagen, die uns mit neuen, nie gekannten Problemen überzieht, so ist der Begriff der Diversität (Vielfalt) eines Systems gefragt. Je größer die Diversität eines Systems ist oder erhalten werden kann, desto größer ist die Überlebenswahrscheinlichkeit des Systems. Wenn das Überleben eines Systems auf Grund künstlich reduzierter Diversität in Frage steht, greifen wir üblicherweise linear mit drastischen Mitteln ein, indem wir uns nicht die systemischen Überlebensgrundsätze zu Nutze machen, sondern indem der Mensch glaubt, durch massiv aggressive Eingriffe erfolgreich sein zu können. Wir erkennen nicht, dass das Vorgehen systemisch unsinnig ist, weil das Vorgehen hochgradig dysfunktional auf die Verknüpfungen des Systems wirkt. Ähnlich wie in der Medizin, in der oftmals die Zahl der Nebenwirkungen mit der Zahl der Medikamente wächst, die man dann wieder mit neuen Medikamenten „bekämpft“, statt sich zu fragen, ob das Problem nicht einfach eine notwendige Folge einer dysfunktionalen Erstmedikation ist. Massentierhaltung ist ein weiteres Beispiel. Die Diversität eines Tierbestandes wird auf eine Monostruktur, überzüchtete Leistungserwartungen und zusätzlich durch den dichten Besatz reduziert. Die damit einher gehende Anfälligkeit der Tiere wird durch Medikamente bzw. Chemie unterdrückt. Am Ende führt eine hohe Verfügbarkeit von minderwertigem Fleisch beim Landwirt zu einem oft verheerenden Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Vester hat mit Bezug auf J. De Rosnay[3] tabellarisch zwei Ansätze zur Erfassung der Wirklichkeit gegenübergestellt, um die jeweiligen Vor- und Nachteile deutlicher werden zu lassen: es wird dabei der klassische analytische Ansatz mit dem systemischen Ansatz verglichen[4].

  • Der klassische Ansatz konzentriert sich auf einzelne Elemente des Systems (auf die Objekte) und isoliert diese, während der Systemansatz sich auf die Wechselwirkungen (Verknüpfungen) zwischen den Elementen konzentriert (prozessorientiert) und die Verbindung beurteilt.
  • Der Art der Wechselwirkung des analytischen Ansatz stehen alternativ die Ergebnisse der Wechselwirkung im Fokus. Die Analyse ist detailgenau. Das System stützt sich auf die Wahrnehmung des funktionalen Ganzen.
  • Der Systemansatz kann Gruppen von Variablen gleichzeitig verändern, die Analyse beschränkt sich immer nur auf die Veränderung einer Variablen.
  • Die Analyse unterstellt implizit die ‚Ewigkeit‘ und die jederzeitige Reversibilität (unbegrenzte Wiederholbarkeit) und kennt keine Entwicklung. Der Systemansatz geht prinzipiell von zeitlicher Begrenzung und von Irreversibilität aus, weil hier auch eine Form der Weiterentwicklung (Evolution) mitgedacht wird. (klassische Formulierung: Alles fließt!)
  • In der Analyse erfolgt die Bewertung der Tatsachen durch experimentellen Beweis, während die Systemtheorie ihre Tatsachen durch Vergleich der Funktion des Modells mit der Realität bestimmt.
  • Die Analytik formt detaillierte und genaue Modelle, die jedoch kaum in Handlungen umsetzbar sind. Der Systemansatz bietet Modelle, die nicht stichhaltig genug sind, um als Wissensbasis zu dienen, sie sind jedoch als heuristische Grundlage für Entscheidungen hilfreich und brauchbar.
  • Der analytische Ansatz zeigt nützliche Ergebnisse, solange es sich um lineare bzw. schwache Wechselwirkungen handelt, während der alternative Ansatz m.E. besonders nützlich ist, wenn es sich um nichtlineare und umfangreiche heftige Wechselwirkungen handelt.
  • Insbesondere dieser Punkt ist von großer Bedeutung, weil er die Möglichkeit eröffnet, über die jeweilig üblichen Fachgrenzen hinaus interdisziplinär zusammenzuarbeiten.

Diesen Gegensatz in der Vorgehensweise kann man auch anhand eines Netzwerkes demonstrieren. In einem Netzwerk gibt es ‚Knoten‘ (z.B. Bestände, Substanzen, Objekte) und ‚Kanten‘ (das sind die Verbindungen oder Prozesse, die für die Veränderung der Bestände sorgen). Herkömmlich befassen wir uns primär mit den Knoten und analysieren ihre Zusammensetzung oft detailliert. Die Verbindungen werden dabei meist nicht hinterfragt. Verbindungen schaffen schlicht nur die Bestandsveränderungen.

 Die Systemtheorie (und nicht nur sie) konzentriert sich auf die Verbindungen (Prozesse) und analysiert sie detailliert und die Bestände sind dann einfach daraus resultierende Zwischenstadien ohne besondere Bedeutung. Man kann sich leicht vorstellen, dass die daraus gezogenen Erkenntnisse keine neue Wahrheit darstellen, aber der Vorgehensweise eine völlig neue Perspektive vermittelt. Wie wir weiter unten darstellen, geht die Perspektive u.U. soweit, dass sie sich wirtschaftlich von der angeblichen unverzichtbaren Wachstumsideologie befreit. Und neue Perspektiven braucht das Land! Und die benötigen wir im Rahmen der „Transformation“ dringend, weil uns die Zeit davon läuft.

Kommen wir zurück zur sogenannten Klimakrise, die dadurch verstärkt wurde, dass unser Denken durch den Neoliberalismus und seine Ideologie viel zu eindimensional und strikt linear ausgerichtet war und unverändert ist, obwohl seit den 1950iger Jahren beginnend mit Ludwig von Bertalanffy systemtheoretische Ansätze diskutiert werden. Wir müssen im Grunde die Bedürfnisse des Systems, das wir als ‚Natur‘ bezeichnen und das letztlich unsere absolute Lebensgrundlage darstellt, besser verstehen und es unterlassen, die Welt übergriffig linear nach unseren einseitig egoistischen Wünschen zu formen. Dazu hat Vester[5] schon 1988 acht Prinzipien der Natur zusammengetragen, von denen er im Rahmen der Systemtheorie erwartet, dass diese Prinzipien ein „Überleben von natürlichen Systemen“ sicherstellen können:

  • Das Prinzip der negativen Rückkopplung. – Negative Rückkopplung muss über positive Rückkopplung (= Akzeleration) dominieren.
  • Das Prinzip der Unabhängigkeit vom Wachstum – Ein permanentes Wachstum ist für alle Systeme eine Illusion.
  • Das Prinzip der Unabhängigkeit vom Produkt – Überlebensfähige Systeme müssen funktions- und nicht produktbezogen arbeiten.
  • Das Prinzip der Umwandlung aggressiver Kräfte zum eigenen Nutzen – offensive Kraftanwendung wird durch flexible ausweichende Reaktionen für die eigenen Zwecke genutzt. (Vester nennt es auch Jujutsu-Prinzip.)
  • Das Prinzip der Mehrfachnutzung – Es führt durch Verbundlösungen zu Multistabilität und bedeutet  eine Absage an Hundertprozentlösungen (die es wahrscheinlich in praxi gar nicht gibt).
  • Das Prinzip des Recycling – Nutzung von Kreislaufprozessen. Es vermeidet sowohl Knappheit als auch Überschüsse.
  • Das Prinzip der Symbiose – gegenseitige Nutzung von Verschiedenartigkeit durch Kopplung und Austausch. Das verlangt kleinräumigen Verbund und widerspricht dem Globalisierungsgedankens. Monostrukturen können nicht von den Vorteilen der Symbiose profitieren.
  • Das Prinzip des biologischen Designs – Es bedeutet Feedbackplanung mit der Umwelt, Vereinbarkeit und Resonanz mit biologischen Strukturen, insbesondere auch mit denjenigen des Menschen.

Es bleibt für mich die Frage, warum dieser systemtheoretische Ansatz nicht auf breiter Basis weiterverfolgt wurde? Meine Erklärung hierfür ist sehr subjektiv: Als die relativ komplexe Systemtheorie breitere Bevölkerungskreise beschäftigte, wurde parallel eine weit schlichtere, auf einfachste Zusammenhänge reduzierte Wirtschaftsideologie forciert, die dazu einen mächtigen Kontrapunkt setzte. Systemtheorie ist Gesellschaftstheorie und ganzheitlich orientiert und der Neoliberalismus ist durch die Lande gezogen und hat verkünden lassen, es gäbe keine Gesellschaft, es gäbe nur egoistische Individuen (vgl. Äußerungen dieser Art von Margret Thatcher und Ronald Reagan). Und mit Systemtheorie ist auch keine Aussicht verbunden, reich werden. Die neue Ideologie des Neoliberalismus hat Reichtum zumindest in Aussicht gestellt (trickle-down) und hat ihn für eine kleine Elite letztlich auch möglich gemacht. Die Mehrheit hat davon nur wenig gesehen.

Nach einer Generation realisiertem Neoliberalismus haben die wirtschaftlichen Maßnahmen dieser Ideologie ein solches Ausmaß an Kollateralschäden verursacht, dass wir seit wenigen Jahren offiziell von einer Klimakrise sprechen müssen. Wir suchen dringend nach Lösungsansätzen und was ich bisher dazu gefunden habe, ist von einem methodischen Standpunkt aus gesehen, nichts anderes, als „die bestehenden Ansätze nochmals zu quirlen“. Der Fehler liegt m.E. in der Erwartung, dass die Handlungsgrundsätze, die uns das Problem eingebrockt haben, auch die Lösungen bereitstellen könnten. Das widerspricht der menschlichen Erfahrung.

Dieses Urteil ist hart, aber ich suche seit Monaten Ansatzpunkte für einen sogenannten „unbefangenen Blick (a fresh look)“ auf die Situation, der so gestrickt ist, dass wir aus den alten eingefahrenen Denkgewohnheiten herausfinden können, um einen Durchbruch (wenigstens) erahnen zu können. Das will mir nicht gelingen! Deshalb habe ich mich der jugendlichen Euphorie meiner postgraduierten Zeit entsonnen und habe mich gefragt, haben wir damals alle gemeinsam ein Hirngespinst verfolgt? Oder wäre es nicht an der Zeit, diese zumindest interessante Perspektive der Systemtheorie in unserer Zeit des Umbruchs wieder bewusst aufzugreifen?

Frederic Vester hatte über unzählige konkrete Ansätze referiert. Luhmann hatte die Systemtheorie für die Soziologie aufgegriffen und fortentwickelt. Ob dabei alles im Nachhinein so zutreffend war, ist heute nicht mehr wichtig. Dann kam dieser verhängnisvolle Neoliberalismus mit seiner unrealistischen Wachstumsmetapher, der viele immer noch nachrennen wie dem Rattenfänger von Hameln. Wenn sie aufwachen, muss etwas Neues an die Stelle treten können – etwas, was Zukunft hat. Wissenschaft folgt nur zum Teil der Vernunft, sie braucht die Leidenschaft ihrer Vertreter, neue Wege zu wagen. Dabei ist die Systemtheorie im Stillen wohl schon über siebzig Jahre alt geworden und vielleicht wäre es an der Zeit, dieses Systemdenken mehr in den Vordergrund unseres Denkens und Handelns zu rücken.

Nachtrag: Ich lag etwas falsch mit meiner Einschätzung, wo denn das neue Land des Denkens gefunden werden kann. Offensichtlich wurde in den 90iger Jahren die Systemtheorie mit Unterstützung der IT stark und erfolgreich mathematisiert und gleichzeitig haben sich die Sozialwissenschaften daraus zurückgezogen. Die Problemstellung der Systemtheorie hat über die Kybernetik schwerpunktartig in das Fach Mathematik und Statistik gewechselt und ist damit dem „Breitensport“ verlorengegangen, weil diese Mathematik in ihrem Anspruch die vier Grundrechenarten deutlich übersteigt. Viele der jüngsten Pandemiesimulationen lassen sich auf die Anwendung systemtheoretischer Grundlagen zurückführen. Leider sind dadurch die ehemalige Popularität der Systemtheorie und die damit verbundene „Philosophie“ verloren gegangen. Wenn ich die Zusammenhänge richtig einschätzen kann, so nutzen wir die Vorteile dieser Wissenszweiges, werden aber immer größere „Übersetzungsprobleme“ haben, wenn es darum geht, die Ergebnisse dem Publikum nachvollziehbar zu vermitteln. Was die dahinterstehende „Philosophie“ angeht, wäre es von Vorteil, wenn die Soziologe, die Wirtschaftswissenschaften, und die politischen Wissenschaften damit befassen könnten, gemeinsam dem mathematischen Gerüst und den Inhalten ein Narrativ zu vermitteln, das dann besonders nutzt, wenn wir uns mit den Problemen einer „Großen Transformation“ und ihrer Umsetzung befassen müssen.


[1] Willke, Helmut, Systemtheorie I – III, 7.Aufl., 2005

[2] Ross W. Ashby, An introduction to cybernetics, London, 1964

[3] Weiterführende Literatur findet sich bei Frederic Vester, Neuland des Denkens, (1984, dtv 10220) in seinen zahlreichen Fußnoten. Anspruchsvoller ist Niklas Luhmann, Soziale Systeme (2012, 18. Auflage). Karl W. Deutsch, Politische Kybernetik – Modelle und Perspektiven, (1973).

[4] J. De Rosnay, Das Makroskop, 1977 (vgl. F. Vester, Neuland des Denkens, Fußnote 23)

[5] Vgl. F. Vester, Neuland des Denkens (1984), S. 43 (hier nur wenige Aspekte)

[6] Vgl. Vester, Frederic: Leitmotiv vernetztes Denken, 1988, S. 20f.

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Zur Finanzierung der „Großen Transformation“

Eins muss uns klar sein: Die angestrebte Transformation wird uns Geld kosten. Die Frage lautet: Wo sind hier finanzielle Spielräume jenseits kleinkarierter Haushaltsumschichtungen. Welche realistischen Alternativen bestehen und wie sind die Rahmenbedingungen, die man verstehen muss, um hier ein hinreichend begründetes Urteil abgeben zu können?

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Der jährliche Haushalt wird durch das Steueraufkommen gedeckt. Hier werden wir keine Beträge finden, die in ihrer Größenordnung in etwa den Bedarf der Sondermaßnahme ‚Transformation‘ zu decken in der Lage wären. Die Struktur des Haushalts ist auf das jährliche ‚Routinegeschäft‘ abgestellt. Das damit verwendete Steueraufkommen ist „business as usual“. Die angestrebte Transformation ist aber kein ‚business as usual‘. Die Transformation hat eher den Charakter einer großen Investition in die Zukunft der kommenden Generationen.

Wir sind es gewohnt, zu erwarten, dass für solche gravierenden Maßnahmen der Staat sich verschuldet. Dabei hat die Verschuldung aber Grenzen, unabhängig von der sogenannten „Schwarzen Null“-Regelung. Solange der Staat Schulden macht, die eindeutig zu Investitionen führen, ist „Schulden machen“ eine zulässige Strategie. Die wenigsten Institutionen können ernsthaft investieren ohne in einem ersten Schritt Schulden zu machen. Die Alternative nach der ‚alten‘, aber vernünftigen Devise, ‚spare in der Zeit, dann hast du in der Not‘ ist für öffentliche Haushalte m.E. nicht zulässig und auch unüblich.

Andererseits hat der Staat darauf zu achten, dass die Infrastrukturinvestitionen als Aktiva des Staates und die damit verbundenen Schulden sich im Wesentlichen ausgleichen. Das ist bzw. war bei Investitionen in der Regel der Fall. Aber die Erwartung, dass im Rahmen der Transformation nur Investitionen zu tätigen sind, erscheint recht trügerisch. Also könnte sich da ein Problem aufbauen, weil Gelder aufgenommen werden müssen, denen keine Infrastrukturinvestitionen gegenüberstehen. Das sind die Restriktionen, die uns die ‚Technik‘ des öffentlichen Haushaltens auferlegen. Die Nicht-Beachtung kann den Staat und seine BürgerInnen teuer zu stehen kommen.

Es gibt bei der Verschuldung des Staates noch einen weiteren Gesichtspunkt: Wenn der Staat Schulden macht, wird die Geldmenge erhöht, weil mit den Schulden ‚Geldschöpfung‘ stattfindet. Da der Staat i.d.R. seine Schulden nicht tilgt, (wie das z.B. vom Privatsektor konsequent zu erwartet ist), türmen sich die Staatsschulden als ‚Verpflichtungen‘ gegenüber dem Bankensektor auf. Das mit der Schuldaufnahme verbundene Geld ist aber davon zu trennen. Es findet Eingang in den Wirtschaftskreislauf und bläht die verfügbare Geldmenge auf. Das Geld wandert dabei durch den Wirtschaftskreislauf vom Schuldner (dem Staat) in den Privatsektor und wird dort „gespart“ oder „investiert“. Real sollte man besser von Anhäufung sprechen. Eine Anhäufung des Geldes beim Staat ist haushaltsrechtlich ausgeschlossen, der Staat darf kein Geld ansammeln.

All das Geld, das im realwirtschaftliche Wirtschaftskreislauf keine unmittelbare Verwendung findet, ‚schreit‘ üblicherweise nach Anlage und Rendite. Es wird deshalb zu einem großen Teil im Finanzkasino oder in sogenannten ‚Steueroasen‘ angelegt. Es findet nur dann in die Realwirtschaft zurück, wenn regelmäßig die eine oder andere größere Blase am Finanzmarkt platzt und das Geld ruckartig in andere Hände übergeht. Geld geht dadurch i.d.R. nicht „kaputt“. Es wechselt nur den Besitzer. Erst dann, wenn der über Kredit geschöpfte Geldbetrag wieder getilgt ist, löst sich das Geld auf. Es neutralisiert sich.

Wenn das Geld durch einen mehrstufigen Prozess des Wirtschaftskreislaufs im Privatsektor ankommt, wird es nicht an alle Mitglieder des Privatsektors verteilt. Ein Blick auf die Vermögensverteilung macht deutlich, dass etwa 50% der deutschen Bevölkerung über kein oder kein nennenswertes Vermögen verfügt. Erst jenseits dieser 50% entwickeln die BürgerInnen die Fähigkeit Vermögen anzusammeln Bei den obersten 10% (technisch ausgedrückt: im 10. Dezil) massieren sich dabei gewaltige Vermögensteile. Damit das Ungleichgewicht der Vermögensverteilung nicht zu offensichtlich wird, werden die Vermögens-Darstellungen je Dezil auf den Vermögensdurchschnitt des jeweiligen Dezils eingedampft. Die Varianz (die Streuung) ist gewaltig, wird aber i.d.R. nicht dargestellt.

Zurück zum Geldfluss: Wenn also 50% so gut wie kein Vermögen aufweisen, dann wirkt sich der Geldzufluss im Privatsektor nur im Vermögen der ‚oberen‘ Hälfte aus, also dort, wo schon Vermögen vorhanden ist. Die andere Hälfte wird den Geldfluss (soweit er auf sie entfällt) konsumieren (müssen). Anderenfalls müsste das Vermögen dieser Dezile (technisch ausgedrückt: Dezile 1 – 5) ja logischerweise zunehmen. Und das tut es nicht.

Hier möchte ich die holzschnittartige Darstellung der Zusammenhänge beenden. Weitere Details findet man in dem 3SAT-Beitrag Oekonomia von Carmen Losmann. Man wird die hier dargestellte  Interpretation so in keinem mir bekannten volkswirtschaftlichen Lehrbuch finden. (Die hier vorgebrachte Erklärung ist vielleicht zu einfach; es besteht die Gefahr, dass jedermann diese Zusammenhänge verstehen könnte.)

In dem Zusammenhang scheint Folgendes von Bedeutung zu sein: Die Verschuldung des Staates BRD beläuft sich auf ca. 2,34 Billionen Euro (Jan. 2022). Die Verschuldung kann angesichts der „Großen Transformation“ zwar sicherlich noch gesteigert werden, führt aber mit jeder weiteren Erhöhung hin zu einem unbekannten Kipp-Punkt, an dem das System kollabiert. Ewiges Schuldenmachen führt ebenso wie ewiges Wachstum ins Chaos. Konsequenterweise wäre also eine weitere signifikante Verschuldung zu vermeiden. Den Kipp-Punkt zu vermeiden und gleichzeitig die Transformation mit weiterer Verschuldung zu finanzieren, erscheint als ein Widerspruch in sich.

Da die Geldschöpfung der öffentlichen Haushalte indirekt dazu führt, dass das in den Wirtschaftskreislauf gebrachte Geld sich nicht gleichmäßig auf die BürgerInnen verteilt, sondern wieder im Wesentlichen bei den großen Vermögen landet, kann die steigende Staatsverschuldung kurzfristig nur eins bewirken: eine weiter steigende Ungleichverteilung der Vermögen in diesem Land. Die berühmte Vermögensschere würde sich weiter öffnen.

Der Staatsverschuldung steht ein gewaltiger Vermögensaufbau im Privatsektor gegenüber. Ohne Staatsverschuldung gäbe es wohl ebenfalls eine Ungleichverteilung, aber nicht in diesem Ausmaß, weil die deutlich geringere verfügbare Geldmenge diese Entwicklung hemmen würde. Die Frage lautet also: Gibt es zur Finanzierung der Transformation statt wachsender Staatsverschuldung eine Alternative? Dabei führt die Betrachtung von Staatsschulden und Privatsektor eigentlich schon den Lösungsansatz in sich. Die Frage ist nur, wie kommt man im Sinne der Finanzierung der Transformation an Teile der ganz großen privaten Vermögen, ohne die (einflussreichen) Inhaber dieser Vermögen hinsichtlich des Gedankens in die Opposition zu drängen?

Das wird man nur mit einer Taktik von Zuckerbrot und Peitsche realisieren können: Es muss eine Drohkulisse aufgebaut werden (die Peitsche) und dann muss man gezielt einen attraktiven Ausweg schaffen oder zeigen, wie die Auswirkungen der ‚Peitsche‘ ggfs. in künftige Renditechancen (das Zuckerbrot) abgewandelt werden können. Ziel der Aktion ist es, das Eigeninteresse der Vermögenden an den zwar nicht sicheren, aber doch möglichen Chancen einer Transformation zu wecken. Das als Vermögen geparkte Geldvermögen ist im Sinne der Transformation zu mobilisieren. Das wäre das Ziel der Strategie!

Die Verwendung (die Mobilisierung) des geparkten privaten Vermögens würde die Geldmenge nur temporär im Wirtschaftskreislauf ausdehnen, weil im privaten Sektor Tilgung eine ‚normal procedure‘  ist und jede Rückführung privater Gelder auf die Parkpositionen die Geldmenge im Wirtschaftskreislauf wieder senken wird.

Was wäre die klassische Form der Finanzierung der Transformation? Staatsschuldenerhöhung oder Erhöhung der Steuerlast. Dabei ist es im ersten Schritt oft das Einfachste, den Rahmen der bestehenden Steuern einfach konsequent auszuschöpfen (was realiter meist nicht der Fall ist), z.B. die Aktivierung der regelmäßigen Betriebsprüfungen und einer konsequenten Steuerfandung.

Als weitere Alternative bietet sich die von Helmut Kohl ausgesetzte, aber inzwischen gründlich zu überarbeitende Vermögensteuer und auch eine Erbschaftsteuer an, die die Übertragung großer Vermögen signifikant besteuert. Die Einkommensteuer eignet sich ebenfalls vom Grundsatz her, aber die bisher extrem geringe Steuerlast insbesondere der großen Vermögen bietet hier ein leichter überschaubares Feld mit vermutlich weniger Widerständen. Es braucht aber mehr Stehvermögen!

Wichtig erscheint, dass bei den Steuern auf das Vermögen Freibeträge oder Freigrenzen bereitgestellt werden, die die kleineren Vermögen weitgehend steuerfrei stellen. Hierzu gibt es Vorschläge, dass die Vermögen erst ab einer Höhe von fünf Mio. € zur Besteuerung herangezogen werden. Eine andere Zahl, die bei dem Freibetrag ad hoc ins Gedächtnis kommt, ist die Zahl der Betroffenen einer solchen Vermögensteuer: Man spricht von ca. 21.000 Steuerpflichtigen, die dann aber über Vermögen verfügen, bei denen sich eine Steuererhebung auch arbeitstechnisch ‚richtig lohnt‘. Vergleichbares gälte dann auch für die Erbschaftsteuer: es braucht nennenswerte Freibeträge oder Freigrenzen und eine Bewertungsgrundlage, die von real nachvollziehbaren Werten ausgeht. Die Steuersätze könnten gleichbleiben, weil die Ungereimtheiten gegenwärtig in den Bewertungsgrundlagen zu suchen sind.

Aufgrund der geringen Zahl der Betroffenen ist es auch nicht sinnvoll, dass sich jedes Finanzamt mit dieser Steuer befassen muss. Die Steuererklärungen müssen bei steuerbefreiten Steuerpflichtigen nur alle drei (oder fünf) Jahre eingereicht werden. Die Vermögensverhältnisse, die die Freibeträge übersteigen, müssten dagegen jährlich deklariert werden.

Mit der Realisierung dieser Vorstellungen macht man sich bei den ca. 21.000 Betroffenen sicherlich keine Freunde. Deshalb das Zuckerbrot: Wenn sich dieser Personenkreis aktiv in die Umsetzung der Transformation einbringt und die damit verbundenen Investitionen im Rahmen ihrer Unternehmen vorantreiben, besteht die Möglichkeit, diese Investitionsausgaben p.r.t. in den ersten drei oder fünf Jahren von der Steuerlast abzuziehen, Sie werden zusätzlich für einen begrenzten Zeitraum dem steuerpflichtigen Vermögen nicht zugerechnet. Nach Ablauf dieser Zeitspanne wird es ‚normales‘ Vermögen und unterliegt ggfs. der regelmäßigen jährlichen Steuer.

Es bleibt die Frage, welche Investitionen im Sinne der Transformation als förderungswürdig eingestuft werden. Hierzu müssten Staat und Wissenschaft gewissermaßen als Voraussetzung einen Katalog von Kriterien entwickeln, die erfüllt sein muss, damit die Vermögensteuer- bzw. Erbschaftsteuerreduktionen greifen können. Das ist eine echte Führungsaufgabe, die nicht durch nette Moderation der Beteiligten gelöst werden kann. Da Misstrauen in solchen Fällen eine hilfreiche Grundhaltung darstellt, sollten derartige Maßnahmen überprüft und zertifiziert werden. ‚Schummeleien‘ sind beim Steuerpflichtigen und bei deren Beratern ggfs. drastisch zu sanktionieren.

Nun kommt die Gretchenfrage: Reichen diese Maßnahmen zur Finanzierung einer geplanten Transformation? Zahlen kann ich keine liefern, weil ich nicht einmal weiß, wieviel wir in die Hand nehmen müssen, um die notwendigen Maßnahmen durchzusetzen. Aber damit hätten wir zumindest mal einen groben Rahmen, den wir dann mit viel Phantasie (oder Neusprech: Innovation) auch noch ausbauen können.

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Zwischenruf: Impfpflicht – müssen wir das wollen?

Impfen hat sich m.E. als sinnvolle Strategie zur Linderung der Folgen der gegenwärtigen Pandemie erwiesen. Ich möchte mir nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn kein adäquater Impfstoff verfügbar gewesen wäre.

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Wenn ich mir nun überlege, ob ich einer Impfpflicht zustimmen kann, so zögere ich. Der Grund für mein Zögern liegt nicht im Impfstoff oder in seinen Nebenwirkungen. Mein Argument wäre die Politik, die ich mit der Zustimmung zur Impfpflicht ermächtige, festzulegen, wann die Impfplicht besteht, zu welchem Zweck Impfpflicht besteht, ohne dass ich auf die Randbedingungen dann noch irgend einen Einfluss hätte. Die heutige Regierung mag das Thema mit dem nötigen Ernst betreiben, aber die uneingeschränkte Zustimmung zur Impfpflicht reicht weit in die Zukunft – und wer weiß schon, wo die Reise hingeht.

Mit anderen Worten bin ich der Meinung, dass das Instrument einer Impfplicht grundsätzlich zur Verfügung stehen sollte, um auf kritische Entwicklungen in Pandemien reagieren zu können. Aber es müssen „Checks and Balances“ bestehen, damit eine Impfpflicht nur dann zur Anwendung kommt, wenn alle anderen Maßnahmen ausscheiden, weil sie zu risikoreich sind und/oder das Leben vieler Menschen in Gefahr bringt. Es muss sichergestellt sein, dass die Impfpflicht nur als ultima ratio Verwendung finden kann. Da die Impfpflicht nach diesem Vorschlag grundsätzlich verfügbar wäre, erhöht sie den Druck auf die Impfverweigerer, weil bei einer zu geringen Impfquote auf Basis der Freiwilligkeit die Impfpflicht als Drohszenario immer im Hintergrund bestehen bleibt.

Hinsichtlich der „Checks and Balances“ müssen klare Beurteilungskriterien der Gesamtsituation eingeführt werden, es muss (zumindest für die Wissenschaft) offensichtlich sein, dass eine Art „Notstand“ entsteht oder absehbar im Entstehen ist, der durch eine Impfplicht erfolgversprechend eingedämmt werden kann. Die Impfpflicht ist zeitlich und/oder sachlich und/oder gruppenbezogen nach Alter, Beruf u.ä. zu begrenzen. Und dann braucht es ein Quorum des jeweiligen Parlaments, das eine breite Zustimmung sicherstellt. Dann könnte ich mir vorstellen, einer Impfplicht zuzustimmen (wenn ich denn gefragt würde).

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Die Idee von dem, was wir ‚nicht‘ wollen

Die Idee der Leitplanken ist „ein Konzept der WBGU[1], das quantitativ definierte Schadensgrenzen beschreibt, deren Überschreitung nicht tolerierbare oder gar katastrophale Folgen hätte. (…) Nachhaltige Entwicklungspfade verlaufen innerhalb des durch die planetarischen Leitplanken eingegrenzten Bereichs. Dahinter steht die Einsicht, dass es kaum möglich ist, eine wünschenswerte, nachhaltige Zukunft im Sinne eines zu erreichenden Zustands zu definieren.“

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„Man kann sich aber auf die Abgrenzung eines Bereichs einigen, der als inakzeptabel anerkannt wird und den die Gesellschaft vermeiden will. Die Einhaltung der Leitplanken ist ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium für Nachhaltigkeit.[2]

Es fällt auf, dass hier eine Vorgehensweise gewählt wird, die einen kompletten Wechsel der Perspektive verspricht. Unser Wirtschaftssystem und auch unser gesellschaftliches Selbstverständnis waren stets von der optimistischen Idee geprägt, dass nach „Vorne“ (Fortschritt) und „Oben“ (Wachstum) unsere Welt grundsätzlich unbegrenzte Möglichkeiten biete. Plötzlich gilt es, realistisch Grenzen anzuerkennen und daraus die Konsequenzen zu ziehen.

War bisher der Optimist ganz klar im Vorteil – es stand ihm scheinbar die Welt und die Zukunft uneingeschränkt zur Verfügung – braucht es jetzt Realisten mit Augenmaß, weil der Endlosigkeit auf einmal Grenzen gesetzt sind. Im Grund verlieren wir mit der Grenzziehung ein Stück unserer gefeierten Handlungsfreiheit.

Es geht nicht mehr darum, was wir wollen. Wir müssen anerkennen, dass uns absolute Grenzen gesetzt sind oder von außen gesetzt werden. Und viele Bürger verhalten sich trotzig wie kleine Kinder, denen der „Papa“oder die „Mama“ plötzlich Grenzen setzen. Vergleichbare Auseinandersetzungen werden wir im Rahmen der Transformation unserer Gesellschaft wohl noch lange auszuhalten müssen. 

Es besteht „die Einsicht, dass es kaum möglich ist, eine wünschenswerte, nachhaltige Zukunft im Sinne eines zu erreichenden Zustands zu definieren“ (WBGU, a.a.O.). Wenn das Ziel nicht zu definieren ist, müssen wir Schritt für Schritt (inkremental) unser Gemeinwesen durchforsten, und all jene Verhaltensweisen unterbinden, die mit den globalen Grenzen bzw. den (noch zu formulierenden) Leitplanken im Konflikt stehen.

Damit ergibt sich die Frage, was sollen die Leitplanken konkret enthalten. Die Definition im Glossar des Hauptgutachtens von 2011 spricht beispielhaft das 1.5 Grad Ziel als Leitplanke an. Das ist aus der Sicht des Jahres 2011 vielleicht eine werthaltige Aussage. Heute, zehn Jahre später, scheint das Ziel schon weitgehend Makulatur zu sein.

Der WBGU versteht die Leitplanke als eine planetarische Begrenzung. Und es tut mir leid, aber mit solch großen Dimensionen mit all ihren wechselseitigen Einflüssen kann ich mich nicht identifizieren. Und ich denke, da bin ich nicht der Einzige. Wie ich hier schon einmal dargestellt habe, hat der WBGU versucht eine kleine Brücke zu bauen und Schwerpunkte gebildet, indem die Felder Energieversorgung, Urbanisierung und Landnutzung priorisiert werden. Aber ist das ausreichend und selbsterklärend?

Leitplanken gelten (lt. WBGU) als quantitativ definierte Grenzen. Reichen quantitativ formulierte Grenzen als Lösungsbeitrag zur Frage von Nachhaltigkeit aus? Ich würde Nachhaltigkeit eher als eine qualitative Fragestellung verstehen. Ist dann die erklärte Beschränkung auf quantitativ definierte Leitplanken konsequent und richtig?

Müssen wir nicht die Maxime unseres täglichen Handelns sowohl hinsichtlich Qualität und Quantität hinterfragen? Was leitet unser Handeln? Sind die Wertvorstellungen, die unser Handeln bisher leiten, mit einer als begrenzt erkannten Welt vereinbar? Wir müssen mit der Feststellung dessen, was wir nicht wollen (können), bei den qualitativen Eigenarten unseres Handelns beginnen, bevor wir versuchen, quantitativ Leitplanken zu definieren, deren Ausprägung wir als sinnvoll erkennen? Was nützt eine quantitative Aussage, wenn es nicht gelingt, mit der Aussage ein qualitatives „Richtig“ (z.B. etwas Sinnvolles) vermitteln zu können?

Der WBGU hat ein Comic-Heft zur Urbanisierung herausgegeben und führt dort einen „normativen Kompass“ ein, der bestimmt, „unsere Lebensgrundlagen zu erhalten, Teilhabe sicherzustellen und Eigenart (Charakter – VF) zu fördern“. Das geht in die oben beschriebene Richtung, es sind aber Ziele und missachtet die Erkenntnis aus der Leitplanken-Definition (s.o.), dass wir angeblich nicht wissen können, was wir letztlich wollen. Stattdessen sollen wir uns darauf konzentrieren, jene Handlungen, Maßnahmen, Aktivitäten zu identifizieren, die wir als schädlich erkannt haben, um diese künftig gezielt zu unterlassen (auch das sind Ziele).

Was wollen wir denn auf keinen Fall? Wir sind uns sicher weitgehend einig, keine weiteren Schritte unternehmen zu wollen, die unsere natürlichen Lebengrundlagen vernichten, die auf eine systematische Untergrabung der Teilhabe gerichtet sind und wir wollen keine gesichtslose Masse, in der jede Eigenart zerstört wird. Das ist die Umformulierung des „normativen Kompasses“ mit dem Ziel, dem, was wir nicht wollen, abstrakt ein positiv erkennbares Gesicht zu verleihen.

Es muss uns jedoch klar sein, dass das ein Auftrag ist, dessen Erfolg nur dann gegeben ist, „wenn alles so gebaut ist, wie es dir im Traum gefiel“ (Peter Horton). Mit anderen Worten – wir drohen damit in eine Endlosschleife zu laufen, weil das „Träumen“ ja nie aufhört. Eine alternative Zielplanke könnte sein, dass wir den Transformationsprozess dann beenden, wenn wir statt des Verbrauchs mehrerer Planeten uns auf die nachhaltig sinnvolle Nutzung des einen verfügbaren Planeten rechtzeitig eingeschwungen haben.

Wir müssen nicht alles und jedes ändern. Wir müssen die richtigen Stellschrauben finden. Jede getroffene Änderung hat nach unserem Verständnis eine Primärwirkung nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung und zahllose, im Moment der Umsetzung nicht absehbare positive und (ggfs.) auch negative Nebenwirkungen. Die „Kunst“ wird darin bestehen, jene Änderungsmaßnahmen zu identifizieren, die mit dem geringsten Aufwand die insgesamt größte Wirkung in die angestrebte Richtung auslöst.

Ein Versuch zur Praxis

Die Feststellung des WBGU, dass eine Leitplanke eine quantitative Maßnahme sein solle, erscheint mir nach den angeführten Überlegungen wenig erfolgversprechend. Man stelle sich folgende Leitplanke vor: die Produktion in Deutschland soll um x% zurückgefahren werden. Das ist mir nicht zu vermitteln, auch dann nicht, wenn die x% nachweislich richtig und sinnvoll wären und wenn diese Leitplanke über die Zustimmung des Parlaments verfügen würde. Das ist eine undifferenzierte Aussage und führt m.E. in die Irre. Anders wäre es, wenn z.B. bestimmte Plastikprodukte nicht mehr produziert werden dürften, mit der Begründung, dass diese Produkte den Hauptbestandteil des nicht recyclbaren Mülls darstellen. Das ist nachvollziehbar und ggfs. überprüfbar, aber das ist keine quantitative Aussage mehr. Hier bewegen wir uns schon auf der Ebene der ‚Qualität‘.

Aufgrund dieser Überlegungen komme ich zu der Überzeugung, dass Leitplanken primär qualitative Feststellungen sein müssen. Die Auswahl des Ansatzes ist fraglos qualitativ, während es durchaus möglich ist, statt eines Verbotes (Qualität) zu einer mengenmäßigen Einschränkung (Quantität) zu kommen.

Wenn wir uns darauf einigen können, dass der Anfang allen Handelns im Qualitativen zu suchen ist, gewinnt m.E. auch die Leitplanken-Idee eine neue Seite. Wir sind uns vermutlich schnell einig, dass unser Wirtschaftssystem ein paar qualitative Eigenschaften aufweist, die man als ursächlich für unsere fragwürdige Entwicklung in den letzten Jahrzehnten erkennen kann.

Aber die Realisierung ist kompliziert, weil wir gewohnt sind, in einfachen Ursache-Wirkung-Beziehungen zu denken. Wenn es gelänge, die „richtigen“ Eigenschaften zu korrigieren, so würden sich nicht nur die unmittelbaren Zusammenhänge ändern, sondern u.U. auch die Wahrnehmung der weiter weg wirkenden Reaktionen zu einer grundlegenden Veränderung des Systems führen. Da wir nicht wissen, wie das „Bessere“ aussehen soll, können wir uns dem Besseren nur dadurch nähern, dass wir schrittweise umsetzen, was wir künftig angesichts der erkannten Konsequenzen nicht (länger) als sinnvoll erachten wollen[3].

Nehmen wir beispielhaft die vielfach kurzfristige und oft auch einstufige Orientierung unseres Handelns oder die engstirnige Beurteilung von Erfolg aus einer rein monetären Sicht (das sogenannte Renditedenken). Gelänge es, unser Handeln auf eine langfristige Orientierung zu verpflichten, würden viele Kollateralschäden ins Bewusstsein rücken, die wir aufgrund der neuen langfristigen Perspektive nicht mehr dem Nächsten in der Handlungskette aufbürden können, sondern viele Kollateralschäden würden uns aufgrund der längerfristigen Perspektive selbst auf die Füße fallen. Das würden wir natürlich vermeiden wollen und damit werden sich das Denken und vermutlich auch die Einstellungen hierzu ändern. Vieles, was wir nicht mehr wollen, wird unterbleiben, weil es nicht mehr externalisiert (auf andere weggeschoben) werden kann, sondern in meinem (persönlichen) Handlungskreis verbleibt.

Leider kann ich das „Zauberwort“ nicht liefern, das diese Zusammenhänge zur allgemeinen Zufriedenheit löst. Aber die Idee scheint mir Wert zu sein, hier weiter zu „graben“.

Das Renditedenken führt dazu, dass nur monetäre Gesichtspunkte über ein Projekt und seine Folgen entscheiden. Dabei ist es meist so, dass der Investor zwar viel Geld hat und einen hohen Verdienst anstrebt, aber die Investition sachlich über den Renditegesichtspunkt hinaus oft kaum Vorzüge aufzuweisen hat. Die Investition muss effizient (kostenoptimal), schnell (also kurzfristig) umsetzbar sein und dem Investor möglichst wenig Verwaltungsaufwand (z. B. durch Mitspracherechte Dritter) machen. Der Bearbeitungsaufwand kürzt nämlich i.d.R. seine Rendite.

Deshalb bestimmt neuerdings statt der ausschließlichen Rendite die Idee eines „Konzeptes“ die Validität einer Investition. In einem Konzept geht es auch um Rentabilität, aber sie ist dort nur Nebenbedingung. In erster Linie muss die Investition einem konzeptionellen Qualitäts-Rahmen genügen, der mindestens folgende Gesichtspunkte beispielhaft beachten sollte:

  • Beitrag zur Klimaneutralität,
  • Minimierung des CO2-Ausstoßes,
  • soziale Gesichtspunkte,
  • Nachhaltigkeit i.w.S.,
  • Eine erwartet hohe Lebensdauer des Produkts,
  • Vorkehrungen für künftige Reparatur- bzw. notwendige Sanierungsmöglichkeiten
  • Ist für das Projekt ein übergeordneter Nutzen für die Allgemeinheit erkennbar,
  • Harmonisches Zusammenspiel von Projekt und sozialer, technischer und wirtschaftlicher Umgebung,
  • ausreichende urbane An- und Einbindung,
  • bei Ausschreibungen erfolgt der Zuschlag danach, wer das funktional beste Konzept für die vorhandenen Umstände bieten kann,
  • Ausschluss von Spekulation (keine Windfallprofite)
  • künftiges Vorkaufsrecht der Kommune einrichten
  • und vieles andere mehr.

Diese Anforderungen müssen auch für private Investitionen zur Regel werden. Über Subventionen, Fördermaßnahmen, Zuschüsse und Steuervergünstigungen müssen diese Gedanken in die Wirtschaft getragen werden, um deutlich zu machen, dass es ernst gemeint ist.

Und es bleibt trotzdem schwierig: Sechzig Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen in Deutschland sind nach einem ARTE-Beitrag im Besitz von Investoren, die ihr Geld i.d.R. nicht mit Landwirtschaft verdienen. Man nennt das „Land Grabbing“ und meint, dass das nur die Chinesen in Afrika betreiben. Die Investoren verpachten diese Flächen an die Landwirte und die Pacht pro Hektar ist in den letzten zehn Jahren ingesamt um rd. 83 Prozent gestiegen. Der Kaufpreis pro Hektar stieg von 2005 bis 2020 um 200 Prozent[4]. Wie soll da eine grundlegende Reform der Landwirtschaft gelingen, wenn gleichzeitig die Preise der Agrarprodukte tendenziell eher sinken denn steigen. Das ist ein Widerspruch zu Lasten der Landwirtschaft. Das können wir nicht wollen, aber wie könnten wir den Zustand über das Leitplanken-Konzept ändern?

Frankreich hat hier vor ca. fünfzig Jahren eine Institution gegründet, die sich hinter der Abkürzung  ‚SAFER‘ verbirgt[5]. Verkürzt ausgedrückt, sorgt u.a. ‚Safer‘ dafür, dass landwirtschaftlich genutzter Boden in Frankreich nicht zum Spekulationsobjekt gemacht wird, indem ‚Safer‘ die Preise überwacht, ggfs. festsetzt und darauf achtet, dass der Erwerber ein landwirtschaftlich interessantes Konzept für den Hof oder für die zur Diskussion stehenden Flächen zu bieten hat. Es wird nicht in das Eigentum eingegriffen, aber es wird sichergestellt, dass nicht vermehrbarer Boden als knappes Gut keiner Spekulation anheimfällt und in der Hand von Landwirten bleibt.

Oftmals gibt es auch eine Lösung, indem man das Investorenverhalten kopiert, aber die Zielsetzung völlig neu fasst. Es gibt eine Gesellschaftsform, die sich nicht ausschließlich dem Gedanken der Rendite verschrieben hat. Es handelt sich um die Genossenschaft, die seit dem Neue Heimat –Skandal etwas aus der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verschwunden ist. Ein wesentlicher Grund liegt wohl auch darin, dass der genossenschaftliche Gedanke mit dem egomanen Gedankengebäude eines Neoliberalismus keine Gemeinsamkeit kennt. Die Genossenschaft ist durchaus auf Gewinn angelegt, aber verfolgt erstrangig einen eher sozialen Zweck (Versorgung).

Es gibt in Norddeutschland eine Genossenschaft[6], die selber Landwirtschaft und zudem das Geschäft eines Aufkäufers von landwirtschaftlichen Flächen betreibt. Letzteres mit dem Ziel, den erworbenen Boden exklusiv an aktive (Bio-) Landwirte zu langfristig moderaten Konditionen zur Nutzung zu verpachten. Die Genossenschaft wiederum wirbt gegen Ausgabe von Genossenschaftsanteilen Geld von interessierten Bürgern ein, die sich nicht der Rendite verpflichtet fühlen und sich mit überschaubaren Beiträgen beteiligen. Immer wenn ein Landwirt, egal aus welchen Gründen, landwirtschaftlichen Boden aufgibt, steht die Genossenschaft auf Anfrage zur Verfügung, diesen Boden für die Landwirtschaft zu erhalten und finanziert den Erwerb gemeinsam mit einer Bank als Eigen- oder Fremdgeschäft unter Berücksichtigung der besonderen Situation des Verkäufers.

Damit sind die 60 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen noch nicht wieder in der Hand von Landwirten. Da braucht es deutlich mehr, insbesondere weil ich vermute, dass die Investoren für die erworbenen landwirtschaftlichen Flächen die Steuervorteile und –erleichterungen der „Land- und Forstwirtschaft“ für sich in Anspruch nehmen. Es wäre also sinnvoll, diese Steuervergünstigungen zu überarbeiten, damit sichergestellt werden kann, dass die Vergünstigung wirklich nur praktizierenden Landwirten zugutekommt.

Die Agrarflächen sind als Immobilien regional fixiert. Man kann also im Rahmen des Erwerbs von landwirtschaftlich genutzten Flächen, die Flächen in Investorenhand einkreisen und kann dadurch in der Region für die Pacht dieser Flächen eine Art lokalen Markt generieren und wenn der genossenschaftliche Grund zu moderaten Pachten abgegeben wird, muss der Investor sich ‚marktkonform‘ auf dieses Preisniveau „einschwingen“. Er verliert dadurch sein Privileg, aufgrund der Bodenknappheit Windfallprofite bzw. überdurchschnittliche Rendite erwirtschaften zu können.

Diesen Vorgang gibt es in der umgekehrten Richtung als ein politisches Negativ-Beispiel, das beschreibt, wie man es nicht machen sollte: Vor weniger als zwanzig Jahren hat Markus Söder als bayerischer Finanzminister weit über 30.000 Wohnungen der damaligen staatlich bayerischen Wohnungsbaugesellschaft privatisieren lassen. Dabei war er aber nicht der einzige: Düsseldorf, Essen, Hamburg, …, im Prinzip alle deutschen Großstädte und Länderregierungen unterhielten Wohnungsbaugenossenschaften und haben deren Bestände an sozial gebundenen Wohnungen privatisiert und schickten die Wohnungsbaugenossenschaften und den damit verbundenen wichtigen Markteinfluss in die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit. Die Folge war, dass wenige Jahre später die Mieten in den Großstädten rasant zu steigen begannen und inzwischen durch die Decke gehen, weil das Marktkorrektiv von hunderttausenden von sozial gebundenen Wohnungen nicht mehr existiert. Jetzt fängt die Politik ganz heimlich und leise wieder an, mühsam entsprechende Bestände wieder aufzubauen. Es erfolgt deshalb heimlich, weil man nicht zu deutlich auf die Fehler der Vergangenheit hinweisen möchte und leise, weil das Geld, das durch die Privatisierung eingenommen wurde, in den Haushalten inzwischen versackt ist.

Aber zurück zur Landwirtschaft: Eine Boden-Genossenschaft für Deutschland ist einfach zu wenig, um hier etwas im größeren Rahmen bewegen zu können. Wenn die Politik hier Einfluss gewinnen will oder muss, hilft nur eine Institution à la „Safer allemande“ oder unser Gemeinwesen baut ergänzend im großen Stil Bodengenossenschaften auf, um dafür zu sorgen, dass das einseitige Renditedenken die Landwirtschaft nicht komplett zerstört, weil der konzeptionelle Anspruch, etwas Zukunftsweisendes zu schaffen vor der Rendite rangieren muss. Renditen kennen keine Innovation. Renditen kennen nur den Fortschritt als „mehr vom Gleichen“. Das ist zu wenig, um den anstehenden Herausforderungen begegnen zu können.


[1] Wissenschaftliche Beratung der Bundesregierung Globale Umwelt

[2] WBGU, Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation, (2011), S. 418

[3] Diese Strategie ist mindestens 2.500 Jahre alt und wurde durch die Rede Buddha’s an die Kalamater bekannt. (Vgl. Karl-Heinz Brodbeck, Einführung in die buddhistische Erkenntnistheorie, (2009), S. 240 oder ausführlich die Kalama-Sutra im Internet)

[4] https://www.zdf.de/arte/arte-re/page-video-artede-re-land-fuer-alle—keine-chance-fuer-spekulanten-100.html

[5] https://www.safer.fr/   (setzt französische Sprachkenntnisse voraus)

[6] Bioboden eG ( https://bioboden.de/ )

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Gendern

Weihnachten war die Familie beim Essen in froher Runde versammelt. Irgendwie kam das Gender-Thema auf. Wir waren uns schnell in der Sache einig. Das Denken im „generischen Maskulinum“ ist ein blinder Fleck und ist zu ändern. Aber ist das Sternchen oder das Anhängsel „Innen“ oder beides wirklich der Weisheit letzter Schluss? Oder nervt es nur? Hier konnten wir keine gemeinsame Haltung erzielen.

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Harald Lesch hat zu diesem Thema zum 5.10.2021 ein paar Ideen zusammengetragen, die mir hilfreich erscheinen (vgl. https://www.zdf.de/wissen/leschs-kosmos/gendern-wahn-oder-wissenschaft-100.html ). Es gelingt ihm dort, den blinden Fleck, den eine Mehrzahl unserer BürgerInnen (!) pflegt, konkret werden zu lassen. Lesch weist auf eine Reihe von Gesichtspunkten hin, wo der blinde Fleck richtige „Löcher reißt“ und er fasst dann die Diskussion um das Sternchen (et al) als „Petitesse“ im Vergleich zu den konkreten Folgen des blinden Flecks zusammen. Dem kann ich allemal zustimmen.

Zurück zum Gendern: Ich werde mich angesichts der von Lesch dargestellten Änderungsnotwendigkeit bemühen, künftig in diesem Blog die nervigen Attribute des Genderns dem Rat  Leschs folgend als „Petitesse“ zu betrachten und sie adäquat anwenden. Ich bitte ggfs. um Nachsicht, wenn mir mal der Gaul durchgeht.

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Der Staat als ‚Moderator‘ oder als ‚Gestalter‘?

Bis 2030 wollen wir lt. Regierung auf 55% oder 65% unseres CO2-Ausstoßes verzichten. Das Verfassungsgericht hat vor wenigen Monaten entschieden, dass die Ankündigung und der Handlungsrahmen, der im Klimaschutzgesetz festgeschrieben wurde, unzureichend ist und insbesondere die kommenden Generationen unverhältnismäßig stark in die Pflicht nehmen wollen.

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Ein Grund für dieses Defizit könnte im gegenwärtig gültigen Verständnis des Staates als Moderator zu finden sein. Die Politik sieht sich nicht in der Rolle des Taktgebers, sondern hat diese dynamische Rolle schon vor Jahrzehnten an unser Wirtschaftssystem abgegeben. Politik begnügt sich dabei mit der Vermittlung (Moderation) von unterschiedlichen Interessen und dem Abfedern von punktuell verstandenen Fehlentwicklungen. Als die treibende Kraft der Entwicklung gilt dabei das Wirtschaftssystem. Die Politik räumt im Nachgang auf und wundert sich, dass sie regelmäßig von den Ereignissen überrascht bzw. überrollt wird.

Seit fünfzig Jahren, also seit Meadow’s Ausarbeitung der „Grenzen des Wachstums“ (1972), wissen wir, dass der dynamische Teil unserer Gesellschaft eine Form des Wirtschaftens verfolgt, die nicht nachhaltig ist. Diese Wirtschaftsform wird uns in eine Situation treiben, für die wir nicht mehr genug Ressourcen bereitstellen können und auch nicht wollen. Wenn sich unsere Form des Wirtschaftens auf alle Regionen dieser Welt gleichmäßig ausbreiten würde, müssten wir zur Erhaltung unserer Zivilisation über die Ressourcen von etwa 3 Planeten verfügen[1]. Es steht aber faktisch nur ein Planet zur Verfügung. Also machen wir bei der Bewirtschaftung dieses Planeten irgendetwas Grundsätzliches falsch.

Dieses Faktum ist zwischenzeitlich in den meisten Köpfen angekommen. Dann ist klar, dass die Dynamik des Wirtschaftssystems bei einer Politik, die sich nur auf die ‚Moderation‘ beschränkt, uns in immer schlimmere Sachzwänge und unerwünschte Reaktionen unserer Umwelt führt, die für die Bevölkerung nicht tragbar noch tolerabel sind. Statt punktueller Fehlentwicklungen läuft der „Karren“ absehbar im Ganzen aus dem Gleis.

Vor diesem Hintergrund hat der WBGU[2] schon 2011 einen Politikwechsel vorgeschlagen: weg vom moderierenden Staat und hin zum gestaltenden Staat. Das war schon vor zehn Jahren. Das Ziel war dabei, dem wirtschaftlichen Subsystem so wenig Dynamik als möglich zu nehmen, die weitere Entwicklung über Leitplanken (rail guards) so zu steuern, das ein Freiraum für die wirtschaftliche Dynamik bleibt, aber die überbordenden und schädlichen Aktivitäten unterbleiben. Das ist mit dem Bild des moderierenden Staates nicht zu leisten. Deshalb schlug der WBGU vor, den moderierenden Ansatz zurückzufahren und dafür künftig gestaltend tätig zu werden. Um hier sicherzustellen, dass diese Prozesse (auch) im Sinne der Bürger laufen, wurde eine erweiterte Partizipation der Bürger am Transformationsprozess vorgeschlagen[3].

Der Kern des Problems liegt in der Art unseres Wirtschaftens. Hier muss sich eine Änderung vollziehen. Statt den dynamischen Teil der Gesellschaft dabei frontal anzugreifen und Vorwürfe zu formulieren mit der Folge, dass sich die Vertreter des Wirtschaftssystems massiv unter Druck gesetzt fühlen und aus diesem Gefühl heraus Opposition aufbauen, hat die Wissenschaft mit der Politik (so vermute ich) recht klug die Klimawende ausgerufen, weil es keinen Zweck hat, eine direkte Auseinandersetzung zwischen Politik und dem dynamischen Teil der Gesellschaft herauszufordern, wenn es auch anders geht. Wir wissen, dass das Hauptproblem bei der Wirtschaft liegt, aber es ist viel einfacher stellvertretend für die Wirtschaft eine Klimakrise auszurufen, die es mit allen Kräften zu bekämpfen gilt. Die Wirtschaft muss zwar das Gleiche tun, wie wenn sie als primärer Verursacher am Pranger stehen würde, aber sie tut das jetzt für die Klimakrise (und nicht als Schuldige) – das klingt für alle Beteiligten viel konstruktiver und niemand wird in die Rolle des Verantwortlichen gedrängt.

Der gestaltende Staat ist aber eine Herausforderung für die Politik. Einerseits müssen aktiv Leitplanken eingezogen werden, die Teilen der Wirtschaft einheitlich Beschränkungen auferlegen werden, andererseits müssen für diese Maßnahmen in ausreichendem Maße Legitimation und Zustimmung geschaffen werden.

Auch dem professionellen Lobbyismus müssen dabei Grenzen aufgezeigt werden. Auch hier ist vielleicht der Ansatz nicht die Konfrontation, sondern eine Bevorzugung des Bürgerwillens, indem die ‚Bürgerpartizipation‘ den Bürgern und Wählern die Möglichkeit gibt, durch verschiedene Formen der öffentlichen Partizipation „Lobbyismus in eigener Sache“ zu betreiben. Um der Kapitalkraft des professionellen Lobbyismus ein Gegengewicht zu verleihen, sind die Ergebnisse der Partizipation in Form offizieller „Bürgergutachten“ gesetzlich ‚bevorzugt‘ vom Parlament wahrzunehmen.

Die künftige Gestaltung muss sich andere Kriterien geben als die bei der Moderation üblichen. Es geht nicht mehr um ein reaktives Verhüten der negativen Folgen des Handelns Dritter. Der gestaltende Staat muss über die Ausprägung der Leitplanken auf allen Gebieten der (globalen und nationalen) Megatrends entscheiden. Je mehr Legitimation die Gestaltung gewinnen kann, desto geringer ist der Widerstand der Betroffenen. Die Legitimation wird m.E. der „Knackpunkt“ für die Umsetzung sein. Je früher hier Informationen, Erläuterungen, Radio- und Fernsehbeiträge in einer verständlichen Sprache stattfinden, desto eher wird es möglich, wichtige und richtige Schritte legitimiert durchzusetzen: „Hart, aber fair“ sollten die Themen im Für und Wider verständlich darzustellen sein. Es muss spannend bleiben und die Botschaft darf nicht belehrend auftreten. Wir verfügen über einen öffentlich rechtlichen Rundfunk, nutzen wir ihn aktiv für eine ausgeglichene Berichterstattung über das Für und Wider.

Aber auch das Denken muss verändert werden. Es gab vor Jahrzehnten eine Initiative, die vorschlug, das meist „lineare“ Denken durch ein „laterales“ Denken zu ersetzen. Diese Idee hat sich nicht so recht durchgesetzt, weil der klassische Moderator dafür keine Verwendung hat. Mit Flickschusterei kann man auf der Ebene der Moderation gut leben. Lineares Denken ist nur dann ein Problem, wenn man gestaltend tätig werden will oder muss.

Ein einfaches Beispiel als Versuch der Darstellung: Es gibt Studien zur Digitalisierung, die davon ausgehen, dass durch sie in manchen Branchen in den kommenden 20 Jahren bis zu 50% der heutigen Arbeitnehmer gezwungen werden, ihren gegenwärtigen Arbeitsplatz aufzugeben. Wenn wir von einem Arbeitskräftepotenzial von ca. 43 Mio. Menschen ausgehen, so sind das rechnerisch mehr als 20 Mio. potenzielle Arbeitslose. Und dann lässt man diese Ungeheuerlichkeit einfach unkommentiert stehen. Bestenfalls findet man ggfs. den lapidaren Satz, dass der Arbeitsmarkt diese Menschen an anderer Stelle wieder aufnimmt.

Der letzte Satz ist genau das Problem des linearen Denkens. Die Digitalisierung ist der systematische Versuch, den Menschen aus Effizienzgründen weitgehend aus den Produktions- und Verwaltungsprozessen zu eliminieren. Dann darf nicht erwartet werden, dass der Arbeitsmarkt sich als eine Drehtür darstellt: dort raus, hier rein. Die Digitalisierung ist ein Megatrend. Er wird nicht aufzuhalten sein. Und er wird global die gleichen Spuren hinterlassen. Ein Ausweichen ist kaum erkennbar. Also sollte man weiterdenken.

Was bedeuten 20 Mio. Arbeitslose, unabhängig von den persönlichen Einzelschicksalen? Unser System, das wir oben als nicht nachhaltig charakterisiert haben, lebt von der Massenkaufkraft. Wenn plötzlich bis zu 50 % der Arbeitnehmer arbeitslos werden, hieße das, dass unsere Wirtschaft vielleicht 30% – 40°% (oder mehr) an Kaufkraft verlieren würden, weil die Menschen schlagartig Zukunftsängste bekommen und folglich ihre Ausgaben auf das Nötigste reduzieren. Das schlägt auch auf jene durch, die von der Arbeitslosigkeit (noch) nicht betroffen sind. Die Produzenten werden erhebliche Umsatzeinbrüche erleben, eine deflatorische Rezession ist nicht ausgeschlossen. Die Staatsverschuldung hochzufahren, hilft dann auch nicht mehr – „die Pferde saufen nicht“, weil es an Kaufkraft und Zuversicht fehlt. Selbst wenn der prekäre Arbeitsmarkt gewaltig zunähme, kann er den Kaufkraftausfall nicht ausgleichen.

Da das Problem supranationale Auswirkungen hat, kann auch der Export die Lücke nicht schließen. Die Fragestellung an den gestaltenden Staat lautet: Ist die „Prognose“ in ihrer Quantifizierung ggfs. falsch, also nicht 50% und nicht auf einmal, sondern nur 10% pro Dekade, d.h. 50% in 50 Jahren, also eher überschaubar und damit steuerbar. Oder: Wenn die Aussage doch tendenziell richtig ist, welche flankierenden Maßnahmen müssen wir ergreifen, um die Zivilgesellschaft vor nicht unbeherrschbaren Turbulenzen zu schützen?

Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seit verzeichnen wir einen Mangel an geschulten Arbeitskräften, der uns bei jeder besseren Gelegenheit präsentiert wird: Wir benötigen dringend Fachkräfte (Handwerker, Fachangestellte, Pflegekräfte, u.a.). Wie lässt sich hier künftig eine Brücke bauen, auch dann, wenn wir akzeptieren müssen, dass nicht jeder automatisch für jeden Beruf geeignet ist.

Weitere Gesichtspunkte: Digitalisierung erhöht automatisch den Energieverbrauch. Energie wird aber eine kritische Größe sein. Digitalisierung ohne Energie ist nicht denkbar. Der Arbeitnehmer ist auch ein Energieproduzent seiner selbst, aber sein energetisches Verbrauchsprofil ist vielgesaltiger als das der Digitalisierung. Ersetzen wir den Arbeitnehmer durch einen „Energiesklaven“ (Niko Paech), fällt der Energiebedarf der freigestellten Menschen doch nicht weg, aber die Digitalisierung benötigt für ihren Ersatz zusätzliche Energie. Wer stellt sie bereit? Ergänzende Gesichtspunkte wären Sicherheit und ganz allgemein die Resilienz der Strukturen, mentale Gesundheit, u.s.w. – Ich entsinne mich da an einen überflüssigen Spruch aus Politikerkreisen: „Digitalisierung first, Bedenken second“. Das ist noch schlimmer als lineares Denken!

Das weitverbreitete Denken in einfachen Abhängigkeiten ist fatal. Wenn A, dann B – dass es auch noch ein C und ein D gibt, wird gerne ausgeblendet. Die Ökonomie nutzt bevorzugt diese lineare Denkweise mit der Begründung, damit wäre der Relevanz Genüge getan. Und relevant ist einseitig und ausschließlich die Gewinnaussicht. Die Sichtweise anderer Wissenschaftszweige hält es für möglich, dass ein Flügelschlag eines Schmetterlings irgendwo auf der Welt über vielfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen (Wenn-Dann-Beziehungen) an anderer, weit entfernter Stelle einen Sturm auslösen kann. Es gibt Denksysteme, die das Leben ausschließlich aus Bedingungen gestaltet verstehen. Nichts besteht aus sich heraus. Irgendwo zwischen diesen beiden Extremen ist das Denken über künftiges Handeln des gestaltenden Staates angesiedelt ohne sich zu verzetteln.

Unser Denken ist viel zu oft monokausal (auf eine Richtung hin) fokussiert (z.B. auf Fortschritt, Wachstum, Wettbewerb, Maximierung) und verliert durch die einseitige Fokussierung wesentliche und notwendige Teile der natürlichen Komplexität der Wirklichkeit. Zudem sollte es sich doch um Wohlstand oder Gemeinwohl der Bürger drehen, also um ein noch komplexeres Ziel. Die gerichtete Fokussierung (in der Mathematik optisch repräsentiert durch den „Strahl“) kann ohne Frage erfolgreich sein (wie unsere Vergangenheit zeigt), solange man glaubt, es sich leisten zu können, die Kollateralschäden links und rechts der Spur systematisch auszublenden. Und im Ausblenden hat unsere Wirtschaftsform in den letzten siebzig Jahren ‚meisterliche‘ Fähigkeiten entwickelt. Darum türmen sich jetzt die Probleme. Vor diesem intellektuellen ‚Scherbenhaufen‘ von kumulierten Kollateralschäden stehen wir heute (manchmal fassungslos) und tun uns extrem schwer, unser zur Routine geronnenes abträgliches Verhalten zu ändern.

Die Monokausalität unseres Denkens ist insbesondere in der Ökonomie verbreitet. Dort ist es die Folge der starken Fokussierung auf das Geld als Grundlage jeden Wertvergleichs. Das ist aber nur ein Teil des Problems. Für die Verwendung des Geldes haben wir die Doktrin entwickelt: Ein Euro jetzt sei wegen des Zukunftsrisiko mehr wert als ein Euro morgen. Diese Doktrin zementiert die Kurzfristigkeit der ökonomischen Orientierung (vgl. auch WBGU, 2011, S.83) und blendet die Möglichkeiten einer Bewertung einer langfristigen Entwicklung systematisch aus. Verstärkt wird diese Haltung von der Vorstellung, man müsse die künftig zu erwirtschaftenden Liquiditätsüberschüsse abzinsen (diskontieren). Man tut bei den Bewertungsdetails so, als ob man der Zukunft große Bedeutung beimessen wollte, verkürzt dann aber über den Zinseszinseffekt der Diskontierung die Zukunft auf eine verlängerte Gegenwart.

Das Geld repräsentiert nach ökonomischer Auffassung den Nutzen einer Sache. Das setzt voraus, dass der Sache ein Preis zugewiesen wurde. Jeder Nutzen, der über keine Preiszuweisung verfügt, fällt folglich aus der gängigen Beurteilung heraus. Das gilt besonders für öffentliche Güter (Gemeingüter), die wir mangels eines Marktpreises regelmäßig ohne besondere Wertschätzung vernutzen. Wir müssen einen Weg finden, Wert auch wieder jenseits des Geldes definieren und wahrnehmen zu können.

Der WBGU hat die Idee der Leitplanken in die Diskussion eingeführt, die einen neuen „Betriebsrahmen“ für unser wirtschaftliches und soziales Handeln bereitstellen soll. Leitplanken sind nur denkbar, wenn auch Ziele existieren, auf die die Leitplanken hinleiten sollen. Gegenwärtig gelten die siebzehn Nachhaltigkeitsziele, die in Paris verabschiedet wurden (Sustainable Development Goals (SDGs)), als freiwillig verbindlich, d.h. immer dann, wenn es ‚zwickt‘, wird die Freiwilligkeit strapaziert und wenn es keine Widerspruch gibt, gelten sie als verbindlich. Die Wirkung, so scheint mir, ist wenig effektiv.

Die künftig geplanten Maßnahmen werden sich in unserem Lande auf die folgenden vier Bereiche oder „Megatrends“ konzentrieren:

  • Mobilität und Verkehr,
  • Wohnen und speziell Wärme,
  • Ernährung und Landwirtschaft sowie
  • Energieerzeugung und –verbrauch.

Die WBGU hat diese Megatrends neu gemischt und regt an, Energie, Urbanisierung und Landnutzung als die wesentlichen Aktivitätsfelder anzusehen, wobei wohl die Reihenfolge bewusst so gewählt ist.

Es fällt mir aber auf, dass in den umfangreichen Ausführungen der WBGU (2011) nirgendwo eine Alternative in der Rückführung unserer Überproduktion aufs Wesentliche oder die Idee einer Kreislaufwirtschaft explizit und systematisch aufgegriffen wird. Wenn es darum geht, zu bestimmen, was letztlich wesentlich ist, bin ich mir des hohen Anspruchs bewusst, aber wir rennen unverändert dem fatalen Gedanken des Wachstums als Heilsbringer hinterher, während viele Probleme sich m.E. mit heutiger Technik schlicht durch eine Reduktion aufs Wesentliche lösen lassen, wenn es sich denn sozial und politisch durchsetzen ließe. Es wäre überaus lohnenswert auch auf diesem Felde systematisch nach Lösungen zu suchen. Man gewinnt den Eindruck, dass die Doktrin eines unentbehrlichen Wachstums unser Denken hier komplett blockiert.

Die westlichen Volkswirtschaften sind bildhaft mit Fließbändern vergleichbar. Am Anfang des Bandes packen wir die Ressourcen darauf, veredeln und verarbeiten sie zu Produkten, bieten sie zum Gebrauch und Konsum an und dann kommt das Ende des Fließbandes: alles was darauf gepackt war, fällt letztlich als Müll vom Band. Davon werden ca. 20% recycelt und der Rest wird CO2-lastig verbrannt oder gar exportiert oder im Meer versenkt, damit auch die Fische an unserem ‚schönen‘ Müll partizipieren können. Da ist eine gedankliche Lücke bzw. ein blinder Fleck. Das läuft nicht einmal in der Theorie rund, wie soll es dann in der praktischen Umsetzung möglich sein?

Die ‚Natur‘ (oder unsere Umwelt) handelt als Ergebnis der Evolution in Kleinen wie im Großen bevorzugt in Kreisläufen und ist damit seit Jahrtausenden sehr erfolgreich. Der moderne Mensch meint, er könne diese Regeln ignorieren und hat es geschafft in knapp 250 Jahren sich selbst und seine Spezies auf längere Sicht in Frage zu stellen. Vielleicht sollten wir das dann ändern? Warum sind wir nicht innovativ in der Lage, uns diesem erprobten Verfahren schrittweise anzupassen. Darauf geben auch die Ausführungen der WBGU m.E. leider keine Antwort. Wenn unsere Zivilisation überleben will, wird uns die Umwelt mit unserer unilateralen ‚Fließband-Denke‘ trotz aller Innovation kaum eine Chance einräumen können, weil unsere Innovationen sich bedauerlicher Weise darauf beschränken, unsere ‚Fließband-Denke‘ zu optimieren statt sich darauf zu konzentrieren, das zugrunde liegende lineare Weltbild zu korrigieren.


[1] Die Zahlen hinsichtlich des Verbrauchs von Planeten schwanken. Die größte mir bekannte Zahl geht von sechs Planeten aus. Aber alles was über einen Planeten hinausgeht, ist rechnerisch irrelevant. Wir haben nur einen Planeten.

[2] Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), (2011), 

[3] Vgl. die Ausführungen in meinen Beiträgen vom 28.11.2021 und vom 14.12.2021.

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Politische Führung – gibt es sowas noch?

In den letzten dreißig Jahren gab es aus meiner Perspektive keine politische Führung. Das heißt nicht, dass wir führungslos waren, aber die Politik hat im Sinne von „Laissez faire“ nur dann Ansätze von Führung gezeigt, wenn der „Karren“ drohte, stecken zu blieben oder wenn sich des Wählers Unmut so artikulierte, dass die Wiederwahl der Führungsriege in Frage gestellt war.

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Es haben sich auch die Begrifflichkeiten gewandelt. Man spricht heute gerne von „Governance“ statt von „Führung“, aber erfolgreiche Governance ist in meinen Augen auch erfolgreiche Führung. Wir verbinden mit Führung oft Elitenbildung und versuchen, durch den anderen Begriff dem Phänomen der Führung einen eher demokratischen Touch zu vermitteln. Ob das wirklich hilft, erscheint mir fraglich.

Seit der Finanzkrise 2008/2009 begann sich die Auffassung von Politik langsam zu drehen, weil man gemerkt hatte, dass das Verhalten der „Märkte“ keiner Rationalität entsprach, die die Politik weiter tolerieren konnte.

Parallel zu den schmerzhaften Erkenntnissen vom Versagen der angeblich so idealen Finanzmärkte wurde immer deutlicher, dass unser ursprünglich auf die Ewigkeit gepoltes Wirtschaftssystem (‚ewiges‘ Wachstum bei unbegrenzter Maximierung von privaten Gewinnen) und die Klimakrise klar machten, dass dieser Planet ein solches Wirtschaftssystem nicht tolerieren wird. Diese Erkenntnis ist  zwar schon nahezu 50 Jahre alt, wurde aber geflissentlich überhört und übersehen. Das alles hat sein Ende gefunden. Aber der Neuanfang ist (noch) nicht zu erkennen.

Dann kam dieser verflixte Virus, der unsere gesamte Infrastruktur vor neue Probleme stellte und deutlich machte, dass wir nur mit äußerster Anstrengung den „Karren auf der Straße“ halten können. Neben den medizinischen Grenzen wurde auch deutlich, dass wir seit 15 oder mehr Jahren an der Digitalisierung herumdoktern, aber wenn es darauf ankommt, verlässliche Daten bereit zu stellen, versagt die Infrastruktur in weiten Teilen bzw. es stellt sich dann heraus, dass wir keine einheitlichen bundesweiten Referenzen besitzen, um die Maßnahmen sinnvoll zu steuern. Wir sind jetzt zwei Jahre in der Pandemie und müssen feststellen, dass wir immer noch vielfach mit Methoden arbeiten, die wir schon vor fünfzig Jahren angewendet haben als man Digitalisierung noch nicht einmal buchstabieren konnte.

Die Aufzählung sollte nun nicht dazu dienen, Nachweis zu führen, was alles möglicherweise falsch gelaufen ist. Das ist Vergangenheit und wir sollten großzügig sein. Es lag nur bedingt an den handelnden Personen, die sich, so mein Eindruck, tapfer geschlagen haben, um unter den gegebenen Umständen das Menschenmögliche zu erreichen. Mein Punkt ist, darüber nachzudenken, was wir hinsichtlich unseres bisherigen Verständnisses von politscher Führung ändern müssen, damit wir eine Chance sehen, die kommenden Herausforderungen auch einigermaßen sicher zu beherrschen.

Wir müssen uns hinsichtlich der politischen Führung von der Ideologie des „Laissez faire“ verabschieden. Es genügt nicht, zu führen, indem man einer liberalen Doktrin folgt, ohne sie regelmäßig zu hinterfragen, und nur versucht, als „moderierender Staat“ Reibungen zwischen der realen Welt und der Ideologie zu ‚verwalten‘. Die Aufgabe des „Laissez fair“ bedeutet  nicht, dass die politische Führung ihre Finger in alle Details steckt, sondern es bedeutet einen neuen Wirtschafts- und Sozialrahmen (ein neues „Spielfeld“) zu schaffen, der systemisch unsere Aktivitäten begrenzt und innerhalb der Grenzen, sogenannter Leitplanken, wird dann ein „Laissez faire“ u.U. wieder möglich. Der Aufbau dieses Rahmens wird aber nicht vom Himmel fallen, er muss politisch geschaffen und vermittelt werden. Die hier diskutierten Details zu dieser Erkenntnis stammen aus einem Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU), unter dem Titel „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“, veröffentlicht im Jahr 2011(!), also schon vor gut zehn Jahren, in denen kaum einer der ausgearbeiteten Vorschläge ansatzweise realisiert wurde.

In Kapitel 5 wird eine neue (andere) Form der politische Führung gefordert: „Dem Staat kommt eine bedeutende Rolle im Transformationsprozess zu. Damit Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Ressourcen und Potenziale einsetzen und Maßnahmen wie den Auf- und Umbau der Energieversorgung, die Neugestaltung städtischer Räume und die Veränderung der Landnutzung (Kap. 4) entwickeln, umsetzen und anwenden können, müssen Legislative, Exekutive und Judikative den hierfür erforderlichen Ordnungsrahmen schaffen bzw. ausfüllen und nicht nur rhetorisch-symbolisch die Entwicklung von Innovationen ins Zentrum rücken.“ (WBGU, 2011, S. 215)

Dabei macht der WBGU deutlich, dass die neue Form der politischen Führung hinsichtlich ihrer Legitimation mit einer erweiterten bürgerschaftlichen Partizipation austariert werden muss. „Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise (2007–2009) hat das Scheitern deregulierter Marktmechanismen nachdrücklich demonstriert. Gerade auch mit Blick auf die Umweltqualität zeigen sich die Nachteile deregulierter Marktmechanismen: Das Unvermögen von Unternehmen auf freien Märkten, die langfristigen Dimensionen ihrer Geschäftsmodelle und Technologieanwendungen im Blick zu behalten, macht umweltpolitische Regulierungen durch den Staat unumgänglich (Winter, 2010). Dabei muss man vor jeglicher Planungsillusion warnen. Der Staat kennt selbst nicht die besten Optionen, vielmehr muss er die in Unternehmen, in der Zivilgesellschaft und im politisch-administrativen System liegenden Potenziale aktivieren und sich dabei auch nicht länger – wie für pluralistische Verhandlungsdemokratien typisch – auf eine rein moderierende und nachsorgende Rolle beschränken. Ohne also die Risiken einer interventionistischen Politik zu unterschätzen und ohne einer neuerlichen Steuerungsillusion anzuhängen, regt der WBGU eine Weiterentwicklung des moderierenden zum „gestaltenden“ Staat an, der selbst eine proaktive Transformationspolitik betreibt. Dieses „Mehr“ an Staatlichkeit muss in einer Art neuem Gesellschaftsvertrag (Kap. 7.2) durch ein „Mehr“ an bürgerschaftlichem Engagement ausbalanciert werden. Kern dieses (fiktiven) Vertrags ist, dass er staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure im Blick auf Gemeinwohlziele und globale Kollektivgüter in ökologischer Zukunftsverantwortung mit Rechten und Pflichten versieht.“(WBGU, 2011, S.216)

„Der WBGU ist der Auffassung, dass es eines gestaltenden und zugleich aktivierenden Staatshandelns vor allem in den Bereichen der Klima-, Umwelt- und Energiepolitik bedarf und dass diese Politikfelder ins Zentrum einer neu verstandenen Wohlfahrtsstaatlichkeit rücken sollten. (…)

Zentraler Baustein eines solchen gestaltenden, innovationsoffenen Staates ist u. a. die innovationsfördernde Regulierung, so dass im Hinblick auf die drei Staatsgewalten zuvörderst das Handeln des Gesetzgebers erforderlich ist (Eifert, 2009). Hierzu könnte exemplarisch der deutsche Verfassungsgesetzgeber den Klimaschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufnehmen und zugleich statuieren, dass dieses Ziel insbesondere durch innovationsfördernde Regulierung erreicht und durch entsprechende Klagerechte gestützt werden soll. (…)

Staatliches Handeln soll darauf ausgerichtet sein, die Marktkräfte und das Engagement der Zivilgesellschaft im Dienste der Transformation zu nutzen und zu stärken. (..)“ (WBGU, S. 217).

Diese leicht dahin gesagten Sätze enthalten einen Paradigmenwechsel, weg von der Beschränkung politischer Aktivität auf die Moderation hin zur politischen Gestaltung. Wenn man die Sätze so liest, könnte man die darin verpackte „Bombe“ leicht übersehen. Mindestens eine Generation von Politikern kennt nichts anderes als Moderation. Das neue Ziel „Gestaltung“ stand bisher nicht auf ihrem Lehrplan.

Zudem wird immer nur von mehrheitlich technischen Innovationen gesprochen als ob das ausreicht, um das Ziel zu erreichen. Von Befreiung von Überfluss, von Veränderung des Verhaltens und ggfs. die Reduktion des Outputs aufs Wesentliche als Kennzeichen von Nachhaltigkeit wird nicht gesprochen. Der Wandel wird aber ohne derartige eher „unangenehme“ Sozial-Innovationen nicht vonstattengehen. Darüber zu sprechen erscheint gegenwärtig politisch eher nicht opportun.

Manche glauben, bürgerliche Partizipation würde sich auch durch Umfragen darstellen lassen. Das ist m.E. ein großer Irrtum. Die Mehrzahl der Bürgerschaft ist unzureichend informiert und bildet sich ihre jeweilige Meinung auf dieser extrem schmalen Grundlage. Kommt jetzt eine Umfrage, wird diese „Meinung“ kundgetan und führt u.U. zu Meinungsblasen, die in keiner Weise zu den anstehenden Problemstellungen Lösungsbeiträge darstellen können. Wenn wir Pech haben, wird dieser Unsinn dann auch noch mehrheitsfähig und damit politisch relevant. Solche Meinungen sind kaum wieder aus den Köpfen zu löschen (man denke an die Querdenker-Community).

Partizipation muss neue Wege gehen. Aus der Auswahl von Methoden gefiel mir die sogenannte „Auslosung“ (siehe den Beitrag bei ARTE 42: „Sollen wir losen oder wählen?“) besonders gut. Dabei wird eine überschaubare Zahl von Bürgern durch Los zufällig bestimmt und spiegelt im Idealfall die Schichtung unserer Bevölkerung wieder (u.U. besser als das gegenwärtige Parlament). Diese Bürger (Leute wie Du und ich) werden eingeladen, nehmen freiwillig teil (und werden für ihren ehrenamtlichen Beitrag letztlich auch entschädigt), nehmen an einem Workshop teil, indem sie mit der Problemlage und den vielfältigen Zusammenhängen vertraut gemacht werden. Das Informationsniveau zwischen den Probanden wird auf diese Weise weitgehend ausgeglichen. Danach folgen Gruppensitzungen in wechselnder Zusammensetzung, um Lösungsvorschläge für die anstehende Problemlage zu diskutieren und dann Mehrheitsentscheidungen zu den Lösungsvorschlägen in einem „Bürgergutachten“ zu dokumentieren und dem jeweiligen Parlament vorzuschlagen.

Ich war Teilnehmer einer solchen Veranstaltung auf Kreisebene und war überrascht, wie konkret und ernsthaft die (ehrenamtlichen) Bürger ihre Aufgabe wahrgenommen haben. Gegenüber Umfragen hat dieses Verfahren den Vorteil, dass nicht schlecht informierte Meinungen vervielfältigt, sondern gut informierte, ausdiskutierte und vielfach begründete Meinungen zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden. Das Verfahren hat den schrecklichen Namen „deliberativer Partizipationsprozess“, der von Prof. Peter Dienel (Universität Wuppertal) in den 1970iger Jahren formuliert und auch erfolgreich angewendet wurde.

Weiter bleibt die Frage, warum von staatlicher Seite nicht eine Verstärkung (etwas moderner: ein Empowerment) der Volkshochschulen erfolgt. Es reicht nicht, schlaue Bücher zu schreiben, die hoffentlich von der Politik gelesen werden (hier habe ich meine Zweifel). Der WBGU müsste in die Lage versetzt werden, Information und Bildung auf dem Felde der Transformation unter die „Leute“ zu tragen. Ich denke da auch an die Bundeszentrale für politische Bildung, die diese Aufgabe mit Vorträgen und verständlich gehaltenem Print-Material noch mehr unterstützen könnte.

Zum Schluss drängt sich natürlich die Frage auf, ob unser „Führungspersonal“ auf diese neuen Aufgaben ausreichend vorbereitet ist? Der gestaltende Staat braucht sicher auch Moderatoren, aber Moderation allein ist zu wenig. Es braucht Mut, Schwung, Zuversicht, Perspektive und ein gewisses Maß an intellektueller (und parteipolitischer) Unabhängigkeit, um neue Wege zu gehen. Viele unserer Politiker weisen einen Werdegang auf, der eher einer Ochsentour als einem „Weg zum Lichte“ gleicht. Die Ochsentour macht den Politiker angreifbar: wer viele Jahre in dem Politikbetrieb gearbeitet hat, gleicht oft einem Kieselstein – alle Ecken und Kanten sind abgeschliffen. Und plötzlich soll dieser jahrelang auf Moderation getrimmte „Kieselstein“ auch noch innovative Gestaltungsideen entwickeln? Wie soll das gehen? Hierzu schweigt auch das Gutachten der WBGU bei all den sonst so weitreichenden Überlegungen. Wo nehmen wir das passende Personal her? Die anstehenden Gestaltungsaufgaben sind umfassend und sehr komplex. Wie wäre es, hier temporär Fachkräfte oder Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft mit den Gestaltungsaufgaben zu betrauen bis eine neue Generation von Politikern herangebildet wurde, die sich auch erfolgreich auf den gestaltenden Staat als Handlungsmuster einzustellen versteht?

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Sind erweiterte politische Strukturen notwendig?

Wir müssen beobachten, dass die Idee der Demokratie immer häufiger von Autokraten in Frage gestellt bzw. unterlaufen wird. Dabei keimt der Verdacht auf, dass vielleicht gar nicht die Idee der Demokratie in Frage steht, sondern die Frage, wie Demokratie heute gelebt wird.

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Spiegelt das, was wir als politische Führung konkret erleben, den Gedanken einer „Herrschaft des Volkes“ angemessen wieder? Oder anders gefasst: die Welt verändert sich, müssen sich nicht auch die politischen Strukturen einer Demokratie daran anpassen? Dabei wäre eine Anpassung in Richtung auf die Autokraten grundverkehrt!

Der „Souverän“ soll durch das Parlament repräsentiert werden. Kann das Parlament diese Aufgabe leisten? Wir wählen zwar das Parlament, aber hat das Gremium den Wähler bzw. den „Bürger“ noch im Fokus, oder geht es bei der Diskussion dieses Gremiums nur noch um die Metaebene der sogenannten Marktgesellschaft, bei der die Mitglieder des Parlaments gebannt auf den Markt starren, ihre sozialen Erkenntnisse aus statistischen Durchschnittswerten beziehen, und ihre Maßnahmen aus einem ideologisch fehlerhaften Wirtschaftsverständnis herleiten. Mit den Belangen eines „Bürgers“ wissen die ‚Herrschaften‘ wenig anzufangen: Man diskutiert über Konsumenten, über Verbraucher, über prekäre Verhältnisse, über die Mobilität der Arbeitnehmer und glaubt damit die Lebensrealität der Bürgers erfassen zu können. Weiter glaubt man, dass die Interessen der Bürger durch das perfide Zusammenspiel der Lobbyisten mit ihren selektiven Informationsbereitstellungen und fragwürdigen „Handreichungen“ irgendwo ausreichend Berücksichtigung finden werden. Ich kann mich dieser Auffassung nicht anschließen.

Die Grundlage der Demokratie ist nicht der Verbraucher, ist nicht der Konsument, der Arbeitnehmer, der Unternehmer, der Kapitalanleger, sondern schlicht und einfach der Bürger. Hat unser Parlament noch einen Zugang zum Bürger? Er ist derjenige, der sie wählen soll. Wenn der Gedanke des Bürgers aber nur noch in der Verfassung Erwähnung findet und bei Wahlen strapaziert wird, reicht es nicht aus, dass sich das Wahlvolk mit dieser Demokratie identifizieren kann. Rund 25% der potenziellen Wähler nimmt das Angebot gar nicht mehr an. Da sind die Personen (über 13% der Bevölkerung) schon abgezogen, die aufgrund ihres Alters noch nicht wählen dürfen.

Wir laborieren seit mehreren Legislaturperioden an einer Parlamentsreform herum und die Egoismen der Parteien lassen eine praktikable Einigung nicht zu. Der interne und externe Lobbyismus ist zwischenzeitlich m. E. zu einer Geißel des Parlamentarismus geworden. Eine Vielzahl von Abgeordneten dienen zwei oder mehr Herren, einmal dem Souverän, der sie in die parlamentarische Funktion hebt, sie bezahlt und ihnen den notwendigen Einfluss ermöglicht und dann dient man noch als Lobbyist diversen Verbänden und Einrichtungen. Oder man ist „Unternehmer“, wie es der Abgeordnete Sauter anlässlich seiner Maskenprovisionen verlauten ließ. Als ob Moral teilbar wäre – als Abgeordneter spielt er den Moralapostel oder sollte zumindest Vorbild sein, um dann im Hinterzimmern genau das zu praktizieren, was ein verheerendes Licht auf die Funktion der „Unternehmer“ wirft. Der „Augiasstall“ muss mit einem eisernen Besen ausgemistet werden. Viele Bürger (und auch ich) trauen dieses Aufräumen aus eigener Kraft den Parteien nach all den Jahren nicht mehr zu.

Lobbyismus in eigener Sache

Gibt es eine Alternative? Ich denke ja! Dabei muss man das System des Lobbyismus mit seinen eigenen Methoden „schlagen“. Nicht, indem man sich der Seuche als Don Quichote entgegenstellt, sondern indem den Bürgern (und nicht dem Verbraucher, Konsument, Arbeitsnehmer u.s.w.) die rechtliche Möglichkeit gegeben wird, „Lobbyismus in eigener Sache“ zu betreiben. Wie geht das? Ich beziehe mich hier auf einen Beitrag von ARTE 42 mit dem Titel: „Sollten wir losen statt wählen?“[1], der eine Idee aus den 1970iger Jahren von Peter Dienel unter dem Namen „Die Planungszelle“ aufgreift und deren erfolgreiche Entwicklung bis in unsere Gegenwart verfolgt.

Der Kerngedanke dieses Ansatzes richtet sich gegen den Anspruch des Parlaments den Bürger oder das „Volk“ wirklich zu repräsentieren. Die Mehrzahl der Abgeordneten repräsentieren alles Mögliche, aber den Wähler und Bürger nur marginal. Eben gerade so viel, wie nötig ist, um noch von einer Repräsentation sprechen zu können. Das liegt auch daran, dass die Abgeordneten einer tausendfachen ständigen Einflussnahme durch die Lobbyisten ausgesetzt sind. Diese „Büchse der Pandora“ können wir m.E. nicht mehr schließen. Wer sollte es denn tun? Diejenigen, die dies qua Gesetz tun könnten, würden sich von ihren Pfründen abschneiden. Das wäre wohl ein zu hoher Anspruch. Wir müssen also den Weg des geringeren Widerstandes gehen.

Gesetzt den Fall, das Parlament oder die Regierung benötigt zu einem wichtigen politischen Gesichtspunkt ein reales Bild der Bürgerschaft, das nicht durch Medien oder seichte Umfragen konstruiert wird. Durch ein Zufallsverfahren (also per Los) werden z.B. 100 Bürger ausgewählt, die die Schichtung der Bürger in diesem Lande ziemlich präzise abbildet. Diese 100 „Auserwählten“ treffen sich real (Auge in Auge) an einem zentralen Ort, werden zuerst über alle Aspekte der Fragestellung umfassend informiert und setzen sich danach zusammen, diskutieren in wechselnden Kleingruppen ihre Erkenntnisse, um daraus mit fachlicher Unterstützung ein sogenanntes „Bürgergutachten“ zu erstellen, das öffentlich zugänglich sein muss.

Die Öffentlichkeit des Prozesses macht den gravierenden Unterschied zum professionellen Lobbyismus der Hinterzimmer und der besonderen Netzwerke aus. Dieses Gutachten müsste zudem Priorität vor allen anderen Lobbybeiträgen haben und das Parlament als auch die Regierungen von Bund und Land werden per Gesetz verpflichtet, öffentlich darüber zu beraten und müssen dazu dezidiert mündlich und schriftlich Stellung nehmen.

Wenn wir nun von einer Regierung ausgehen müssten, die diese unliebsame „Einmischung“ der Bürger gerne so gering als möglich halten möchte, so muss es möglich sein, dass auf Antrag von einer ausreichenden Anzahl von Bürgern die Legislative verpflichtet werden kann, hierzu ein Bürgergutachten einzuholen. Es ist ein ähnliches Verfahren wie beim Bürgerentscheid.

Kritisch bleiben die Informationsveranstaltungen, die die „Auserwählten“ sachlich auf Ballhöhe bringen sollen. Es muss sichergestellt werden, dass alle Beteiligten den gleichen Sachstand haben. Hier gibt es ein Einfallstor für Manipulationen. Da die Möglichkeit erfahrungsgemäß auch („gnadenlos“) genutzt werden wird, muss das ganze Verfahren öffentlich vonstattengehen und es muss gezielt auf Neutralität geachtet werden. Das Interesse zur Einflussnahme von Dritter Seite besteht schon deshalb, weil hinsichtlich der professionellen Lobbyisten keine Waffengleichheit besteht. Die „Auserwählten“ finden in jedem Fall das Ohr der Entscheider. Wenn es den professionellen Lobbyisten gelänge, hier „einzugrätschen“, wären die Folgen für das Ergebnis des Prozesses absolut kontraproduktiv.

Wissen oder Mehrheit

In der Pandemie ist ein politisches Dilemma offen zu Tage getreten: Folgt die Politik den wenigen, die wissen oder jenen vielen, die nicht wissen, aber die Mehrheit darstellen. Das Dilemma kann man als das Kernproblem politisch-demokratischer Führung nennen, weil Wahlen i.d.R. nicht durch Wissen sondern durch Mehrheiten entschieden werden. Und die Politik neigt aus Selbsterhaltungsgründen dazu, sich auf die Seite der Mehrheit zu schlagen, was insbesondere bei existenziellen Fragestellung (wie gegenwärtig die Bekämpfung der Pandemie oder künftig bei der Transformation der Gesellschaft zur Nachhaltigkeit) i.d.R. zu sachlich falschen Entscheidungen führt oder führen wird.

Politik ist machtverknüpft. Wenn die Macht fehlt, ist auch die Politik nicht mehr handlungsfähig. Deshalb liebäugelt sie immer mit der Macht der Mehrheit. Es war erfreulich, bei der letzten Wahl festzustellen, dass dieses alte Schema: „Weiter so“ offenbar seine Wirkmächtigkeit verloren hat und der Bürger sich mehrheitlich darüber im Klaren wurde, dass das keine wirkliche Alternative mehr darstellt. Das waren die Bürger und nicht die Verbrauer, Konsumenten, Arbeitsnehmer, u.s.w., denn wenn sie auf diese schmalspurige Identität reduziert werden könnten, hätten sie das „Weiter so“ wohl mehrheitlich akzeptiert.

Wenn der Bürger als Ganzes eben doch ein wesentlicher Faktor in der Politik geblieben ist, wäre die nächste Frage, wie man im Rahmen von schwierigen politischen Führungssituationen auf die Stimmung und Meinungen (und mehr ist es leider bei Wahlen nicht) erfolgreich Einfluss nehmen kann ohne dass Institutionen wie ‚Analytica‘ sowie Werbe- und Marketingagenturen die Köpfe der Mehrheit durch Manipulation und psychologische „Kriegsführung“ zu etwas bewegen können (denken Sie an „Brexit“ oder „Trump“), das im Grunde mittel- und langfristig zu ihrem Nachteil sein wird. Die Lösung sehe ich in dem Instrument des „Lobbyismus des Bürgers in eigener Sache“ (siehe oben) bzw. in der Umsetzung der Idee der Planzellen (Peter Dienel) und deren Weiterentwicklungen.

Die schwierigen Fragen werden einem wechselnden (ausgelosten) Bürgergremium vorgelegt, es werden die notwendigen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgetragen und dieses (ausgeloste) Gremium arbeitet ein Bürgergutachten aus, dass dann in den Medien (z.B. Fernsehen) publikumswirksam zur Diskussion gestellt wird. Es können durchaus mehrere parallele Veranstaltungen zu unterschiedlichen Fragen stattfinden, aber bitte keine Überforderung des Spaßpotenzials. Dann wird es wieder fad.

Die Veranstaltungen müssen professionell geführt werden und den Zuschauer durch Spannung gefangen nehmen. Damit wird auch den klassischen Manipulationen der Boden entzogen. Es wird schwer werden, gegen die Macht des Bürgerlobbyismus, der den Sachverhalt und die notwendigen Entscheidungen in einfacher Sprache so darstellt, dass Wissen und Knowhow der Zuschauer aus der Diskussion erwächst und sich dadurch eine zureichende „Urteilskraft“ (Kant) bei einer Vielzahl von Wählern einstellt. Je mehr „Urteilskraft“ erzielt wird, desto weniger fallen die Bürger auf die manipulativen „dummen Sprüche“ der Gegenseite herein. Der Begriff “Urteilskraft“ ist nicht zu verwechseln mit „Urteilsfähigkeit“. Fähigkeit ist die Möglichkeit zur Erkenntnis, Urteilskraft geht darüber hinaus und bezieht konkret auch die Fähigkeit zur Umsetzung ein.

Angesichts der großen Aufgabe, unsere Gesellschaft und Wirtschaft zur Nachhaltigkeit zu führen, ist es ganz wichtig, eine offene Kommunikation mit den Bürgern zu suchen. Der Kreis der wechselnden „Auserwählten“ (die jeweils ausgelosten Bürger) kann dabei den Nukleus bilden, um daraus einen ständigen und interessanten Austausch zwischen dem „Wissen“ und dem „Meinen“ und letztlich auch „Wählen“ herzustellen. Nur so kann es eine Chance geben, einen Großteil der Nicht-Beteiligten zu erreichen und mitnehmen zu können und die unvermeidlich „uninformierten Meinungsträger“ in Grenzen zu halten.


[1]  https://www.arte.tv/de/videos/101941-006-A/42-die-antwort-auf-fast-alles/  (aufgerufen 24.11.2021)

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