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Ein etwas anderer Ansatz (I)

Erwarten Sie keine neuen Erkenntnisse. Alles, was in den folgenden Zeilen als Information aufgegriffen wird, ist bekannt. Es wird gemeinhin aber über ein Narrativ vermittelt, das uns von der Realität in irgendwelche Wunschvorstellungen führt, die m.E. selbst bei größtem Optimismus keine wirklichen Lösungsbeiträge bereithalten:

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Es gibt keinen Zweifel mehr, wir (die Menschheit) verbrauchen mehr als uns auf lange Sicht unser Planet zur Verfügung stellen kann. Es gibt unterschiedliche Zahlenangaben, wieviele „(Erd-)planeten“ wir gegenwärtig mit unserem Lebensstil verbrauchen. Es gibt Aussagen für Europa, dass deren Verbrauch etwa 2,8 Planeten entspricht; es gibt Aussagen für die USA, sie lägen bei fünf Planeten. Die Aussagen sind unterschiedlich, weil sich die Frage ergibt, auf welcher Basis hierbei gerechnet wird: global, regional, pro Kopf, pro Nation, pro Kontinent, in Tonnen CO2 oder in Hektar verbrauchter Bodenfläche.

Nun ist es nicht so, dass für alle Länder oder Nationen der Erde die gleichen Werte gelten. Die sogenannten entwickelten Länder liegen, global gesehen, weit über dem Mittelwert und die sogenannten unterentwickelten Länder deutlich darunter. Die Schwellenländer produzieren gegenwärtig hohe Zuwächse, die man üblicher Weise mit einer einfachen pro Kopf Rechnung schnell wieder zu relativieren versucht.

Gehen wir von einem globalen Verbrauch von 1,7 Planeten aus, so täuscht diese Zahl, weil unserem (westlichen) Überverbrauch viele Länder gegenüber stehen, die deutlich unter dem Verbrauchsdurchschnitt liegen und den westlichen Überverbrauch teilweise kompensieren. Wenn wir also meinen, unser Verbrauch müsse ja „nur“ um rd. 41 Prozent (1,7 -> 1 Planeten) reduziert werden und schon wären wir auf dem globalen Verbrauchsniveau von einem Planeten, täuscht sich. Der Fußabdruck eines durchschnittlichen deutschen Bürgers liegt in der Größenordnung von 8 – 11 ha/p. P. bei einer Zielgröße von etwa 1,5 – 2 ha/p. P. (= ca. 1 Planet bei globaler Gleichverteilung). Das ist unbestreitbar eine gewaltige  Herausforderung!

Parallel wollen aber (verständlicherweise) die Länder mit dem unterdurchschnittlichen Verbrauch „wachsen“, d.h. sie wollen sich mindestens dem gegenwärtigen Durchschnittsverbrauch annähern. Das hat zur Folge, dass unsere Anstrengungen unseren Verbrauch zu senken, über das jetzt erkennbare Niveau wohl deutlich hinausausgehen müssen.

Wenn wir dieses Bild vor Augen haben, dann müssen wir uns die Frage stellen, drehen wir mit all den gegenwärtig angewandten Methoden an den richtigen „Schrauben“, um das Problem zu lösen? Ist das Predigen von Nachhaltigkeit ein angemessener Ansatz? Wollen wir wirklich „nachhaltig“ auf 1,7 Planeten verharren? Nachhaltigkeit ist zweifelsohne hinsichtlich der Fristigkeit und der Qualität des Handelns ein wichtiger Aspekt, aber doch erst dann, wenn wir den Verbrauch auf einem Planeten reduziert haben. Es ist auch sinnvoll Nachhaltigkeit bei einem auf Kurzfristigkeit orientierten Überfluss zu fordern, aber er löst in keiner Weise die notwendige Verbrauchsreduzierung.

Ist die Klimakrise der richtige „Kriegsschauplatz“, damit die Bürger über eine Einsparung von CO2 auch Maßnahmen akzeptieren, die uns von einem Verbrauch von 1,7 auf einen Verbrauch von nur einem Planeten reduzieren soll? Die Einsparung von CO2 ist keinesfalls falsch, aber ist sie die richtige „Schraube“, an der wir drehen, um innerhalb eines Zeitrahmens von einer Generation den Verbrauch auf einen Planeten zu reduzieren? Und die Zeit wird mit jedem verlorenen Jahr knapper, um die unbestreitbar auftretenden Schäden und notwendigen „Reparaturen“ in finanzierbaren Grenzen zu halten.

Haben Politik, Wirtschaftswissenschaft und die Vertreter der Wirtschaft wirklich verstanden, dass Wachstum in den (westlich geprägten) Überschlussgesellschaften des Planeten überhaupt kein Argument sein kann, wenn wir uns systematisch auf den Verbrauch eines Planeten einstellen bzw. beschränken müssen? Es gibt hier keinen Plan B! Selbst wenn wir die Problemlösung auf die kommenden Generationen verschieben wollten, die Schadenhäufigkeit und der Schadenumfang nehmen nach allem, was wir wissen, mit jedem Jahr zu. Mit der Natur kann man nicht verhandeln!

Wir müssen uns aber auch vor Augen führen, dass eine Gesellschaft, deren Paradigma in den letzten Jahrzehnten von Individualismus, Erfolgsverherrlichung und Wachstum geprägt ist, sich nur schwer mit dem Gedanken einer Reduktion abfinden kann oder will. Zur Reduktion braucht es Solidarität, Ein- und Rücksicht, und ein Konzept (Narrativ), das die Reduktion als „Erfolgsmodell“ zu verkaufen in der Lage ist. Dabei haben wir viel zu lange das Heil im Wachstum gesehen. Es hat vielen Menschen Zuversicht und Zukunft vermittelt. Aber dieses Heilsversprechen aufrecht zu erhalten, erweist sich als undurchführbar. Und das muss in die Köpfe der Bürger dringen!

Wenn ich mir vorstelle, was Werbung und Marketing in Bezug auf das Konsumverhalten mit unseren Gehirnen macht, bin ich zuversichtlich, dass auch der Paradigmenwechsel gelingen kann. Das Problem stellen die erfolgsgewohnten Schichten dar, die ihr Selbstverständnis zum einem großen Anteil aus dem Konsum ziehen. Reduktion bedeutet ihnen u.U. so etwas wie Aufgabe eines Stücks ihrer Identität.

Die Gesellschaft, also wir, müssen akzeptieren lernen, dass wir uns komplett verrannt haben und ein Paradigmenwechsel aufgrund der fatalen Auswirkungen auf unsere Lebensgrundlagen unabdingbar wird. An dieser Aufgabe wird zweifelsohne wissenschaftlich gearbeitet, aber selbst wenn die Sozialwissenschaft kurzfristig hier so etwas wie einen Durchbruch erzielen, die Politik und auch die Wirtschaft müssen die Erkenntnisse aufgreifen, die Konsequenzen verstehen und umsetzen. Ob das gegenwärtige Demokratieverständnis diesen Vorstoß aushält, bleibt abzuwarten. Umso wichtiger ist es, diesen Schritt politisch strategisch vorzubereiten wie eine gutgemachte Marketingstrategie. Eigentlich muss die Strategie besser sein als das landläufige Marketing.

Die Wirtschaft, die heute noch vom Wachstumsgedanken lebt, macht uns die Gehirnwäsche täglich vor: Eine Wirtschaft ohne Wachstum?  Das bedeutet ein Rückfall in die Steinzeit! Und wir wollen natürlich nicht in Höhlen wohnen, da sind wir uns ganz sicher! Aber es gab eine Wirtschaft vor dem Neoliberalismus und es wird auch eine Wirtschaft nach der Reduktion geben. Aber es wird eine andere Wirtschaft sein – eher versorgungsorientiert und nicht so stark geldfixiert.

Viele Wirtschaftsvertreter hoffen auf eine globale Klima-Aktion in der Erwartung, dass diese globale Einigung nie stattfinden wird. Bis sich der letzte Nationalstaat zur Reduktion auf globaler Ebene entschlossen hat, wird es zu spät sein. Die Handlungsmacht muss bei den Nationalstaaten oder bei ihren Zusammenschlüssen wie der EU liegen. Die Staaten, die handeln, müssen sich durch Ausgleichzölle gegen jene abgrenzen können, die nicht mitziehen wollen (und letztlich auf ein ungerechtfertigtes Schnäppchen hoffen). Der jeweilige ökologische Ansatz des Nationalstaates muss durch Ausgleichszölle abgesichert werden.

Die Gegner werden viele sein, weil die Umstellung auf den ökologisch vertretbaren Verbrauch von einen Planeten eine große Zahl von bestehenden Geschäftsmodellen in Frage stellen wird, insbesondere jene Geschäftsmodelle, deren Ziel nicht (in einem weitreichenden Sinne) der Versorgung der Bevölkerung zu sehen ist.

Es gibt zahllose wissenschaftlich basierte Ausarbeitungen, die sich mit Fragen beschäftigt, was wir alles ändern müssen, um unsere Aktivitäten auf den einen Planeten zu konzentrieren. Meine letzten Beiträge verweisen auf eine kleine Auswahl solcher Ausarbeitungen. Es fehlt aber an gut begründeten Ausarbeitungen, wie wir unsere MitbürgerInnen für diesen Schritt begeistern können, um eine ausreichend Zustimmung zu dieser „großen Transformation“ zu erhalten. Wir stehen (möglicherweise) vor einem Jahrhundertsprung und müssen auf irgendeine Weise die Gehirne und Herzen unserer Mitbürger gewinnen, damit sie freiwillig diese Transformation unterstützen, mindestens aber tolerieren. Dieses „Wie?“ sollte aber nicht in englischsprachigen Wissenschaftsartikeln dargestellt und diskutiert werden, sondern das „Wie?“ muss in ein verständliches Narrativ verpackt werden, das die Köpfe und Herzen berührt. Auftraggeber hierzu könnte die Bundesregierung oder eine interministerielle Arbeitsgruppe sein. Hier ist noch viel Spielraum, aber die Zeit drängt!

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Der etwas andere Ansatz (II)

Jetzt machen wir einen gedanklichen Sprung und tun so, als ob wir das Ziel, unseren globalen Verbrauch an die Vorgabe von einem Planeten anzupassen, erreicht hätten. Wir haben es also geschafft, uns realistisch auf den Verbrauch auf Basis von einem Planeten zu reduzieren. Was glauben Sie, wird diesen Kraftakt möglich gemacht haben?

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Die Nachhaltigkeit, die Klimaneutralität, die erneuerbaren Energien, Künstliche Intelligenz oder technologische Zaubertricks? Oder schlicht ein strikter Weg in die Suffizienz (in die Reduktion)?! Wir werden unsere Ansprüche auf das herunterfahren müssen, was für den Planeten verträglich ist[1]. Das ist eine extrem abstrakte Aussage, aber egal, was Politik und Wirtschaft an Ausweichmanöver[2] in die Welt setzen: am Ende gilt als erste Priorität: Reduktion!

Es bleibt nur die Frage, wer oder was wird uns die Genügsamkeit lehren. Ich empfinde die durch die russische Kriegserklärung ausgelöste Energiekrise als eine Ironie des Schicksals. Wir reden seit 50 Jahren über eine Energiewende und bekommen nichts auf die Reihe, was das virulente Energieproblem lösen könnte. Dann wird aus Gründen geopolitisch absehbaren Machtspielchen der Gashahn zugedreht, und plötzlich bewegt sich was: Helle Aufregung – kein Plan B, jetzt wird ad hoc alles in Bewegung gesetzt, um den Energieverbrauch zu reduzieren und neue Quellen aufzutun.

Wir fahren also eine Politik der Suffizienz (auch wenn wir sie nicht so nennen). Bis zu zwanzig Prozent Einsparung und mehr erhofft man sich in Deutschland, in der EU eine Einsparung von 15 Prozent. Unter uns gesprochen: hätte die Politik und die Wirtschaft diesen seit Jahrzehnten notwendigen Schritt ohne den geopolitischen Anlass erwogen, es wäre nicht vorstellbar oder die Regierung wäre innerhalb weniger Tage aus dem Rennen geflogen. Das ist im Grunde ein Armutszeugnis für unsere Regierungsform. Erst durch einen extern geschaffenen Sachzwang werden Regierung und Wirtschaft nun gezwungen das Notwenige zu tun und eine Mehrheit der Bürger signalisiert der handelnden Regierung ihre Zustimmung. Also geht doch was! Es kommt offensichtlich auf das begleitende Narrativ an.

Bleiben wir gedanklich in der Zeit, in der wir unseren Verbrauch an den einen Planeten angepasst haben. Beginnen wir dann wieder, unbelehrbar wie wir sind, „Gas“ zu geben, und Wachstum zu produzieren? Oder müssen wir erkennen, dass Wachstum keine wirkliche Lösung mehr darstellt. Wachstum ist dann ggfs. regional und temporär vorstellbar, aber eine Wirtschaft auf Wachstum auszurichten und zu hoffen, die Mehrzahl der sozialen Fragen über den sogenannten „Trickle down“ – Effekt lösen zu können, ist nicht mehr realistisch.

Der Planet mit seinen ökologischen Restriktionen wird die natürliche Grenze allen Wirtschaftens bestimmen. Das wird politisch wohl nicht mehr durch Moderation, sondern nur noch durch Gestalten umzusetzen sein. Wir sind dann dort angekommen, wo Herman E. Daly eine „Steady State Economy“ ins Gespräch bringt. In einer Steady-State Economy (SSE) herrscht ein fließendes Gleichgewicht der Leistungs- und Geldströme. Wachstum ist die Ausnahme und muss durch ein Schrumpfen an anderer Stelle ausgeglichen werden.

Aus heutiger Sicht ist es schwierig, konkrete Aussagen zum SSE zu machen. Es wird sich ein genereller „Mind-Shift[3]“ (ein Paradigmenwechsel) vollziehen müssen, der viele Sachverhalte in einer neuen Perspektive präsentiert. Herman E. Daly glaubt plausibel machen zu können, dass nachfolgende Aspekte erhalten bleiben[4] Seine Ausführungen sind im Folgenden sinngemäß dargestellt, aber stark verkürzt:

  1. Der künftige Ressourcenverbrauch wird über einen Zertifikate-Handel gesteuert. Der Verbrauch erfolgt in Quoten und wird gedeckelt in Anhängigkeit von der Erschöpfung oder der Verschmutzung. Durch die Versteigerung der Quoten werden Knappheitsrenten für eine gerechtere Umverteilung erzielt. Der Handel ermöglicht eine effiziente Zuordnung zu den gewünschten Verwendungszwecken. Diese Vorgehensweise erscheint transparent und nachvollziehbar. Es wird deutliche Grenzen für die Erschöpfungsrate der jeweiligen Ressource und den Grad der Verschmutzung geben, die die Wirtschaft dem Ökosystem auferlegen darf.
  2. Ökologische Steuerreform – Verlagerung der Steuerbemessungsgrundlage von der Wertschöpfung (Arbeit und Kapital) hin zu „dem, zu dem Wert hinzugefügt wird“, nämlich dem entropischen Durchsatz von Ressourcen, die der Natur entnommen (Abbau) und der Natur wieder zugeführt werden (Verschmutzung). Dadurch werden externe Kosten internalisiert und Einnahmen gerechter erhoben.
  3. Begrenzung der Ungleichheit in der Einkommensverteilung. Ohne aggregiertes Wachstum erfordert die Verringerung der Armut eine Umverteilung. Es werden faire Grenzen für die Bandbreite der Ungleichheit angestrebt. Der öffentliche Dienst, das Militär und die Universität kommen mit einer Spannweite der Ungleichheit von Faktor 15 bis 25 aus. Manche Industrienationen liegen unter 25.
  4. Erweiterung der Möglichkeiten für Teilzeit- oder Home-Arbeit. Ohne Wachstum ist eine externe Vollzeitbeschäftigung für alle schwer zu schaffen. Die Flexibilisierung richtet sich primär nach den Bedürfnissen der Arbeitnehmer.
  5. Regulierug des internationalen Handels – Begrenzung des Freihandel, der Kapitalmobilität und Globalisierungsbestrebungen. Einführung von Ausgleichszöllen, nicht um ineffiziente Unternehmen zu schützen, sondern um sicherzustellen, dass eine effiziente nationale Politik der Kosteninternalisierung vor standardsenkendem Wettbewerb geschützt wird.
  6. Herabstufung des IWF-WB-WTO zu so etwas wie Keynes‘ ursprünglichem Plan für eine multilaterale Zahlungsverrechnungsunion. Sie erhebt Strafzinsen sowohl auf Überschuss- als auch auf Defizitsalden der Nationen – Ziel ist das Streben nach Ausgleich auf Leistungsbilanz und dadurch Vermeidung hoher Auslandsschulden und Kapitaltransfers.
  7. Die Kontrolle der Geldmenge muss wieder in den Händen der Regierung liegen und nicht mehr in Händen privater Banken. Letztere werden damit nicht mehr in der Lage sein, Geld aus dem Nichts zu schaffen und es gegen Zinsen zu verleihen.
  8. Vermeidung von künstlicher Verknappung. Schutz der verbleibenden Commons (Gemeingüter) des rivalisierenden Naturkapitals (z. B. Atmosphäre, elektromagnetisches Spektrum, öffentliches Land, Wasser) durch Überführung in öffentliche Trusts und Bepreisung der Gemeingüter im Rahmen eines gedeckelten Zertifikate-Handelssystem oder durch Steuern
  9. Stabilisierung der Bevölkerungsentwicklung. Es ist ein Gleichgewicht anzustreben, in dem Geburten plus Einwanderer gleich Todesfälle plus Auswanderer entsprechen. Das ist umstritten und schwierig, aber zunächst einmal sollte Verhütung überall zur freiwilligen Anwendung angeboten werden.
  10. Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ist zu reformieren – das BIP ist in eine Kostenrechnung und eine Leistungsrechnung aufteilen. Vergleichsmaßstab ist der Saldo beider Buchhaltungssysteme.

Wenn Daly mit den zehn Punkten im Wesentlichen richtig liegt, wird es für Großkonzerne schwierig, Märkte zu finden, die ihren Massendurchsatz aufnehmen können. Der Arbeitsmarkt wird schrumpfen, damit wird der Massenkonsum zurückgehen, weil das Masseneinkommen geringer wird. Nicht umsonst gibt es auch in Arbeitgeberkreisen Arbeitsgruppen, die sich mit Formen eines bedingungslosen Grundeinkommens befassen. Das Ziel ist dabei nicht soziale Gerechtigkeit, das Ziel ist die Erhaltung der Massenkaufkraft und damit des Umsatzes für die Produzenten. Die Finanzierung wird sicherlich noch ein Streitpunkt werden. Wenn der Arbeitsmarkt schrumpft, könnte sich ggfs. die Wochenarbeitszeit reduzieren, um mehr Beschäftigung zu schaffen. Niko Paech[5] sieht in der Verringerung der Arbeitszeit mehr Freizeit, aber auch weniger Einkommen. Hier trifft er sich mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Mit wachsender Freizeit könnte die Wahrnehmung von ‚Subsistenz‘ dazu führen, dass mehr Reparaturen, mehr Ehrenamt, mehr soziale Fürsorge u.a. in den Vordergrund rückt. Wettbewerb ohne systematisches Wachstum verliert seinen ‚Drive‘. Kooperation wird den Platz des Wettbewerbs einnehmen und wir werden feststellen können, dass Innovation kein Ableger des Wettbewerbs ist, sondern auf Kooperation aufbaut. Es bleibt spannend!


[1] Vgl. in diesem Blog auch: „Ist Wirtschaften unter „steady state“ möglich (13.04.2021)“; und: „Wachstum, „steady state“ und Finanzen“ (28.04. 2021)“.

[2] „Wir müssen uns dringend ehrlich machen. Wenn wir so weitermachen ist das klimaneutrale Bayern 2040 eine Politshow zur Beruhigung der Bevölkerung” (GF der VBEW), in: SZ v. 27.7.2022, S. R9

[3]  Vgl. Maja Göpel, The Great Mind-Shift, 2016

[4] Vgl. H. E. Daly, Vortrag: From a Failed Growth Economy to a Steady-State Economy. 2009,

[5] Vgl. N. Paech, Befreiung vom Überfluss, München, 2012;

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Der ‚System Change Compass‘ – ein Wegweiser oder ein Ansatz zur Veränderung?

Soweit ich es überblicke, wirft die ins Auge gefasste Transformation unserer Gesellschaft zur Klimaneutralität mindestens folgende Problemkreise auf:

Es ist üblich, dass man das Ziel einer eingeleiteten Transformation hinreichend beschreiben kann. wenn man Strukturveränderungen anstößt. Das gelingt im Falle der Klimaneutralität nur bedingt, weil wir noch nie in der jüngeren Geschichte unserer Gesellschaft so etwas wie ‚Klimaneutralität‘ erreichen mussten. ‚Klimaneutralität‘ ist also bestenfalls ein Symbol oder eine Ersatzbeschreibung für einen Zustand, den wir zwar erreichen wollen, von dem wir aber nicht konkret wissen, wie er letztlich aussieht und wann er denn erreicht sein wird.

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Es gibt weitreichende Ausarbeitungen über die Punkte, die aus unserer heutigen Sicht auf die Klimaneutralität hin zu bearbeiten bzw. zu ändern wären. Anführen möchte ich hier nur den etwas älteren Ansatz der ‚Doughnut-Economy‘ von Kate Raworth[1](2017), und inbesondere den jüngst erschienenen „International System Change Compass“ des Club of Rome in Zusammenarbeit mit Open Society European Policy Institute und SystemIQ (2022)[2]. Deren Ausarbeitung entwickelt einen detaillierten „Compass“, der den anstehenden Prozess auf insgesamt dreißig „Wegweiser“ herunterbricht, um die Transformation erfolgreich umzusetzen (Einzelheiten siehe unten). Jeder Angriffspunkt umfasst die Aufforderung zu einer „Neudefinition“ eines heute schon bekannten Gesichtspunktes.

Man könnte den „Compass“ auch als eine umfassende „TO-DO-Liste“ verstehen, wobei offen bleibt, wer denn nun die Aufgabe übernimmt oder übernehmen soll, diese TO-DO-Liste abzuarbeiten. Die anstehenden Aufgaben sind für ein politisches „Manifest“ erstaunlich konkret. Man sollte aber nicht vergessen, wie der Prozess gestaltet werden muss, damit nicht nur ein „Neudefinition“ von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Grundannahmen auf dem Papier erfolgt, sondern auch einen Weg finden, wie diese notwendigen Verschiebungen von gesellschaftlich zu teilenden Werten das Verhalten der Bürger beeinflussen.

Die Ausarbeitung zum International System Change Compass, so mein Eindruck, beantwortet detailliert, was notwendiger Weise  getan werden muss. Wer dabei in der Verantwortung stehen und den Prozess vorantreiben soll, bleibt merkwürdigerweise offen. Offen ist auch die Frage nach dem „Wie“. Wie sollen denn die Neudefinitionen gefunden werden? Am Ende steht doch die Frage, wie sollen die Ergebnisse (die Neudefinitionen) dann mehrheitsfähig werden? Ohne eine Blaupause oder einen konkretisierenden Vorschlag vonseiten der Wissenschaft wird sich die Politik in einem verhängnisvollen Wettbewerb um den kleinsten gemeinsamen Nenner verzetteln. Das könnte eine fundierte Ausarbeitung der Wissenschaft verhindern bzw. deutlich beschränken.

Der Aufbau des ‚Compass‘ lässt eine Strategie erkennen. Es geht nicht darum, dreißig Aspekte simultan zu ändern. Die Autoren haben versucht, nicht mit einer „Schrotbüchse zu schießen“, sondern haben ihre Aspekte drei Gesichtspunkten untergeordnet:

  1. Funktion und Zielvorstellung des Systems: Aspekte 1 – 3
  2. Entwerfen und Implementieren von Interventionen: Aspekte 4 -7
  3. Mobilisierung und Unterstützung von Akteuren: Aspekte 8 – 10

Bei der Zielvorstellung des Systems geht es um eine Neufassung dessen, was wir künftig unter Wohlstand verstehen, wie wir grundsätzlich den Gebrauch von natürlichen Ressourcen regeln und was wir künftig unter Fortschritt verstehen wollen.

Erst dann werden mögliche Interventionen entworfen und implementiert. Die Zielvorstellungen werden den Definitionsraum möglicher Interventionen bestimmen und ggfs. auch einschränken. Die bisher verwendeten Kennzahlen müssen neugefasst, Wettbewerb differenzierter bestimmt, unsere Subventionen und Anreize als auch unsere Art des Konsumierens müssen elementar verändert werden.

Dann erst wird es sinnvoll, die Beteiligten und Betroffenen zu mobilisieren und zu unterstützen, weil hoffentlich die Ziele bestimmt und die Rahmenbedingungen geschaffen sind. Es gilt jetzt, die Finanzierung der Transformation entsprechend der Ziele zu gestalten, die privaten und öffentlichen Verwaltungssysteme den neuen Ansprüchen anzupassen und die Form der Führung (ggfs. eher als Gestaltung) neu zu definieren.

Der Vorschlag gefällt mir, er würde zu meiner Vorstellung des Prozesses gut passen, wenn da nicht immer wieder die „Praxis“ dazwischen käme. Der Aufbau ist m.E. logisch nachvollziehbar und sachlich angemessen, aber jeder der Schritte baut auf dem vorhergehenden auf, mit anderen Worten, bevor die Zielbestimmung nicht fertig ist, werden wir keine Interventionen entwickeln, u.s.f.. Die Studie zum „System Change Compass“ sagt nichts über die mögliche Zeitschiene aus und diskutiert diese vorgesehene Ablaufstruktur und ihre möglichen Defizite auch nicht. Wenn es gelingt, den Abschnitt A durch zahllose, aber nichtssagende Einwendungen zu blockieren, ist der ganze Prozess in Gefahr. Und man sollte immer den ‚Schwarzen Schwan‘ (N. Taleb) im Blick behalten.

Durch diesen strikten kaskadenähnlichen Ablauf ergibt sich automatisch die Frage, wer steuert den Prozess? Es ist doch klar, dass ein solch durchstrukturierter Prozess einen Kopf oder ein Gremium benötigt, um im ersten Schritt zu moderieren und zum Ende der Fahnenstange auch gestaltend entscheiden zu können, wann der Prozess A abgeschlossen ist, damit der Prozess B beginnen kann.

Wer sind die Teilnehmer an diesem Prozess?  Oder besteht die Absicht, diesen Prozess in einen „breiten gesellschaftlichen Dialog“ zu überführen, mit der Folge, dass das Projekt am besten gar nicht eröffnet werden sollte.

Die Erfahrungen mit dem sogenannten „breiten gesellschaftlichen Dialog“ sind niederschmetternd. Der Sachverhalt ist deshalb anzusprechen, weil es in der Politik offensichtlich ein sehr beliebtes Mittel darstellt, um unangenehme Diskussionen unauffällig im Sande verlaufen zu lassen. Der Prozess kommt nie an sein Ende, also passiert auch nichts!! (Beispiele sind die Tobin-Steuer auf Finanzmarktumsätze, die Occupy-Bewegung für eine faire Regulierung der Finanzbranche, usw.) „Leider droht das gleiche Schicksal einer Klimabewegung, die auf Vernunft und zivile Einsicht im breiten Dialog setzte. Aber gute Ideen setzen sich nicht per Dialog alleine durch, sei er noch so breit und hoch bis zu den Augen. Sie setzen sich durch, indem sie eine Gesetzesform annehmen, …[3]“ Es braucht eine Institution, die sicherstellt, dass der Prozess eine hinreichende Struktur bekommt. Soweit ich mich erinnere, ist der ‚European Green Deal‘ eine Absichtserklärung der EU-Kommission, also weit entfernt von einem institutionellen Rahmen mit Durchsetzungsbefugnis.

Es wäre wünschenswert, dass die Arbeit am System Change Compass nicht in Hinterzimmern stattfindet, sondern über ein nachvollziehbares System der Bürgerbeteilung erfolgt, die sicherstellt, dass der EU-Bürger repräsentiert wird und nicht (wie so oft) wenige einseitig wirtschaftliche Interessen den Prozess bestimmen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der „Compass“ mit seinen zahlreichen Neudefinitionen bisher wesentliche wirtschaftliche Interessen und möglicherweise auch etablierte Geschäftsmodelle ins Schwitzen bringen wird. Deshalb ist es so wichtig, festzuzurren, wie der Prozess und die Einflüsse auf diesen Prozess unter der Kontrolle der Prozessverantwortlichen bleiben.

Die anzustrebenden Neudefinitionen werden unsere Sicht auf die Welt in vielen Punkten eine grundlegende Veränderung nahelegen. Der „Compass“ kann dazu dienen, dass die Neudefinitionen zu neuen Ufern führen. Der „Compass“ gibt die Richtung vor und wird dazu beitragen, die Einflüsse der ewig Gestrigen und stets Unbeweglichen zu minimieren. Um aber ein in sich konsistentes System von (neuen) Werten aufzubauen, wird wissenschaftlich-systematische Unterstützung unvermeidlich sein.

Mein Vorstellungsvermögen reicht nicht aus, dass diese Neudefinitionen von der Politik entwickelt werden. Hier muss die Wissenschaft einen ausformulierten Entwurf vorlegen, der dann im politischen System zur Diskussion gestellt wird und von Vertretern der Wissenschaft auch öffentlich verteidigt werden kann. Denken Sie nur an die Formulierung des Bürgerlichen Gesetzbuches 1895 oder des Grundgesetzes in 1949. Diese fundamentalen Regelwerke haben kleine Expertenkreise entwickelt und m.E. grandios im Sinne der Öffentlichkeit gelöst.

Im nächsten Schritt wird irgendwann auch der Bürger ins Boot geholt werden müssen. Ob das den Parteien überlassen werden soll, erscheint mir fraglich. Es gibt bessere Lösungen. Das „deliberative Partizipationsmodell“[4] könnte für die Beteiligung der Bürger eingesetzt werden, um sicherzustellen, dass ganz wesentlich das Bürgerinteresse auf die notwendigen Entscheidungen Einfluss gewinnt. Die Erfahrungen mit dieser Form der Beteiligung sind weltweit zahlreich und gut, die Ergebnisse sind sachorientiert und sind i.d.R. nicht durch einseitige wirtschaftliche Interessen beeinflusst. Das Ganze mündet in ein Bürgergutachten, mit dem sich das Parlament qua Gesetz zu beschäftigen hat.

Aus den vorliegenden Ausführungen ist hoffentlich zu erkennen, dass der „Compass“ uns die Marschrichtung zeigen kann, dass aber ganz wesentliche Bedingungen zur erfolgreichen Umsetzung der Inhalte noch fehlen bzw. zu ergänzen sind, um sicherstellen zu können, dass der „Compass“ nicht nur die Richtung anzeigt, sondern auch Bewegung auslöst.

Anhang: (eigene Übersetzung des englischen Originals)

INTERNATIONAL SYSTEM CHANGE COMPASS

THE GLOBAL IMPLICATIONS OF ACHIEVING THE EUROPEAN GREEN DEAL (2022)

(HG: SYSTEMIQ, THE CLUB OF ROME, OPEN SOCIETY EUROPEAN POLICY INSTITUTE)

A. Funktion und Zielvorstellung des Systems

  • Wohlstand neu definieren

Verlassen Sie die neokolonialen Muster der Rohstoffgewinnung und verteilen Sie die Wertschöpfung fair in den Lieferketten.

  • Die Nutzung natürlicher Ressourcen neu definieren

Reduzieren Sie den Material-Fußabdruck in Ländern mit hohem Verbrauch; ökologisch und sozial nachhaltige Systeme in einkommensschwachen Ländern aufbauen.

  • Fortschritt neu definieren.

Wohlbefinden durch kontextspezifische, national festgelegte Transaktionspfade definieren.

B. Entwerfen und Implementieren von Interventionen

  • Metriken neu definieren

Messen Sie die vollen Auswirkungen des nationalen Verbrauchs und der nationalen Produktion innerhalb globaler Grenzen und das soziale Wohlergehen.

  • Wettbewerbsfähigkeit neu definieren

Wenden Sie kooperative und aufgabenorientierte Methoden zwischen Ländern und auf Unternehmensebene an, um das globale gesellschaftliche Wohlergehen zu verbessern, insbesondere für die am wenigsten Wohlhabenden.

  • Anreize neu definieren

Schaffen Sie übergangsfördernde wirtschaftliche und rechtliche Anreize, indem Sie nicht nachhaltige Subventionen beenden, den Wert von Ökosystemen anerkennen und für Transparenz und Rechenschaftspflicht in globalen Wertschöpfungsketten sorgen.

  • Konsum neu definieren

Erhöhen Sie die Umwelt- und Sozialstandards von Produkten und wechseln Sie vom Besitz zur Nutzung, wo dies vorteilhaft ist.

C. Mobilisierung und Unterstützung von Akteuren

  • Finanzen neu definieren

Erhöhen Sie die Kapazität zur Finanzierung positiver, regenerativer Veränderungen und machen Sie gleichzeitig das Finanzsystem gerecht.

  • Governance neu definieren

Bereitstellung einer nachhaltigen Verwaltung globaler Ressourcen durch gerechte und wissenschaftsbasierte Governance-Systeme.

  • Führung neu definieren

SeienSie gute Nachbarn und denken Sie in Generationen, indem Sie durch integrative und langfristige Entscheidungen Vertrauen über Regionen und Generationen hinweg aufbauen.

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[1] Kate Raworth, Doughnut Economics: Seven Ways to Think like a 21st-Century Economist (Random House, 2017 (https//www.kateraworth.com)

[2] HG: Open Society European Policy Institute, SystemIQ, The Club of Rome, International System Change Compass – The Global Implications of Achieving the European Green Deal, 2022; (https//www.opensocietyfoundations.org/publications)

[3]  Nils Minkmar, Ruhe, bitte, in: SZ v. 7.7.2022, S. 9

[4] Peter Dienel, Die Planungszelle, 1978; oder: https://www.arte.tv/de/videos/101941-006-A/42-die-antwort-auf-fast-alles/ 

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Suffizienz als Transformationsstrategie?

Bei meinen letzten Beiträgen habe ich immer wieder die Frage aufgeworfen, wie sollen denn die ‚tollen‘ technologischen Maßnahmen zur Wirkung kommen, wenn wir ein virulentes gesellschaftliches Umsetzungsproblem haben, das offensichtlich keiner wagt, konkret anzusprechen. Dabei habe ich Niko Paechs Buch aus 2020 „All you need is less[1]“ aufgestöbert und noch einmal vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Umsetzungsproblems gelesen. Es war diesbezüglich wie „Sonntag“, weil ich mir schon komisch vorkam, immer wieder an der Umsetzungsfrage hängen zu bleiben, weil keiner eine Antwort geben wollte oder sich traute.

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Niko Paech hat sich als Schwerpunkt der Postwachstumsökonomie verschrieben. Das genannte Buch wendet sich gezielt der Suffizienz als Strategie zu, um konkret Wege aus der ökologischen Krise aufzuzeigen. Dabei wird nicht (wie üblich) auf die Politik oder auf die Technologie oder auf sonstige Institutionen verwiesen, sondern auf jene, die diese Transformation letztlich (er-)tragen müssen: auf die Menschen, Bürger und Betroffenen.

Das Buch teilt sich in zwei Bereiche und begründet Suffizienz zum einen aus der Sicht eines Buddhisten und zum anderen aus der Sicht eines Ökonomen. Der buddhistische Teil erscheint mir als ziemlichen Laien auf diesem Gebiet als absolut geglückt. Die Sprache ist so gewählt, dass sie von einem Europäer inhaltlich verstanden werden kann. Alle traditionellen Schnörkel wurden weggelassen und die Aussage ist nachvollziehbar und eindeutig. Dabei demonstriert Folkers eindrucksvoll und ethisch nachvollziehbar, wie Suffizienz im Sinne von „Genug“ aus buddhistischer Sicht begründet wird.

Der Teil, den Niko Paech zu vertreten hat, thematisiert die „Suffizienz als Antithese zur modernen Wachstumsorientierung“ und baut sie zu einer begründbaren, Vernunft basierten Strategie aus. Sein Ausgangscredo ist das Scheitern aller Versuche, den Wachstumsgedanken durch allerlei Umgehungen des gesunden Menschenverstandes vor dem Untergang (der „Wachstumsdämmerung“) zu retten. Sarkastisch beschreibt Paech die vergebliche Hoffnung: „Tüchtiger Fortschrittseifer, so lautet das Credo, werde einen Wirbelwind der technischen Erneuerung heraufziehen lassen, der alle Nachhaltigkeitsdefizite rückstandslos beseitigt, ohne dem Insassen zeitgenössischer Komfortzonen reduktive Handlungsänderungen zumuten zu müssen“[2].

Gleich zu Beginn werden die meist verwendeten Vokabeln einer Nachhaltigkeitstechnik gegen einander abgegrenzt. Dabei werden drei zentrale Begriffe aufgegriffen: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Den vierten Begriff der Resilienz habe ich aus aktuellem Anlass der Vollständigkeit halber hinzugefügt:

  • Effizienz wird als ökologische Effizienz dargestellt und zielt darauf ab, „den materiellen Aufwand zu minimieren, um ein bestimmtes ökonomische Ergebnis zu erzielen“[3]. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass es hierbei um materiellen Aufwand geht. Die ökonomische Effizienz orientiert sich allzu oft nur an der in Geld übersetzten Effizienz, d.h. durch die anzuwendenden Preise lässt sich ökonomische Effizienz auch dort darstellen, wo gar keine ökologische Effizienz vorliegt.
  • Die ökologische Konsistenz setzt bei der Umweltverträglichkeit der genutzten Ressourcen an. „Statt deren Menge zu verringern, soll die Beschaffenheit oder das Produktdesign dahingehend optimiert werden, dass keine Emissionen oder Abfälle entstehen, unabhängig vom Verbrauchsniveau.“ (Dies wird möglich, wenn) „alles Verwendete entweder biologisch abbaubar ist oder verlustfrei in geschlossenen technischen Stoffkreisläufen verbleibt.[4]“Die Idee klingt bestechend, ist aber nur lokal durchführbar, weil andernfalls die damit verbundene arbeitsteilige Logistik zusätzliche Ressourcen in Anspruch nimmt.[5]
  • Die jüngste „Zeitenwende“ des Jahres 2022 lässt auch die Resilienz wieder ins öffentliche Bewusstsein treten. Vor lauter Wachstumswahnsinn und angeblicher Effizienz haben wir übersehen, unsere Infrastrukturen hinreichend widerstandsfähig und krisenfest zu gestalten. Je detaillierter die profitgeleitete globale Arbeitsteilung wird, umso anfälliger werden die Strukturen. Denken wir an die Lieferkettenprobleme, die bei den ersten, aber absehbaren Unregelmäßigkeiten auftreten. Die Risikovorsorge leidet oft unter der falsch eingeschätzten Profitabilität. Gier frisst Hirn!
  • Suffizienz versteht sich als Genügsamkeit und steht für eine Reduktion der Ansprüche. Sie „adressiert und hinterfragt direkt den eigentlichen Zweck (und damit den Sinn) ökonomischer Aktivitäten“.[6] Diese Idee kümmert sich erst mal nicht um Nachhaltigkeit, kümmert sich nicht um irgendwelche symbolisch mehr oder weniger tragfähigen Abkommen (Kyoto, Paris, etc.), sondern richtet sich direkt auf das Problem: Wir verbrauchen ca. zwei Planeten und wir haben nur einen zur Verfügung. Wir müssen nachhaltig werden, unseren CO2-Ausstoß reduzieren, wir müssen uns zuvorderst einfach konsequent einschränken! Und diese Erkenntnis tut weh. Da hört das Träumen auf. Alles „Drum-herum-reden“ findet ein Ende.

Niko Paech umschreibt diesen Sachverhalt deutlich verbindlicher: Die Nachhaltigkeitsprin-zipien „…fügen sich … perfekt in zeitgenössische Modernisierungsprogramme ein. Sie versprechen, individuelle Freiheiten unangetastet zu lassen, indem Nachhaltigkeitsdefizite durch eine Addition technischer oder institutioneller Mittel kuriert werden…. (Es) werden damit zusätzliche Handlungsoptionen, Einkommensquellen, Märkte und sonstige (neue) Entfaltungsspielräume in Aussicht gestellt.    (Die) Konzepte minimieren jegliche individuelle Verantwortung, indem die Zuständigkeit für Nachhaltigkeitsmaßnahmen zuvorderst an die technologische, ökonomische oder politische Entwicklung delegiert wird.“[7]

Ganz pragmatisch: Wenn eine Familie merkt, dass sie längere Zeit über ihre Verhältnisse gelebt hat, wird sie nicht umhin können, zu sparen, also ihren Verbrauch zu reduzieren. Sie kann die Zuständigkeit weder an technologisch, noch ökonomische oder politische Entwicklungen delegieren. Das sagt der gesunde Menschenverstand! Im Sinne der Politik und Wissenschaft würde der Familie stattdessen vorgeschlagen, nachhaltiger zu wirtschaften und so tun, als ob sich das Loch in der Familienkasse gar nicht existiert. Deshalb ist es mir nicht zu vermitteln, dass wir uns in Nachhaltigkeit üben sollen, was immer das konkret bedeutet, statt dass wir erstmal den Verbrauchsüberhang abbauen (das heißt Suffizienz üben), bevor wir dann, wenn wir auf dem Verbrauchsniveau von einem Planeten angekommen sind, die Nachhaltigkeit forcieren. Erst dann wird doch sachlich ein Schuh daraus!

Die Herausforderung des Ansatzes der Suffizienz liegt in der Frage, wieviel Einschränkung ist der moderne Bürger bereit zu tragen? Die notwendigen Konsumeinschränkungen werden, so banal die Sache ist, sehr schnell als eine Einschränkung der persönlichen Freiheit interpretiert. Und unser moderner Freiheitsbegriff hat sich leider vielfach von der Frage nach der Verantwortung gelöst. Eine Freiheit ohne Verantwortung gibt es unter zivilisierten Menschen nicht. Wir alle nutzen den Planeten stärker als es uns mit Blick auf die kommenden Generationen zusteht. Mit anderen Worten, wir haben durch unsere ‚Freiheiten‘ eine Übernutzung initiiert und stehen jetzt in der Verantwortung, diese Fehlentwicklung auszugleichen. Als Lösung denkt der gesunde Menschenverstand zuvorderst an Rückgängigmachung der Fehlentwicklungen. Suffizienz müsste eigentlich der erste Schritt in eine neue Richtung sein. Alles, was die Suffizienz dann optimiert, kann sich daran anschließen.

Stattdessen haben Politik und Wissenschaft immer schon nach Wegen gesucht, um das „Unwort“ Suffizienz zu vermeiden. Vermutlich deshalb, weil Genügsamkeit zu einfach und zu direkt wäre und weil weite Kreise in der Politik Sorge haben, dass mit diesen alten Erkenntnissen ihr übergriffige Auffassung von Freiheit bloßgestellt werden könnte.

Zudem gibt die Nachhaltigkeitsargumentation immer wieder Raum für neue bzw. modifizierte Geschäftsmodelle. Aber eine Ausdehnung des Marktes durch Innovation ist doch das Gegenteil von dem, was „Not-wendig“ wäre. Eine Reduktion im Rahmen der Suffizienz lässt hier keinen Spielraum. Es gibt kaum Geschäftsmodelle, die im Rahmen einer Reduktion erfolgversprechend sind und vertretbaren moralischen Grundsätzen entsprechen.

Ein anderer Gesichtspunkt kann darin gesehen werden, dass es global gesehen, große Teile der Erde gibt, die immer schon suffizient leben mussten. Hier mit einer Aufforderung zur Suffizienz aufzutreten, ist ebenso kontraproduktiv wie die Erwartung von Nachhaltigkeit. Eine erfolgreiche Anwendung des Gedankens der Suffizienz dürfte also auf jene Bereiche des Globus beschränkt bleiben, die sich in der Vergangenheit auch die größten Beiträge zur bestehenden Fehlentwicklung geleistet haben.

Wenn wir aus der Perspektive einer Überflussgesellschaft (J. K. Galbraith) auf die Suffizienz blicken, könnte man darin ein Moment des Verzichts erkennen. Diesem Vorwurf, regelmäßig als ein politisches Killerargument verwendet, will sich niemand aussetzen. Konsum ist das Herzstück unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Wenn nicht genug konsumiert wird, so das Argument, bricht das System zusammen. Als Folge bringen wir seit Jahren immer mehr Geld als Grundlage für unser Verständnis von Konsum in Umlauf und bauen damit private und öffentliche Schulden auf. Das dabei ‚geschöpfte‘ (geschaffene) Geld wandert über den Wirtschaftskreislauf in die Schuldentilgung oder in die Taschen der Produzenten und unterstützt damit die steigende Ungleichverteilung von Vermögen.

Konsum hat vor diesem Hintergrund nur noch sehr begrenzt etwas mit Versorgung zu tun. Konsum ist zum Schmiermittel mutiert, mit dem primären Ziel, das System am Laufen zu halten. Also besteht der Anspruch, dass der Konsum immer weiter wächst, weil lt. Ökonomie die Bedürfnisse (des Menschen Gier) angeblich unbegrenzt seien, zumindest nach dem Modell des homo oeconomicus. Auf dieser fragwürdigen ‚Basis‘ passen die Teile ganz gut in das Wirtschaftspuzzle.

Wenn sich aber der reale Konsument einigermaßen rational verhält, ist dieses Phantasiegebilde weitgehendes Wunschdenken. Clevere Ökonomen haben festgestellt, dass zwar der Bedarf endlich ist, jedoch die Bedürfnisse kaum erkennbare Grenzen kennen. Dabei machen sie die Rechnung ohne den Wirt. Richtig ist, dass die Bedürfnisse gestaltbar sind, aber der Bedarf mit seiner Befriedigung endet. Es gibt also eine Grenze des Konsums, weil einerseits Befriedigung einsetzt und andererseits auch die ‚unbegrenzten‘ Bedürfnisse des Menschen an einer einfachen Zeitrestriktion scheitern: Der Tag hat nur 24 Stunden, also können wir uns unmöglich 25 Stunden dem Konsum ‚hingeben‘.

Gehen wir weiter darauf ein (siehe auch Paech, ebda, S. 158ff.), dass jeder Konsum, wenn er für den Menschen irgendeinen Sinn vermitteln soll, pro konsumtivem Akt eine gewisse Zeitspanne benötigt, um den Nutzen der Konsumption genießen zu können. Als Folge ist auch unsere Fähigkeit zu konsumieren begrenzt und steht im Widerspruch zur ökonomischen Vorstellung der Grenzenlosigkeit. Wir können natürlich die Taktung unseres Konsums ständig erhöhen (und viele versuchen es), aber auch diese Betrachtung führt an Grenzen der physischen und mentalen Gesundheit i.w.S.. Wenn beim Einzelnen hier eine Grenze gezogen werden muss, kann auch eine Grenze für die Höhe des Konsums insgesamt gezogen werden und damit auch für die Höhe des allgemeinen Wirtschaftswachstums allein aus der menschlich möglichen Verarbeitungskapazität heraus. Paech weist lapidar auf die Vervielfachung der Verschreibung von Psychopharmaka innerhalb der letzten 10 Jahre hin. Mit anderen Worten: Wir überstrapazieren nicht nur die Ressourcenlage unseres Planeten, wir sind auf dem besten Wege auch uns in der Funktion als Konsumenten komplett zu überfordern.

Kommen wir zurück zur Suffizienz und der damit verbundene Genügsamkeit. Wenn wir erkennen, dass die Ressourcenlage als auch unsere mentale Gesundheit dem Konsum seine Grenzen aufzeigt, dann ist es kein weiter Weg, Genügsamkeit als erste Priorität des Handelns zu erkennen. Erst dann, wenn wir es geschafft haben, unsere Ansprüche generationentauglich auf die vorhandene ökologische Basis eines Planeten zurückzuführen, ist es m.E. sinnvoll, sich über Nachhaltigkeit zu unterhalten und die große Frage zu lösen versuchen wie wir künftig mit dem ‚menschlichen Maß‘ umgehen wollen. Die gegenwärtige Politik und die von ihr beauftragte Wissenschaft kümmern sich akribisch um Nachhaltigkeit, obwohl das große Loch zwischen Soll-Verbrauch (ein Planet) und Ist-Verbrauch (ca. 2 Planeten) scheinbar unbemerkt links liegen bleibt. Ich bin immer wieder überrascht, wieviel offensichtlichen Realitätsverlust der Mensch verdrängen kann ohne dadurch in eine gewaltige kognitive Dissonanz zu geraten. Oder sind wir da schon als Gesellschaft mitten drin und haben es nur noch nicht bemerkt?


[1] Manfred Folkers, Niko Paech, All you need is less, München 2020

[2]  Paech, N., Vom Scheitern bisheriger Krisentherapien zur Postwachstumsökonomie, 2021, in: Krise und Transformation, Scheidewege, Schriften für Skepsis und Kritik, Band 51, HG: Jean-Pierre Wils, 2021, S. 15 – 35

[3] Folkers, Paech, All you need is less, 2020, S. 124

[4] Folkers, Paech, 2020, S. 125

[5] Vgl. die ARD Dokumentation „Die Recyclinglüge“, um einen Eindruck von der Machbarkeit zu gewinnen.

[6] Folkers, Paech, 2020, S. 126

[7] Ebda., S 130

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Transformation durch Technologie – ein Weg zur Lösung?[*]

Wir sind uns – so mein Eindruck – mit einer großen Mehrheit einig, dass eine Transformation unserer Gesellschaft unausweichlich ist. So weitermachen fährt unsere Gesellschaft früher oder später an die Wand. Wenn wir uns aber die Frage stellen, wie soll denn das neue Ziel aussehen, werden wir unsicher. Es gibt keine Blaupause für das, wohin wir uns entwickeln wollen (oder sollen). „Klimaneutral“ gilt als eine Zielvorstellung, aber was heißt das konkret? Wenn wir klimaneutral sind oder ggfs. nachhaltig wirtschaften, so wird uns vermittelt, wäre das Problem im Grunde gelöst.

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Ich bin mir da nicht sicher, weil die Klimaneutralität, so wie wir sie heute verstehen, von vielen oder den meisten als eine rein technologische Frage angesehen wird. Der Ansatz ist nur zum Teil richtig. Wir neigen dazu, einen Tunnelblick zu entwickeln. Weil sich die Probleme scheinbar nur aus der „fehlerhaften“ Anwendung unserer Technologien entwickelt haben, glauben wir, in der Lage zu sein, dass – ganz einfach – eine Änderung der Technologie uns wieder auf einen ‚Pfad der Nachhaltigkeit‘ führen könne. Aber dort waren wir noch nie! Keiner weiß, wie sich der Zustand einer nachhaltigen Wirtschaftsweise wirklich anfühlt oder auswirkt. Jeder einzelne wird hierbei vermutlich zu einem anderen Ergebnis kommen.

Wir haben unsere heutigen Erwartungen und Gewohnheiten nicht im luftleeren Raum entwickelt. Die von uns verwendeten Technologien haben in der Vergangenheit auf uns zurückgewirkt. Sie haben unser Erwartungen an das Leben mitgestaltet. Wenn wir jetzt auf der technologischen Seite die Forderung nach Klimaneutralität in den Raum stellen, so ist das auch und vielleicht noch vielmehr eine soziale Herausforderung. Eine Maschine oder ein Algorithmus ist schnell um- oder gar abgebaut. Die Menschen, die die Klimaneutralität mit Leben füllen müssen, brauchen da wohl deutlich länger.

Über die Technologie wird eifrig diskutiert, über die Wege einer sozialen Transformation findet man wenig und wenn doch, dann ist man sich in der großen Problematik einig, aber ich kann wenig Aussagen finden, wie die Menschen in diesem Prozess konkret ‚abgeholt‘ und beteiligt werden sollen, um sicher zu stellen, dass diese Entwicklung auch friedlich, demokratisch und erfolgversprechend umgesetzt werden kann.

Wenn wir Klimaneutralität anstreben wollen, so ist das im Grunde nur eine Nebenbedingung. Klimaneutralität als längerfristiges Ziel zu definieren, erscheint nicht sinnvoll. Das Ziel sollte der Versuch sein, Wohlstand auf breiter Front auf einem akzeptablen Niveau zu erhalten unter der Nebenbedingung einer Klimaneutralität. Wie er aber aussehen soll, ist heute nicht abschließend beschreibbar, weil zu viele Parameter auf einmal verändert werden müssen.

Das bisher geltende Wachstumsziel ist zu eindimensional und hat sich als obsolet erwiesen. Wachstum muss durch eine Kennzahl einer mehrdimensionalen Wohlstandsdefinition ersetzt werden. Die Folgen für die Strukturen unseres Wirtschaftssystems sind m.E. nicht absehbar, wenn man nicht automatisch in das (lächerliche) Untergangsszenario vieler Wirtschaftsfachleute einstimmen will, die sich ein Wirtschaften jenseits des Wachstums nicht vorstellen können oder wollen. Es wird schwieriger und komplexer, aber deshalb dogmatisch von einer Unmöglichkeit auszugehen, erscheint in höchstem Maße ideologisch. Es gab eine Welt vor dem Kapitalismus und es wird auch eine Welt mit einem gezähmten Kapitalismus geben können. Wovor die Damen und Herren Angst haben, sind die anstehenden Veränderungen, die von allen Beteiligten viel Flexibilität verlangen werden, die sie auch sicher aus ihrer Komfortzone reißen wird.

Unser Handeln wird heute noch i.d.R. durch die Definition eines Zieles bestimmt und dann durch die gezielte Bündelung unserer Aktivitäten auf dessen Durchsetzung. Diese strikte Erfolgsformel hat unser Wirtschaftssystem über viele Jahrzehnte praktiziert. Jetzt stehen wir vor der Frage, dass diese Vorgehensweise nicht mehr angemessen ist. Gibt es da etwas, was in dieser Situation unklarer bzw. nur undeutlich erkennbarer Ziele eine Vorgehensweise beschreibt, die in dieser Situation angemessene und vernünftige Handlungsspielräume bereitstellt?

Die östliche Philosophie hat vor etwa 2.500 Jahren in einem anderen Zusammenhang eine Vorgehensweise entwickelt, die uns hier in abgewandelter Form neue Wege weisen könnte. Die Kernaussage des alten Textes ist sinngemäß relativ kurz und prägnant: „… Wenn ihr aber (nach sorgfältiger Untersuchung) selber erkennt, dass die Dinge ‚unheilsam‘ oder ‚verwerflich‘ für Euch oder die anderen sind, so unterlasst sie (konsequent).“ Die Originalaussage ist hier stark auf das mir wesentlich Erscheinende verkürzt[1]. Und die Sprache muss mit ihren historischen Begriffsinhalten übersetzt werden.

Die Idee dahinter ist die Aufforderung, alles, was wir als ‚falsche‘ Entwicklung i.w.S. erkennen, zu unterlassen: Die gegebene Situation wird systematisch von allem negativ Bewerteten (von allem ‚Unheilamen‘) befreit oder entrümpelt. Als Folge gewinnt das Positive der Ausgangssituation ständig an Einfluss. Es ist uns ungewohnt, ohne großes Ziel einen Prozess anzustoßen. Da wir das komplexe Ziel nicht hinreichend präzise beschreiben können, können wir uns trotzdem einer Methode bedienen, die sich Schritt für Schritt mit den jeweiligen Zusammenhängen befasst, sie in einer komplexen Umgebung bewertet, um dann, wenn die Qualität der Wirkungen im Sinne des Prozesses unzulänglich erscheint, diese Maßnahmen dann auch zu unterlassen.

Wichtig ist dabei, dass es sich um einen qualitativen Ansatz handelt. Die Quantität ‚Geld‘ spielt hierbei nur eine untergeordnete Rolle. Wenn wir erkannt haben, dass wir im Grunde in einer Überflussgesellschaft (Galbraith) leben, geht das Screening sinnvollerweise auch nicht hinaus zu neuen Zielen des Mehr, Weiter und Höher, sondern führt mit einiger Sicherheit zu einer notwendigen und klug entwickelten Verdichtung und Ausdünnung des Bestehenden und schafft damit einen neuen schrittweise als besser erkannten Zustand. Und dafür steht beispielhaft diese uralte Methode!

Lindblom[2] hat Mitte des letzten Jahrhunderts politische Prozesse beobachtet und kam zu dem Ergebnis, dass trotz ausgefuchster Planungsanstrengungen die reale Umsetzung letztlich wenig planerische ‚Grandezza‘ aufwies, sondern eher einem ‚Durchwursteln‘ (muddling through) entsprach. Lindblom sah den Grund in einer begrenzten Informationsverarbeitungs-kapazität der handelnden Menschen, Luhmann eher in der hohen Komplexität der Planungsaufgabe. Die Planer handeln dabei in dem Glauben, sie hätten alle relevanten (d.h. i.d.R. linearen) Aspekte unter Kontrolle. Die kleinen ‚ekelhaften‘ Rückkopplungs- oder Reboundprozesse gelten angesichts der ‚großen‘ Aufgabe als irrelevant, werden übergangen und nicht erkannt. Das erste Auftreten einer Rückkopplung drängt die weiteren realen Schritte unvorhergesehen aus dem Plan und – das Adrenalin steigt und das ‚Durchwursteln‘ beginnt.

Mit anderen Worten, was vor 2.500 Jahren in der Übersetzung ins Deutsche als ‚unheilsam‘ und ‚verwerflich‘ charakterisiert wird, wurde damals schlicht unterlassen und schuf Freiraum für Neues. Lindblom, der in einer Gegenwart lebt, die diesen Freiraum oft nicht kennt, hat dann das „Durchwursteln“ faktisch entdeckt. Und obwohl über Lindblom nur noch wenige Wissenschaftler sprechen, das Faktische dieser Untersuchung hat sich auch durch noch so viel Digitalisierung nicht verändert. Man muss nur richtig hinschauen und den übliche ‚Schleier der Euphorie‘ bei neuen Technologien etwas beiseiteschieben.

Dabei sollten wir eigentlich begreifen, dass die anstehende Herausforderung einer Transformation weniger eine Frage einer (neuen) Technologie ist, als deutlich zu machen, dass der Knackpunkt in der Gestaltung eines sozialen Prozesses liegt. Wie sage ich es meinen Kinde, dass sich die soziale Welt vermutlich selbst aus den Angeln heben muss, um das Problem zu lösen. Wir lebten seit dem zweiten Weltkrieg auf einer friedlichen Insel der Seligen, dann hat sogar unser großer Gegenspieler, der sogenannte real existierende Sozialismus, anerkennen müssen, dass ihm die Luft ausgeht. Das hat vielen  von uns nochmals bestätigt, wir sind angeblich die Besseren. Dann kam die Klimakrise ins Bewusstsein und machte deutlich, dass wir viele Zusammenhänge nicht begriffen haben. Nun hat geopolitisch Wladimir Putin eine wesentliche Karte aus dem Spiel gezogen: er wolle so nicht mehr mitspielen bzw. er will die Regeln neu gestalten und reißt uns aus der Komfortzone.

Zuvor haben wir die Klimakrise entdeckt und sind verwundert, dass es auch uns ganz konkret betrifft. Das alles sind aber soziale Fragestellungen, die wir lösen müssen und ich habe nicht den Eindruck, dass das von einer Mehrheit der Bürger schon so gesehen wird.

Die Technologie hat uns in der Vergangenheit immer einen Weg der Bequemlichkeit aufzeigen können. Zu den meisten Herausforderungen ließen sich technologische Lösungen finden, die unserer Bequemlichkeit sehr entgegen kamen. Man spricht gerne von Stellvertreter-Lösungen oder auch wie Niko Paech von „Energiesklaven“, um den sozialen Druck aus dem System zu vermindern. Plötzlich haben wir jetzt mehr Herausforderungen als wir technologisch lösen können.

Wir haben uns in eine Situation von Sachzwängen manövriert und wir müssen jetzt die soziale Herausforderung annehmen: Wie soll die Transformation unserer Gesellschaft erfolgen, ohne dass der ‚Laden‘ auseinander fliegt? Das ist kein technologisches Problem; wir sind als Gesellschaft gefordert. Man merkt, dass die beratende Wissenschaft sich der Aufgabe wohl bewusst ist. Sie hat aber, so scheint es mir, wenig bis keine schlüssigen Antworten. Und die Politik schaut wieder ‚gewohnheitsbedingt‘ auf die Technologie als potenzielle Lösung, um sich selbst und ihre Gefolgsleute von den sich abzeichnenden sozialen Problemen vorerst abzulenken.

Niko Paech[3], der sich der Diskussion einer Postwachstumsökonomie widmet, redet selten von Technologie und von Fortschritt. Sein Weg zu einem Lösungsansatz, der im Grunde im Sozialen liegt, führt über die Erkenntnis, dass unser Tag nur 24 Stunden hat und wir inzwischen einem Konsumangebot gegenüberstehen, das in dieser Zeit kaum wahrgenommen, geschweige denn genutzt, noch mit Genuss und Befriedigung aufgenommen werden kann. Konsum i.w.S., so seine These, löst nur dann eine gewisse Befriedigung in uns aus, wenn wir uns eine angemessene Zeit mit den Dingen befassen können. Gelingt das nicht, bedeutet Konsum nichts anderes als ständiger sozialer Stress, weil wir den eigenen Ansprüchen nicht gewachsen sind und den propagierten Erwartungen nicht gerecht werden.

Er spricht aus, was sich die Politik nicht traut: „…ein resilientes , also ökonomisch und sozial krisenstabiles Versorgungssystem, das ein sozial gerechtes Dasein innerhalb ökologischer Grenzen erlaubt, (kann) nur durch eine Kombination von Reduktion und Selbstbegrenzung erreicht werden“ (Paech, S. 27). „Wer in materieller Opulenz zu versinken droht, verzichtet nicht, wenn er oder sie sich auf das Wichtige beschränkt, sondern löst die Konsumverstopfung, unter der immer mehr Verbraucher leiden“ (Paech, S. 29).

Sein Ansatz geht nun nicht davon aus, dass wir eine gesamte Gesellschaft transformieren müssen. Er vergleicht die Gesellschaft mit einem „leckgeschlagenen, zunehmend manövrierunfähigen Tanker“, der nur schwer oder gar nicht mehr zu lenken ist. Er ergänzt das Bild durch „autonome Rettungsboote“, die sich dezentral und kleinräumig behaupten können. Auf diese „Rettungsboote“ richtet er seine Transformationsstrategie aus. Sie sind die künftigen Träger einer Postwachstumsökonomie. Die damit verfolgte Strategie ist nicht neu. Mehrheiten kommen selten durch einen großen Konsens zustande. Es braucht gewöhnlich nur 10 – 20 Prozent der Gesamtheit, um die Meinungen der Beteiligten in eine angestrebte Richtung zu beeinflussen. Die 10 – 20 Prozent sind die sogenannten „Champions“, sind die Persönlichkeiten (heute spricht man von Influenzern), nach denen sich die Mehrheit bei ihren Entscheidungen ausrichten, weil ihnen das Selberdenken zu anstrengend ist, oder die Frage nicht ihr Interesse trifft. (Edward Bernays „Propaganda“ – Erkenntnisse lassen grüßen!)

Damit haben wir einen ersten Ansatz, der das soziale Moment konkret ins Spiel bringt und nicht immer wieder auf die Technologie schielt, deren Ressourcenverbrauch ja der Ausgangspunkt für die Krise darstellt. Der zweite Gesichtspunkt ist die Reduktion, deren Notwendigkeit offen angesprochen werden muss. Wenn wir heute ca. zwei Planeten verbrauchen, aber nur über einen verfügen, dann ist es einfach völlig unverständlich, wie man einer Reduktion nicht das Wort reden will. Es handelt sich ja nicht um Verzicht, sondern lediglich darum, unser Zeitbudget und den möglichen Konsum so zu gestalten, dass es zu einem sinnvollen Ausgleich kommt.


[1]  Vgl. ausführlich Anguttara-Nikaya III, 66, hrsg. von Nyanatiloka Bd. I, Freiburg, 1984, S. 170, zitiert nach Brodbeck, Karl-Heinz, Verantwortung in der Wirtschaft – ein buddhistischer Blick, Vortrag Mai 2013, S. 17 (auch als die Rede an die Kalamer bekannt)

[2] Lindblom, Charles, The Intelligence of Democracy, Decision making through mutual adjustments, New York, 1965

[3] Paech, Niko: Von Scheitern bisheriger Krisentherapien zur Postwachstumsökonomie,  in: Krise und Transformation, Zeitschrift für Skepsis und Kritik, Neue Edition Band 51, HG: Jean-Pierre Wils, 2021, S. 17 ff.


[*] Vgl. auch den Beitrag vom 15.01.2022: Die Idee von dem, was wir „nicht“ wollen.

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Nachhaltigkeit oder Klimaneutralität – oder beides?

Wo liegen die begrifflichen Unterschiede oder meinen beide Begriffe das gleiche? Den Begriff der Nachhaltigkeit strapazieren wir in der Öffentlichkeit vermutlich seit etwa 50 Jahren und es hat sich vergleichsweise nur wenig getan. Der Begriff der Klimaneutralität ist jüngst „in aller Munde“ und es wird dabei so getan als ob diese Begriffe und die dahinterstehenden Konzepte „nahezu“ identisch seien bzw. das gleiche Ziel verfolgen. Ich will versuchen, hier mehr Licht in die Zusammenhänge zu bringen.

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Die Nachhaltigkeit stammt nach meiner Kenntnis aus der Forstwirtschaft und wurde dort vor mehr als 200 Jahren entwickelt[1]. Forstwirtschaft befasst sich nur sehr beschränkt mit dem Wald als solchem, sie befasst sich mit dem Holz als Objekt der Begierde. Da Bäume in aller Regel nicht vor Ablauf von drei Generationen eine verwertbare Größe erreicht haben, ist der Begriff der Nachhaltigkeit in erster Linie Ausdruck einer langfristigen Perspektive.

Wenn die Forstwirtschaft heute einen gravierenden Fehler macht, so wirkt sich das in aller Regel erst in der dritten Generation aus. Ist der Eigentümer heute zu geschäftstüchtig und rücksichtslos im Holzeinschlag, kann das die übernächste Generation mit voller Wucht treffen. Kommt jetzt noch ein Risikoereignis wie die „Klimakrise“ hinzu, kann das für den Wald (und für den Eigentümer) schnell existenzgefährdend werden.

Die langfristige Perspektive in der Entwicklung des Waldes wurde versucht, künstlich abzukürzen. Man pflanzte schnell wachsende Fichten wie die Zinnsoldaten in Reih‘ und Glied und behauptete, das sei Wald. Es wurde versucht, “Massenholzhaltung“ durch Einheitskulturen hervorzubringen. Die Veränderungen dessen, was man Wald nennt, glaubte man in Kauf nehmen zu können. Der Borkenkäfer hat eine analoge Strategie angewendet. Massenhafte Monokultur beim Holz bedeutet massenhafte Forcierung einzelner Insektenarten. Eine gesunde Fichte hat einen Abwehrmechanismus, aber der bricht zusammen, wenn die Fichte durch Trockenheit Stress bekommt und die Zahl der Angreifer in den Monokulturen schlicht zu hoch wird.

Man hat nach ökonomischen Prinzipien Holz produzieren wollen und hat übersehen, dass das Biotop Wald nur in der Vielfalt der Arten in einem hinreichend stabilen Gleichgewicht gehalten werden kann. Gesunde Mischwälder können mit Trockenheit, Insektenbefall, Stürmen und ggfs. mit Feuer viel besser umgehen, als die Zinnsoldaten einer Baumart, die nur in bestimmten Höhenlagen heimisch ist und sich im Grunde für eine Massenholzhaltung auch nicht eignet. Alle diese Aspekte sind im Grunde langjährige Verstöße gegen die Nachhaltigkeit und den gesunden Menschenverstand. Letzter ist aber erst seit wenigen Jahren in der Lage, die Zusammenhänge auch so zu verstehen.

Der Brundtland-Report hat 1987 versucht, Nachhaltigkeit zu verallgemeinern und kommt sinngemäß auf folgende Formel: Die Menschheit hat die Fähigkeit die Entwicklung nachhaltig zu gestalten, indem sie sicherstellt, dass die Entwicklung die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation erfüllt ohne die Fähigkeit künftiger Generationen einzuschränken, ihrerseits ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Ein ‚hervorragend‘ formulierter Satz, der so abstrakt ist, dass er im Grunde keine konkrete Aussage möglich macht. Das einzige, was man daraus erkennen kann, ist die Verpflichtung langfristiger (über Generationen hinaus) zu denken. Jede Bedürfnisbefriedigung sollte so gestaltet sein‚ dass sie ‚enkeltauglich‘ ist.

Herman Daly unternahm einen Versuch, die zentralen und übergeordneten Elemente einer Nachhaltigkeit aus ökologischer Sicht auf den Punkt zu bringen, um einen etwas konkreteren Ansatz zu finden:

  • Das Niveau der Abbaurate erneuerbarer Ressourcen darf ihre Regenerationsrate nicht übersteigen. (Nicht mehr verbrauchen als nachwächst)
  • Das Niveau der Emissionen darf nicht höher liegen als die Assimilationskapazität (die Fähigkeit des Systems, diese Emissionen zu neutralisieren).
  • Der Verbrauch nicht regenerierbarer Ressourcen muss durch eine entsprechende Erhöhung des Bestandes an regenerierbaren Ressourcen kompensiert werden. (Hardtke/Prehn 2001, S.58)

Daly’s Ansatz geht dabei (anders als die Ökonomie) nicht von den menschlichen Bedürfnissen der jetzigen und der künftigen Generationen aus, sondern zeigt die globalen Restriktionen auf, die uns die Natur für unsere weitere Entwicklung setzt.[2]

Wenn man noch konkreter werden will, sind wir gezwungen, ins Detail zu gehen. Um uns hier nicht zu verlieren, geht es darum, verhaltensleitende „Triggermerkmale“ zu finden, mit deren Umsetzung andere wesentliche Eigenschaften des Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sich als konsequente Folge ergeben:

  • Eine langfristige Denkweise muss durch einen gesetzlichen Rahmen gefördert werden.
    • Als Folge müssen Gebrauchsgüter reparaturfähig konstruiert werden, Ersatzteile müssen längerfristig vorgehalten werden. Das ist u.a. durch eine deutlich verlängerte Gebrauchsgarantie zu erreichen.
    • Ein konstruktiv einfaches Recycling muss bei der Produktplanung Pflicht sein.
    • Die zu erwartende Lebensdauer von Wirtschaftsgütern ist zu verlängern. Was besteht bzw. existiert, hat einen gewissen automatischen Bestandsschutz, bevor es wegen einer Neuanschaffung abgerissen, zerstört und/oder entsorgt werden kann. Nicht das Neue gilt als ‚sexy‘, das Bewährte muss als Wert anerkannt werden.
    • Die automatische Folge dieser Auffassung wird ein reduzierter Konsum sein, etwas, das das gegenwärtige Wirtschaftssystem möglicherweise an seine Grenzen führen wird.
  • Die monetäre Sichtweise als einseitiges wirtschaftliches Entscheidungskriterium muss zu einem Konzeptansatz erweitert werden, der auch qualitative Gesichtspunkte einbezieht. Bei großen Projekten müssen auch die Perspektiven der durch die Maßnahme Betroffenen erfasst und realistisch bewertet werden. Dabei ist auch grundsätzlich eine vereinfachte Emissionsbilanz als Entscheidungsgrundlage darzustellen.
  • Ideal wäre es, wenn es gelänge, für alle wesentlichen Güter, die uns die Natur unentgeltlich zur Verfügung stellt, realistische Preise zu definieren, die einen breiten Konsens finden können. So wie eine Tonne CO2 gegenwärtig (nur) 25 € kostet, so könnten Wasserentnahme, Feinstaubentwicklung, Lärmentwicklung, u.v.m. einen Preis bekommen, um dann feststellen zu können, ob gewisse Projekte nicht nur für den Investor sinnvoll erscheinen, sondern auch für die Gesellschaft verträglich sind.

Als Fazit könnte man feststellen, dass Nachhaltigkeit wenig allgemeine Operationalität besitzt. Nachhaltigkeit kann wohl nur für jeden Prozess gesondert ermittelt werden, was die Wahrnehmung als auch die Kontrolle des Sachverhalts in der täglichen Praxis erschwert.

Je mehr man sich mit der Materie beschäftigt, desto größer werden die Problemberge. Trotzdem glaube ich, dass es auf dieser Basis eine Lösung geben kann, wenn viele das Problem verstehen und einen gewissen gesellschaftlichen Konsens finden können.

Damit möchte ich mich dem Ziel der Klimaneutralität zuwenden. Dieses Ziel ist noch relativ jung und klingt handlich und operabel. Wenn wir aber meinen, der Begriff der Klimaneutralität könne als Ersatz für die Nachhaltigkeit dienen, springen wir m.E. zu kurz. Klimaneutralität reduziert die Nachhaltigkeit ausschließlich auf den Aspekt der Emissionen (vgl. oben die Darstellung der drei Elemente von Herman Daly). Zwar ist in der Diskussionen um die Klimaneutralität vorgesehen, den Begriff breiter zu fassen, aber dann verliert der Begriff seine scheinbare Griffigkeit und wird wieder sperrig wie die Nachhaltigkeit. Zudem enthält die Nachhaltigkeit qualitative Elemente, die sich m.E. einer Quantifizierung weitgehend entziehen.

Gerade die Quantifizierung mit dem Anschein von Berechenbarkeit und Exaktheit macht den Charme der Klimaneutralität aus. Man nimmt den CO2-Ausstoß eines Landes, einer Region (in der Regel eine wackelige Schätzgröße, bei der eine Fehlergröße von mehreren Zehnerpotenzen nicht ungewöhnlich wäre) und stellt sie der ebenfalls geschätzten Assimilationskapazität der Wälder und Moore dieser Region gegenüber. Wenn die Schätzwerte sich im Wesentlichen ausgleichen, werden wir dann hoch erfreut von Klimaneutralität sprechen. Die Gesichtspunkte der Regenerationsraten und die Maßnahmen zur Kompensierung nicht-nachwachsender Ressourcen entfallen dabei ersatzlos (vgl. Herman Daly).

Die unangenehme Tatsache, dass wir gegenwärtig ausgerechnet beim Wald die Regenerationsrate aufgrund des Befalls der Monokulturen durch den Borkenkäfer missachten, führt natürlich dazu, dass die Assimilationskapazität des Waldes zur kritischen Größe wird. Wir verlieren täglich große Waldflächen, weil man zum Kahlschlag der Monokulturen keine Alternative sieht. Und wenn ich das richtig beurteilen kann, werden vielfach die Fichtenmonokulturen (so gut es geht) durch Monokulturen von Douglasien ersetzt anstatt konsequent dem Mischwald den Vorzug zu geben. Die Aufforstung vollzöge sich dann natürlich langsamer und finanziell aufwendiger, weil die Laubbäume i.d.R. längere Entwicklungszeiten benötigen.

Mit der Klimaneutralität hofft oder glaubt man einen Punkt in unserem Wirtschaftssystem gefunden zu haben, der als allgemeiner Erfolgsindikator den notwendigen Umbau begleiten kann. Die CO2-Bilanz gilt als zweckmäßiger Maßstab, um den Fortschritt des Umbaus begleiten und überwachen zu können. Dabei wird wohl hoffnungsfroh unterstellt, dass die CO2-Reduktion auch Einfluss auf die Abbaurate der erneuerbaren als auch auf die Reduktion des Verbrauchs nicht-erneuerbarer Ressourcen hat. Wenn wir die sogenannte Klimaneutralität tatsächlich erreichten sollten, dann ist vermutlich wirtschaftlich kein Stein mehr auf seinem heute gewohnten Platz. Deshalb ist es auch nicht sinnvoll, an allen möglichen „Knöpfen“ des angestrebten Wandels zu drehen, weil man die komplexen Überkreuzrelationen zwischen den Variablen heute in keiner Weise absehen kann.


[1] Hans Carl von Carlowitz (1645–1714), der 1713 den Gedanken zur Nachhaltigkeit in einem Buch veröffentlicht hat.

[2] Vgl. https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/definitionen_1382.htm

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Gesellschaftliche Transformationsszenarien

Der Ton wird rauer. Das Unvermögen der Politik in den Fragen der Transformation wird von Tag zu Tag deutlicher. Es liegt aber nicht nur an der Politik. Auch die Wissenschaft (soweit ich sie überblicke) rennt einem Traum hinterher und glaubt, im letzten Moment noch die große technologische „Erlösung“ zu entdecken, die es dem durch die Wachstumsideologie verwöhnten Bürger ermöglicht, unbehelligt das „Weiter so“ zu zelebrieren.

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 Eine einfache Reduzierung unseres Verbrauchs scheint offensichtlich keine Option zu sein, obwohl die Reduktion der mit Abstand direkteste Lösungsbeitrag sein könnte. Dem steht die (nachvollziehbare) Sorge der Politik gegenüber, durch die Propagierung einer Reduktion der Lebensverhältnisse die Gunst der Wähler zu verlieren.

Die Wissenschaft hat sich auch deshalb der Transformation in erster Linie technologisch genähert, indem sie intensiv technologische Wege der Vermeidung und Umgehung gesucht hat. Und das tut sie nach meinen Erkenntnissen auch heute noch. Wir sind durch unsere technologischen Erfolge der Vergangenheit so „rammdösig“ auf Technologie fixiert, dass wir die nicht mit der Technologie verbundenen Ansätze einer Umsetzung völlig vernachlässigen. Der Weg der „Befreiung vom Überfluss“ (Niko Paech) wird gar nicht ins Kalkül gezogen, weil wir uns damit auf die Ebene einer gesellschaftlichen Problemlösung begeben würden. Und davor schrecken sowohl die Politik als auch die Wissenschaft zurück, als ob dieser Lösungsansatz „des Teufels“ wäre.

Dabei stelle ich nicht die Umsetzung der Technologie in Frage, sondern stelle mir die Frage, wie können wir die Gehirne und Herzen der Bürger für die Umsetzung der Transformation gewinnen? Was nützt uns die tollste Technologie, die uns den Eindruck vermittelt, wir müssen nur zwei Knöpfe drücken und dann ist der „Klimaspuk“ vorbei, wenn das Problem darin liegt, die Menschen erstmal von der Illusion zu befreien, man könne das Problem mit den berühmten „zwei Knöpfen“ tatsächlich lösen.

Das Problem gilt als hochkomplex und man beschäftigt sich bei der Technologiesuche auch auf einem hoffentlich angemessenen hohen Komplexitätsniveau, aber der große ‚Knackpunkt‘ ist doch die komplexe gesellschaftliche Umsetzung, die nur erfolgreich sein kann, wenn die Bürger die Transformation positiv aufnehmen bzw. die Veränderung mit Leben erfüllen.

Die Wissenschaft hat in der Zwischenzeit schrittweise jene Felder identifiziert, auf denen der technologische Wandel stattfinden muss oder sollte. Stichworte sind[1]:

  • Energiewende
  • Wärme und Wohnwende
  • Ernährungswende
  • Mobilitätswende
  • Industrie – und Konsumwende

Dieser Reihe von Gesichtspunkten ist aus der technischen Perspektive wenig hinzuzufügen. Aber die Frage, wie der Wandel in die Wege geleitet werden könnte, ist dadurch noch mit keinem Wort angesprochen. Wir wissen viel über die Ziele (das ist am Unverfänglichsten) und verfügen über beachtliche Informationen über die technischen Mittel der Transformationsmöglichkeiten. Wir haben aber offensichtlich keine tiefergehende Vorstellung von den gesellschaftlichen Problemen und deren potenziellen Überwindung.

Wir sollten uns deshalb einen Augenblick Zeit nehmen und uns den „Gegner“ – das herrschende Wirtschafts- und Lebensmodell des Kapitalismus – ein wenig genauer ansehen. Das Modell hat uns in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von großen Vorteilen vermittelt. Aber seit über 50 Jahren(!) wissen wir, dass dieses Modell auf längere Sicht nicht mehr lebensfähig sein wird.

Lassen wir alle technologischen Überlegungen beiseite und fragen uns, wie hat es dieses Modell geschafft, so erfolgreich zu werden? Wie war es möglich, dass ein Wirtschaftssystem unser Handeln und Denken so stark beeinflusst, dass wir trotzdem dieses System „cum grano salis“ mehrheitlich unterstützen?

Eine Antwort könnte uns die Systemtheorie geben: Unser obsoletes Wirtschaftssystem bringt eine Vielzahl von Menschen (als Elemente eines Systems) unter einer Zielvorstellung (einer oder mehrerer Funktionen) zusammen. Die meisten Menschen bringen sich in das System als Individuen ein und entwickeln unter dem Systemziel etwas Gemeinsames, was die Systemtheorie als „Emergenz“ bezeichnet: Es entwickeln sich in sozialen Systemen unter dem Gesichtspunkt der Selbststeuerung (Autopoiesis) Regeln, Rituale, Verhaltensweisen und Teilsysteme, die dann, wenn wir das System nur als eine Anhäufung von Individuen betrachten würden, so gar nicht möglich wäre. Die Idee des Systems ist also mehr als die Summe seiner Teile! (Wer sich hiermit beschäftigen will, den möchte ich auf die Systemtheorie[2] verweisen.)

Mit anderen Worten: Eine gelingende Transformation muss es sich zum Ziel setzen, eine ‚neue‘ Emergenz zu schaffen oder die alte, bestehende so zu verändern, dass die veränderte Emergenz (die neuen Regeln und Verhaltensweisen) den gewünschten neuen Zustand fixieren. Das muss das Ziel der (nicht technischen) Maßnahmen zur Transformation sein.

Wie hat es das alte, bestehende System geschafft, dass eine breite Mehrheit das System noch unterstützt, obwohl den meisten klar sein müsste, dass dieses System am Ende nicht für die Zukunft geschaffen ist? Oder systemisch ausgedrückt: Durch welche Maßnahmen kann die bestehende „Emergenz“ des Kapitalismus aufrechterhalten werden?

Hierzu müssen wir uns über ein paar Zusammenhänge klar werden: das bestehende System mit seiner Wachstumsideologie unternimmt ständig große finanzielle Anstrengungen, um seine Emergenz aufrecht zu erhalten. Es gibt in dem bestehenden System ein Subsystem, das jeden Tag und jede Stunde sehr subtil und dezentral die herrschende Wachstumsideologie propagiert. Das Subsystem kann man recht gut mit dem Begriff ‚Marketing‘ umschreiben. Das Subsystem sendet uns täglich oder stündlich unaufgefordert Botschaften, wie wir, was wir und in welchem Umfang konsumieren sollen, um das Wirtschaftssystem am Laufen zu halten.

Im politischen Raum würde man diese Einflussnahme als Propaganda bezeichnen, als den ständigen Versuch, unsere Gehirne und Emotionen für die Ideologie des Wachstums mit ihrem ‚Mehr, Weiter und Höher‘ zu gewinnen. Für uns ist das (erstaunlicher Weise) aber keine Propaganda mehr – wir sind offensichtlich so daran gewöhnt (brain washed), dass wir den Vorgang zwar als lästig empfinden, aber als völlig normal und ‚unvermeidbar‘ einstufen.

Man könnte die Frage stellen, ob diese als ‚Propaganda‘ bezeichnete Vorgehensweise tatsächlich Wirkung zeigt, weil wir die Beeinflussung im täglichen Leben i.d.R. nicht mehr wahrnehmen. Eine einfache Überlegung gibt einen klaren Hinweis: In Deutschland werden jedes Jahr von den Unternehmen viele Milliarden Euro für Maßnahmen des Marketings ausgegeben. Wenn dieser Aufwand keine angemessene Wirkung zeitigen würde, müssten wir an der ökonomische Rationalität der unternehmerischen Entscheidungen zweifeln. Die Unternehmen betreiben Marketing, weil sie erkannt haben, dass Marketing einer der größten ‚Treiber‘ für die von ihnen bewusst oder unbewusst vertretende Wachstumsideologie ist.

Die Erkenntnisse der Wissenschaft geben uns nun seit vielen Jahren deutliche Hinweise, dass die Wachstumsideologie ein Ende finden muss – Wachstum muss durch Nachhaltigkeit ersetzt werden. Es hat aber wenig Sinn, gegen den ständigen Einfluss der Wachstumsideologie zu kämpfen, solange wir die Wachstumspropaganda nicht deutlich schwächen oder gar weitgehend unterbinden können.

Im Wettstreit der wohlfinanzierten Wachstumsideologie mit dem Nachhaltigkeitsprinzip bleibt die Nachhaltigkeit allein aus finanziellen Gründen auf der Strecke. Immer wenn wir uns (mal) mit dem Gedanken der Nachhaltigkeit befassen, hat die Wachstumspropaganda schon viel tausendfach zugeschlagen. Hirn und Emotion der Menschen gehören offensichtlich (noch lange) nicht der Nachhaltigkeit, sondern eher dem schnellen Massenkonsum und der fixen Idee des Wachstums.

Wenn die Nachhaltigkeit sich durchsetzen soll, müssen wir einen Weg finden, die Wachstumspropaganda deutlich zu schwächen und eine eigenständige Nachhaltigkeitspropaganda neu aufsetzen. Das ist unter den gegebenen Bedingungen ein Kampf ‚David gegen Goliath‘. Die Chancen für David (für die Nachhaltigkeit) stehen nach aller Erwartung extrem schlecht, es sei denn, wir finden einen ‚Triggerpoint‘, an dem wir die Wachstumspropaganda empfindlich treffen können.

Der Vorschlag hierzu liegt darin, dass künftig (mit einer kurzen Übergangsfrist) die Aufwendungen der Unternehmen für Marketing (also für die täglich auf uns niederprasselnde Wachstumspropaganda) steuerlich ohne Wenn und Aber als nicht mehr abzugsfähig gestaltet werden. Das heißt konkret, dass die vielen Milliarden Marketingaufwand in voller Höhe zu versteuern sind. Die steuerlichen Gewinne erhöhen sich im ersten Schritt (und damit auch das Steueraufkommen, aus dem vermutlich auch die Nachhaltigkeitspropaganda finanziert werden muss). Wenn dann, wie von den Unternehmen erwartet, die Umsätze aufgrund geringerer Marketingaufwendungen sinken würden, werden auch die steuerlichen Gewinne wieder rückläufig sein.

(Kleine Anmerkung: Sollte sich zeigen, dass die Umsätze ähnlich wie bei der Einführung der Nichtabzugsfähigkeit von Schmiergeldern in der 1990er Jahren gar nicht sinken, bleiben die erhöhten steuerlichen Gewinne im Wesentlichen unverändert und die Ausgaben für Marketing der vergangenen Jahrzehnte würden sich im Nachhinein als schlichte Fehlallokation erweisen. Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.)

Mit der Nichtabzugsfähigkeit der verkaufsbezogenen Marketingaufwendungen[3] würden sich alle Marketingprojekte nach heutigen Steuersätzen um etwa 40% verteuern. Marketing wird dadurch zu einem ‚Luxus‘ und nur dort eingesetzt, wo mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ein Erfolg der Wachstumspropaganda zu erwarten ist. Vieles andere wird aus Kostenerwägungen unterlassen. Die Stärke der finanziellen Basis der Wachstumspropaganda wäre damit gebrochen. Und das entspräche dem Ziel der Maßnahme. (Es gibt dabei noch viele offene Fragen, die in diesem Rahmen nicht abschließend diskutiert werden können.)

Erst jetzt aber hat es einen Sinn, systematisch eine Nachhaltigkeitspropaganda aufzubauen, weil zumindest ein stückweit ‚Waffengleichheit‘ zwischen der alten Wachstumspropaganda und der neu zufassenden Nachhaltigkeitspropaganda herrscht. Letztere gilt es aufzubauen und zu etablieren und die bestehende muss in ihrer Wirkung beständig zurückgedrängt werden.

Die Erwartung, dass unser Wirtschaftssystem Träger der neuen Nachhaltigkeitspropaganda werden könnte, wäre m.E. absolut naiv. Da sich angesichts des Problems der Klimakrise auch ein verstärktes Verständnis von einer wissensbasierten Gesellschaft durchsetzt, wäre zu überlegen, den Träger der neuen Nachhaltigkeitspropaganda bei der Wissenschaft anzusiedeln, um zu vermeiden, dass die Propaganda all zu leicht für parteipolitische Zwecke Verwendung findet. Im Wissenschaftssystem sollte das Wissen um die Nachhaltigkeit am ehesten versammelt sein, so dass auch die Trägerschaft für die Kommunikation über Nachhaltigkeitspropaganda sinnvollerweise dort angesiedelt werden sollte. Propaganda ist bestimmt kein genuines Geschäft der Wissenschaften, also wäre es nötig, dort eine Agentur (eine Institution) zu schaffen, die die Nachhaltigkeitspropaganda z.B. unter der Aufsicht eines Wissenschaftsrates formuliert und vorantreibt. Dabei sollten die propagandistischen Botschaften vielleicht etwas mehr werblichen Pep erhalten als in Kreisen der Wissenschaft üblich ist.

Die Nachhaltigkeitspropaganda muss letztlich argumentativ alle Register ziehen, um Hirn und Herz möglichst vieler, aber nicht notwendig der meisten Menschen gewinnen können. Mehrheiten sind nicht notwendig die Voraussetzung, um Nachhaltigkeit zu forcieren. Der Nachahmungseffekt als Massenphänomen darf hier nicht unterschätzt werden.

Der vorliegende Vorschlag wäre m.E. die Skizze für einen völlig neuen Ansatz. Die Nachhaltigkeit würde nach zwischenzeitlich anerkannten und kommunizierten Notwendigkeiten propagiert werden. Damit wäre die Definitionsgewalt, was wir in der jeweiligen Situation unter „nachhaltig“ verstehen sollten, dem unmittelbaren Einfluss der Politik entzogen. Politik könnte einwenden, argumentieren. kommentieren, auch entscheiden, aber die Definitionshoheit der Nachhaltigkeit läge für die Allgemeinheit (und damit auch für die Wirtschaft) bei der Wissenschaft und wäre der Politik ein Stück weit entzogen. Ob die Vorstellung einer wissensbasierten Gesellschaft von der Politik unter diesen Voraussetzungen geteilt wird, bleibt abzuwarten. Wenn wir dem Wissen eine verstärkte Rolle in unserer Gesellschaft bereitstellen wollen (und das käme mit dem Begriff einer wissensbasierten Gesellschaft letztlich zum Ausdruck), dann hat das auch Folgen für die Bedeutung der Politik und deren Entscheidungsfindungen.

Dazu müssen wir aber eine Nachhaltigkeitspropaganda schaffen, aufgrund deren hoffentlich breiter Akzeptanz sich die Emergenz des Systems verändert. Damit wird  auch die Politik in ihrem Handeln ein Stück weit festgelegt. Vereinfacht ausgedrückt sollte die Politik „dem Volk auf Maul schauen“ und das „emergente Maul“ wird zu einem gehörigen Teil durch die angestrebte Nachhaltigkeitspropaganda argumentativ geformt. Und damit schließt sich der Kreis.


[1] Miosga, Manfred, Kommunen auf dem Weg in die Nachhaltigkeit; Vortragsmanuskript FFB, Mai 2022

[2]  Willke, Helmut, Systemtheorie I – III, u.a. 2014

[3] Auch die neue Nachhaltigkeitspropaganda kann unter den Begriff des Marketings i.w.S. erfasst werden. Es ist deshalb wichtig, nur umsatz- und imagebezogenes Marketing als nicht abzugsfähig zu deklarieren. ‚Nicht-gewerbliches Marketing‘ wäre folglich unverändert steuerlich abzugsfähig.


[*] Eine Reaktion auf eine Studie der Heinrich Böll Stiftung und Konzeptwerk Neue Ökonomie (HG): „A Societal Transformation Scenario for Staying Below 1,5° C“, 2020

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Kapitalismus im Wandel

Die Bankenkrise in 2008/2009 kennzeichnet vermutlich den Wendepunkt des Neoliberalismus. Seit wenigen Jahren bestimmt die Klimakrise unser wirtschaftspolitisches Denken. Der Grund liegt dabei in der Erkenntnis, dass zumindest der Kapitalismus westlicher Prägung seine Anziehungskraft verliert, weil die laufend notwendigen Reparaturen an diesem System den vermittelten Erwartungen widersprechen. Dabei setzt den Beobachter in Erstaunen, dass die kapitalistische Ökonomie zwar die Defizite erkennt, aber keine Ideen oder Vorschläge entwickelt, wie die Defizite auszugleichen sind.

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Meine Erklärung für dieses Verhalten ist sehr einfach und direkt: Wenn das System des Kapitalismus im Wesentlichen auf glaubensähnlichen Dogmen beruht, so können wir von den Hohepriestern der kapitalistischen Ökonomie nicht erwarten, dass sie Alternativen bereitstellt. Es ist ähnlich wie mit der katholischen Kirche. Mit ihr können Sie auch nicht über eine alternative oder neue Bibel verhandeln. Das stellt ihr Selbstverständnis in Frage.

Damit kommen wir an eine Grundsatzfrage: Wenn eine Veränderung von innen heraus auf der Basis von Einsicht nicht möglich erscheint, so müssen wir einen Ansatz von außen versuchen. Der radikale Ansatz versucht Struktur und Prozesse in einem Schritt zu eliminieren. Man nennt so etwas vereinfacht Revolution und stürzt damit das gesamte System ins Chaos. Es gibt in der mehr als 200-jährigen Geschichte unseres Wirtschaftssystems Beispiele, die m.E. ausnahmslos schief gegangen sind. Wenn man glaubt, dass man weiß wie ein neues System auszusehen hat und man nimmt den Weg über die „tabula rasa“, landen wir immer in der Restauration, also in einer Neuauflage des alten System, weil die Unsicherheit für die vielen Beteiligten so groß wird, dass man sich „sicherheitshalber“ schnell wieder der alten Regeln erinnert und restauriert. Das kann nicht der Königsweg sein.

Der alternative Weg ist der Weg durch die Institutionen. Wir gehen von der Prämisse aus, dass wir Struktur und Prozess zu unterscheiden wissen. Wir lassen gedanklich die Infrastruktur bestehen und wenden uns einer schrittweisen Änderung der Prozesse zu. Die Erhaltung der bestehenden Infrastruktur vermittelt die notwendige Sicherheit und Beständigkeit. Die inkremental veränderten Prozesse geben uns die Möglichkeit, Erfahrung zu sammeln und ggfs. Fehler zu korrigieren. Das ist die ganz normale Strategie, die zur Anwendung kommt, wenn Organisationen erkennen, dass ihr bisheriger Weg zwar erfolgreich war, aber die Fortführung des Weges aufgrund von Änderungen der jeweiligen Umwelt nicht mehr tragbar, nicht finanzierbar oder schlicht obsolet zu werden droht.

Wenn wir uns über das „Wie ändern?“ möglicherweise einig sind, kommt die Frage nach dem „Was ändern?“. Dabei gibt es auch hier mindestens zwei Alternativen: Eine Reihe von ernst zu nehmenden Autoren (soweit ich sie kenne) konzentriert ihre Kritik auf die Wirtschaftstheorie. Die vorgeschlagenen Änderungen greifen die Modelle an, die der Theorie zugrunde liegen. Diese Aufgabe halte ich für wichtig, aber nicht unbedingt für zielführend.

Die Wirtschaft lebt nicht von der Theorie, sondern vom „Handeln“ und wenn es der Theorie gelingt, das Handeln nachträglich in eine Theorie zu kleiden, umso besser. Die Alternative ist die Beschreibung von festgestellten Defiziten des praktizierten Kapitalismus verbunden mit möglichst konkreten Vorschlägen zu deren Beseitigung.

Dabei möchte ich mich auf Ausführungen von Roger de Weck aus dem Jahr 2009[1] beziehen. Er versucht, die seinerzeitige Krise des Kapitalismus zu erklären und fügt jedem seiner Kapitel ein Fazit bei, indem er die aus seiner Sicht wichtigen und notwendigen Änderungen zusammenfasst. Wichtig ist mir der Hinweis, dass de Weck nicht die Infrastruktur grundsätzlich in Frage stellt, sondern dass er neue Wege vorschlägt, die im Rahmen der Struktur umsetzbar sind. In anderen Fällen richtet er seine Aufmerksamkeit darauf, die bestehenden Prozesse in Frage zu stellen, zu verbessern oder ggfs. künftig zu unterbinden. De Weck hat nicht den Anspruch, die Welt neu zu erfinden, sondern macht Vorschläge, die Welt nur insoweit zu ändern, dass sich neue interessante Wege eröffnen und offensichtliche Fehlentwicklungen künftig entfallen:

Im Folgenden sind seine Gesichtspunkte wiedergegeben, wobei jedes Kapitel seines Buches mit einem „Fazit“ endet:

„Fazit 1

Ein ausgewogener Kapitalismus braucht

  • Mechanismen der Mäßigung von Gier;
  • ein besseres Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital und namentlich den Abbau steuerlicher Privilegien für das Kapital;
  • Schranken für den Steuerwettbewerb, der mittelfristig die Staaten auszehrt;
  • eine Abkehr vom Defizitdenken in den Vereinigten Staaten und – weil per Definition die Defizite die Überschüsse der anderen ausmachen – ein Ende der trügerischen Sucht nach Überschüssen in Asien und Europa.

Fazit 2

Im real existierenden Kapitalismus

  • bleibt der Staat so wichtig wie der Markt;
  • ist die gemischte Wirtschaft bewusst zu gestalten;
  • ist der Markt als Macht zu begreifen;
  • ist Gegenmacht aufzubauen, damit sich auch die nicht-ökonomischen Werte behaupten.

Fazit 3

Ein demokratischer Kapitalismus

  • beachtet den Vorrang der Demokratie vor der Ökonomie und bricht die Übermacht der Finanzwelt;
  • sorgt für viel Unabhängigkeit der Politik von Wirtschaftsinteressen;
  • achtet den Staat und seine Institutionen;
  • hat zugunsten vernünftiger und wirtschaftsfreundlicher Rahmenbedingungen ein hohes Interesse an einer kompetenten, leistungsfähigen Verwaltung.

Fazit 4

Ein stabiler Kapitalismus

  • verbietet die Spekulation, wo sie viel Schaden stiftet;
  • erdet die Geldhäuser, indem er ihnen viel Eigenkapital abverlangt und sie mithaften lässt, wenn sie Risiken auf ihre Kunden abwälzen;
  • bestraft massiv Gehalts und Bonusexzesse;
  • schafft Anreize für nachhaltige Firmenstrategien, namentlich durch Steuerrabatte auf Gewinne, die wieder ins Unternehmen fließen, und durch Vorgaben für langfristig ausgerichtete Bonus-Systeme.

Fazit 5

Ein nachhaltiger Kapitalismus

  • lenkt den Eigennutz auf soziale und ökologische Ziele statt allein auf das Gewinnziel;
  • will kein Wachstum um jeden Preis;
  • gründet darauf, dass Eigentum verpflichtet;
  • demokratisiert beharrlich Wirtschaft und Volkswirtschaft.

Fazit 6

Ein liberaler Kapitalismus

  • vermeidet es, in den Markt zu intervenieren, scheut sich aber nicht, ihn zu regulieren;
  • erklärt Unternehmen, deren Konkurs die Volkswirtschaft zerrütten würde, für „systemrelevant“ und erhebt Gebühren für die gewährte Staatsgarantie;
  • schreckt Aktionäre notleidender Firmen davon ab, Staatshilfe zu beanspruchen, indem er sie bei Rettungsaktionen automatisch enteignet;
  • setzt Anreize, um zur Eigenverantwortung und längerfristigen Ausrichtung aller Wirtschaftsakteure beizutragen.

Fazit 7

Im globalen Kapitalismus

  • wird Kooperation so wichtig wie Konkurrenz;
  • hängen Frieden und eine stabile Weltwirtschaftsordnung von der politischen Weitsicht und ethischen Einsicht in die Notwendigkeit  eines Ausgleichs der Interessen zwischen Nord und Süd ab;
  • muss die Staatengemeinschaft lebensnotwendige Ressourcen mit einem Preis versehen;
  • sind eine Weltwirtschafts- und Weltwährungspolitik unerlässlich.“

Aus meiner Sicht stellt sich zu den Ausführungen die Frage: Kann man die vielen sinnvollen und m.E. auch richtigen Gesichtspunkte auf wenige, dominierende „Kenngrößen“ zurückführen? Eine Umsetzung von 28 durchaus sinnvollen Ansatzpunkten fordert u.U. 28 mal Widerspruch heraus. Wenn wir jede der Forderungen linear aufreihen und uns an die Abarbeitung machen würden, könnte es sein, dass wir mehrfach Impulse setzen, die immer wieder an den gleichen Punkten scheitern, weil wir die interne Vernetzung der Gesichtspunkte nicht ausreichend beachtet haben. Die Umsetzung ist dann erfolgversprechend, wenn es gelingt, die oft im Hintergrund stehenden, übergeordneten funktionalen Ordnungsprinzipien zu identifizieren und sie dann auf ihrer Wirkungsebene zu neutralisieren, zu stärken oder durch neue zu ersetzen. Die Idee, die dahinter steht, geht davon aus, dass Maßnahmen, die an den nachgeordneten Folgen herumzudoktern, sinnlos sind, ohne die dahinter liegenden Ursachen zu verändern.

Eines dieser Ordnungsprinzipien scheint m. E. die hochgradige Fokussierung und Reduzierung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Denkens auf eine Rendite in Geld zu sein. Dahinter steht die Erwartung, dass jede Handlung, die wir vornehmen, Nutzen hervorrufen kann. Dabei könnte der ‚Nutzen‘ ja in vielerlei Hinsicht (und damit nicht nur in Geld) interpretiert werden. Unsere Fokussierung auf den monetären Aspekt führt zu einer unnötigen Verengung der Perspektive, die unserem allgemein verbreiteten ‚linearen‘ Denken aber sehr entgegenkommt. Dadurch wird der Glaube unterstützt, dass Effizienz und Effektivität abschließend messbar seien. Das gilt aber nur unter der Prämisse eines extrem kurzen Zeithorizontes. Wieviel kurzfristige Effizienz- und Effektivitätserfolge erweisen sich auf längere Sicht als komplette Fehleinschätzung, weil wir uns gewöhnlich für die längerfristige Perspektive unseres Handelns nicht verantwortlich fühlen. Der Grund liegt vielfach darin, dass die Entscheidungssituationen bei einer größeren Variabilität der Prämissen eine deutlich höhere Lösungskomplexität verlangen als unsere gängigen ökonomischen Entscheidungsmodelle bereitstellen.

Was könnte das konkret bedeuten?

  • Das Entscheidungskriterium der ‚Rendite‘ als rein quantitatives Maß muss auf eine breitere (komplexere) Basis gestellt und insbesondere auch dem Aspekt der Qualität als Kriterium ein Platz eingeräumt werden.
  • Für den Rahmen der Fristigkeiten muss eine Erweiterung der Produktverantwortlichkeit der Handenden diskutiert werden (Stichworte: Nachhaltigkeit, längerfristige Konsequenzen, wie z.B. Reparaturfähigkeit, Ersatzteilverfügbarkeit).
  • Die in der Verfassung enthaltene Sozialbindung des Eigentums muss eine erweiterte Wirksamkeit und justitiable Konkretisierung erhalten.
  • Die Linearität unserer Denkgewohnheiten, die immer nur eine Ursache auf die linear nächstliegende Wirkung bezieht, muss einer komplexeren Betrachtung der vernetzten Zusammenhänge weichen. Es geht nicht schlicht um das Messbare, es geht auch oft um Qualitäten, die sich einer Messbarkeit entziehen, aber heftige Wirkungen darstellen.

Das gängige Entscheidungskriterium der ‚Rendite‘ repräsentiert ausschließlich die Sichtweise des Investors und nicht die der Nutzer und ggfs. der Öffentlichkeit. Die Lösung könnte statt der schlichten Renditebetrachtung eine Konzeptualisierung des investiven Vorhabens sein. Statt Geld als alleiniges Kriterium zu verwenden, sollte ein „Konzept“ entstehen, das vielfältige Gesichtspunkte aufgreift und zu einer entscheidungsfähigen Einheit verbindet. Das erfolgt vielfach heute schon, nur leider intern und hinter verschlossenen Türen. Die Rentierlichkeit trägt man letztlich als veröffentlichte Projektbegründung des Investors vor. Die restlichen Überlegungen und Konsequenzen werden als unbeachtlich übergangen und „poppen“ zur Unzeit wieder hoch.

Wir greifen mit diesem Argument auch in die bisher praktizierte Unbedingtheit des Eigentums ein, obwohl wir uns schon vor langer Zeit eine Verfassung gegeben haben, in der eindeutig eine Sozialbindung des Eigentums vorgesehen ist (Art. 14, II GG).

Wir müssen zusätzlich feststellen, dass unsere individuellen Ansprüche auf Fläche und Raum zunehmen. Die Spielräume werden folglich kleiner für eine freie Entfaltung ohne Einschränkungen des Spielraums unseres Nächsten. Die Sozialbindung fand bisher nur als Feigenblatt in den politischen Reden Anwendung. Künftig wird diesem Gedanken wohl mehr konkretes Gewicht verliehen werden müssen. Auch wird der Sozialbindungsgedanke die Anwendung des ausschließlichen Rendite-Gedankens als singuläre Entscheidungsbasis zusätzlich einschränken .

Je eher wir erkennen, dass Ressourcen endlich sind, desto mehr werden wir wieder die ‚Qualität‘ zu schätzen wissen, die wir den Dingen jenseits des Geldes zumessen müssen, weil sie nicht mehr beliebig verfügbar sind. Es handelt sich um eine Frage der kollektiven Einstellung. Was Qualität ist und wie wir damit umgehen, müssen aber wir bestimmen.


[1] De Weck, Roger: Nach der Krise – Gibt es einen anderen Kapitalismus?, München 2009.

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Gestaltende Politik?

Putins Ukraine-Krieg hat nicht nur unsere nationale Abhängigkeit in Bezug auf die Energieversorgung deutlich zutage treten lassen. Als Folge passiert exakt das, was mit der immer wieder diskutierten „Energiewende“ wohl auch unvermeidlich gewesen wäre: die Kosten für Energie steigen heftig und unkontrolliert. Der mediale Aufschrei ist erheblich, aber angesichts der seit Jahren immer wieder diskutierten und geforderten Wende reibt man sich die Augen und fragt sich: was soll das?!

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Die Politik hat das zweifelhafte „Glück“, dass die Preissteigerung ausschließlich als Folge eines Krieges in der Ukraine gesehen wird. Hätte die Politik diese Entwicklung als Folge ihrer längst fälligen Maßnahmen zur Energiewende vertreten müssen, könnte ich die Aufregung verstehen. Also kann man der Politik nur zurufen: Nutzt die Chance! Hier tut sich ein Sachzwang auf, bei dem die politischen Organe die Schuld an der Situation medienwirksam auf Putin abwälzen können. Die Energiepolitik ist in den vergangenen zwanzig oder dreißig Jahren einer kompletten Fehleinschätzung aufgesessen. Sie hat dafür auch viel Geld investiert und in den Sand gesetzt. Das lässt sich offensichtlich klein reden. Deshalb der Appell an die Politik: Nutzt die Chance für die überfällige Energiewende! Wenn das gelingt, könnte man die Fehler der Vergangenheit leicht verschmerzen.

Ob hier etwas Konstruktives geschieht, möchte ich aber bezweifeln. Wie schon einmal dargestellt, versteht sich das politische System in den westlichen Demokratien als ein Organ der gesellschaftlichen Moderation. Wenn im nationalen System Veränderungen eintreten, versucht die Politik, die damit verbundenen Fehlentwicklungen zu puffern oder zu „reparieren“. Aber vor elf Jahren (2011) hat das Beratergremium der Bundesregierung (WBGU[1]) angesichts der Klimakrise eindringlich gefordert, den Reparaturbetrieb der Moderation aufzugeben und eher „gestaltend“ tätig zu werden. Die Forderung ist sicher richtig, aber die Rahmenbe-dingungen, unter denen eine Gestaltung möglich wäre, sind m.E. organisatorisch gar nicht oder nur bedingt vorhanden.

Regierungen bevorzugen Lösungen, die kurzfristigen politischen Nutzen bringen, und vernachlässigen systematisch die langfristige Perspektive. … Regieren verkommt zur regelmäßig wiederkehrenden Krisenbewältigung, zum Taumeln von einem Notfall in den anderen ….“[2]

Wenn unsere Regierung gestaltend wirken wollte, würden sich ihr schlagartig Gegner in den Weg stellen, wo vorher eitel Freude war. Eine Schlussfolgerung wäre, dass in unserer Gesellschaft eine wirkliche politische Gestaltung nur sehr eingeschränkt möglich ist. Wir bezeichnen Teile des politischen Systems als Regierung in der Erwartung, dass sie gestaltend wirken kann. Aber vielleicht hat sich die mit dem Regieren verbunden geglaubte Macht aufgelöst, zerfasert und wurde statt von der Regierung teilweise von anderen „Akteuren“ unserer Gesellschaft übernommen. Diejenigen, von denen wir glauben, dass sie führen sollten und könnten, sind aufgrund ihres Machtverlustes nur noch in der Lage, zwischen den zwischenzeitlich entstandenen neuen „Trägern der Macht“ zu moderieren. Gleichzeitig ist keiner der neuen Träger der Macht selbst in der Lage, seinerseits gestaltend zu wirken, weil auch ihnen die notwendige Macht und insbesondere die Legitimität zur Gestaltung fehlen. Es lassen sich nur noch solche Sachverhalte gemeinsam gestalten, die die Machtverhältnisse nicht verändern oder die als „Sachzwang“ erkannt zum Handeln zwingen und damit eine gestaltende Reaktion unvermeidlich machen.

Den Sachzwang als Mittel zur Gestaltung hat, so scheint es mir, so mancher Politiker begriffen. Sie haben ihre relative Machtlosigkeit in vielen Konstellationen erkannt und versuchen stattdessen die Möglichkeit zu nutzen, Sachverhalte so zu „führen“, dass sie in der jeweiligen Situation Chancen haben, zum Sachzwang zu werden oder sich als Sachzwang darstellen lassen. Damit kann den sonst widerstrebenden Beteiligten mangels Alternativen eine Zustimmung zu einer gestaltenden Entscheidung viel leichter abgerungen werden.

Mein Eindruck ist, dass unser demokratisches System zunehmend an Führungskraft verliert und die politische Vielstimmigkeit nicht von der Sache getragen und von der Aufgabe der Politik bestimmt werden, sondern von Empörung, Aufmerksamkeitserzeugung, politischem Überlebenstricks und internem Gerangel getragen werden. Dabei tritt die Gestaltung der sachlichen Problematik m.E. in den Hintergrund.

Helmut Willke kommt auf einer ausführlicher dargestellten Basis zu einem ähnlichen Urteil:

Bemerkenswert ist die Einordnung gegenwärtiger Industriegesellschaften als ‚dahintreibend‘. Diese frühe Diagnose Etzionis[3], die vor allem vom Bild der USA geprägt und auf diese bezogen war, ist auch heute keineswegs überholt. Alle westlichen Demokratien haben sich von ihren je gegenwärtigen Problemen treiben lassen und ihre Zuflucht in kurzfristigem Krisenmanagement gesucht. Wäre der Gewöhnungseffekt nicht so massiv, so müssten wir entsetzt sein über die Steuerungsleistung moderner Demokratien: Sie schieben ein Millionenheer von Arbeitslosen vor sich her und Schuldenberge, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen; sie vergeuden knappe Ressourcen, als gäbe es kein Morgen und vernachlässigen Zukunftsinvestitionen, als gäbe es keine nächsten Generationen. Sie lassen sich von der Rücksicht auf den nächsten Wahltermin beherrschen und missverstehen diese Borniertheit als Herrschaft des Volkes. Sie unterwerfen sich Technologien – Beispiele: Autoverkehr, Energieerzeugung oder das globale Schattenbankensystem -, die den Verwertungsinteressen privater Anleger entsprechen, ohne die sozialen Auswirkungen, Folgekosten, Risiken und Alternativen ernsthaft zu prüfen.

Die gesellschaftliche Steuerungsleistung politischer Demokratie ist bewundernswert, vergleicht man sie mit derjenigen anderer real existierender politischer Formen. Aber sie ist miserabel, sobald man sich von diesem bequemen Maßstab löst. Gemessen an ihren selbst erzeugten Problemen gleicht politische Demokratie mit fortschreitender Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften einem Kamikazeunternehmen. Solange es möglich war, alle internen Widersprüche politischer Demokratie mit Verweis auf abschreckende Alternativen (und äußere Bedrohung) zu überspielen, war auch die Legitimität des Projektes nahezu selbstverständlich. Aber diese Automatik hat sich mit der Implosion des Sozialismus und der Explosion der sozialen und ökologischen Probleme moderner Demokratien überlebt (Rosenau 1999). Entweder die Demokratie als Steuerungsmodell korrigiert ihren Kurs oder sie gerät in Gefahr abzustürzen.“[4]

Diese Diagnose aus 2014, sofern sie unterändert zutrifft, ist nicht erfreulich und setzt der einfachen Forderung der WBGU aus 2011 deutliche Grenzen. Es genügt nicht die Forderung zu formulieren. Man muss auch Wege und Strukturen finden, dieser Forderung in einem demokratischen System Geltung zu verschaffen. Das ist eine Herausforderung, für die die westlichen Demokratien m.E. bisher noch keine handhabbare Lösung gefunden haben. Und das Demokratie-Problem könnte ein größeres Gewicht entwickeln als die virulente Klimakrise. Die Klimakrise entwickelt sich zum Sachzwang und wird uns und damit die Politik unnachgiebig und dauerhaft vor sich her treiben.

Ob wir aber in der Lage sein werden, unsere Demokratie so umzuformen, dass der unverzichtbar demokratische Kern erhalten bleibt, aber die liebgewonnen, systemschädlichen Privilegien aufgehoben werden können, steht noch nicht fest.

Willke hat in einem Youtube Beitrag aus dem Jahre 2017 zum Ausdruck gebracht, welche Eigenschaften der Demokratie er als zentrale Komponenten erhalten wissen will. Er führt dort fünf zentrale Gesichtspunkte auf:

  • Legitimität
  • Partizipation
  • Transparenz
  • Effektivität und
  • Rechenschaftspflicht

Wir leben in einer Zeit des Wandels. Und Willke fragt sich zu Recht, ob die Erwartung sinnvoll ist, dass in einer Umwelt des Wandels sich die Idee der Demokratie dem formalen Wandel entziehen kann? Sein Ansatz fußt auf den fünf Komponenten, die sich zwar graduell verändern können, die aber für eine Demokratie unverzichtbar seien.

Bei dem, was man politische Gestaltung nennen könnte, sind zuvorderst die Komponenten Transparenz und Effektivität betroffen. Wenn wir mehr Gestaltungskraft fordern, wäre es auch angebracht, der Rechenschaftspflicht ein höheres Gewicht beizumessen. Wenn Gestaltung unser Ziel ist, müssen auch erweiterte Partizipationsmöglichkeiten das Mehr an organisierter Effektivität ausgleichen und dem Handeln auch eine Richtung geben, die der Legitimität eingebunden wird.

Demokratie verbindet man eng mit den historischen Begriffen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aus dem 17. Jahrhundert. Das beschreibt so etwas wie die Ziele der modernen Demokratie. Die fünf Punkte von Helmut Willke konkretisieren organisationale Gestaltungsprinzipien einer nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit strebenden Gesellschaft. Oder anders gewendet: wenn eine Gesellschaft sich entlang der fünf Prinzipien strukturiert, könnten die drei Ziele gewissermaßen (organisch) als Emergenz entstehen, d.h. die drei Ziele könnten sich aus dem gesellschaftlichen System  herausbilden (emergieren), ohne dass man sie ständig verbalisiert oder bewusst neu zu gestalten versucht. Diese Vorstellung bleibt vorerst eine These. Sie hätte aber den großen Vorteil, dass man die Ziele nicht immer wieder auf die fokale Situation aufpfropfen müsste, was regelmäßig erhebliche, möglicherweise überflüssige „Reparaturaktivitäten“ auslöst, weil die Systemzusammenhänge nicht verstanden werden.

Der erste große Aufbruch zu einer Gestaltung von Gesellschaftspolitik war die Untersuchung von Amitai Etzioni über „Die aktive Gesellschaft“. Die Veröffentlichung hat 1971 in den politischen und sozialen Wissenschaften wie eine Bombe eingeschlagen. Leider hat sich parallel der Neoliberalismus breit gemacht, der eine simple Ideologie anbot und der Politik Entlastung dadurch versprach, dass er Glauben machte, der Markt würde es schon richten. Das System, das Etzioni als Gesellschaft ansprach, hat der Neoliberalismus negiert: Es gäbe nur egoistisch handelnde Individuen. Nach mehreren Desastern haben die meisten jetzt gemerkt, dass dieser „Marktglaube“ zu simpel strukturiert ist, um eine hochkomplexe Gesellschaft zufriedenstellend steuern zu können. Als Folge hat der WBGU 2011 richtigerweise den Anspruch auf eine Gestaltung in den Raum gestellt. Das Dumme ist nur, der Raum wird m.E. nur von ganz wenigen wissenschaftlich aufbereitet. Wir können deshalb auch nicht auf hinreichende Erkenntnisse und ausreichend komplexe Strukturen zurückgreifen, auf die eine demokratisch fundierte „Gestaltung“ gegenwärtig gesichert aufbauen könnte. Umso vorsichtiger und umsichtiger sollten wir vorgehen. Ob uns aber die konkrete Lage dazu die notwendige Zeit lässt, bleibt zu hoffen.


[1] WBGU, Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, 2011

[2] King, Alexander u. Schneider, Bertrand: Die globale Revolution, ein Bericht des Rates des Club of Rome, 1991, in: SpiegelSpezial (Nr.2/1991), S. 104, zitiert nach H. Willke, Systemtheorie III, 2014, S. 22

[3] Etzioni, Amitai, Die aktive Gesellschaft, 1975; die englische Fassung (The Active Society) wurde 1971 veröffentlicht.

[4] Willke, Helmut, Systemtheorie III, Steuerungstheorie, 2014, S. 42f

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Ein Gesellschaftsvertrag zur Nachhaltigkeit

Die WBGU[1] hat unter dieser Überschrift in der Veröffentlichung[2] von 2011 (Hauptgutachten/Flagship Report) in englischer Sprache eine ganze Reihe von bemerkenswerten Gedanken zusammengetragen. Die Ausführungen sind zwar schon wieder über ein Dekade alt, aber die dort gemachten Vorschläge haben nach meiner Einschätzung keine rechte politische Resonanz gefunden, mit anderen Worten: es ist nur das wenigste davon realisiert.

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Die große Zahl von Theorieansätzen, Fakten und angeführten Einzelheiten bewerten zu wollen, übersteigt mein Wissen und auch meine Kompetenz. Die Einzelaussagen erscheinen für sich genommen nachvollziehbar und schlüssig, aber ich fühle mich mit meiner Frage „Wie soll das funktionieren?“ allein gelassen – meines Erachtens fehlt da etwas Wesentliches! Ich will versuchen, diese Lücke zu umreißen.

Das Gutachten greift die Idee eines Sozialvertrages auf, die in der Vergangenheit schon bei vielen klassischen Autoren Anwendung gefunden hat. Dabei schauen diese Autoren meist in die historische Entwicklung und glauben dabei so etwas wie einen „Sozialvertrag“ zwischen den gesellschaftlichen Kräften entdecken zu können. Dieser Vertrag wurde real nie geschlossen, sondern Beobachter des Geschehens haben meist nachträglich konstatiert, dass dieses Zusammenspiel in der Abstraktion vertragsähnliche Strukturen besitze. Um es konkret zu machen: es gab um 1750 herum keine Blaupause, wie der Kapitalismus zu gestalten sei – er hat sich in kleinen, manchmal auch größeren Schritten zu seiner heutigen Form evolutionär (also weitgehend ungesteuert) entwickelt.

Das Gutachten versucht nun diesen „Vertrag“ als Metapher zu verwenden, um eine gesellschaftliche Wende weg vom Kapitalismus und hin zur Nachhaltigkeit griffig zu beschreiben. Es ist der Versuch, den anstehenden Wandlungsprozess als Blaupause (in Form eines groben Planes) zu beschreiben. Dabei ist das „weg vom Kapitalismus und hin zur Nachhaltigkeit“ meine Interpretation. Das Gutachten enthält sich da jeder Stellungnahme. Ich kann mir aber nicht vorstellen, wie Neoliberalismus und Nachhaltigkeit unter einen Hut passen soll, ohne dass sich der Kapitalismus massiv verändert.  

Wenn man das Gutachten genauer liest, so reduziert sich die „Blaupause“ der WBGU auf die Aktionsfelder Energie, Urbanisierung und Landnutzung. Diese drei Aktionsfelder, so mein Eindruck, seien jene Bereiche, in denen Wandel aufgrund des unmittelbar hohen Problemdrucks am vordringlichsten sei. Das Gutachten versucht, einen Sozialvertrag zu mehr Nachhaltigkeit zu schaffen, beschränkt sich aber auf diese drei Aktionsfelder. Damit wird deutlich, dass nicht unser Wirtschaftssystem (der Kapitalismus) zur Diskussion steht, sondern nur die genannten Bereiche. Es ergibt sich die Frage, ob diese „Teilrenovierung“ überhaupt funktioniert ohne sich Gedanken zu machen, wie sich die ‚Renovierung‘ in die anderen (restlichen) Teile von Wirtschaft und Gesellschaft auswirken könnte. Lässt sich das Wirtschaftssystem sinnvoll in einen Teil spalten, der so etwas wie Nachhaltigkeit praktiziert, neben einen zweiten Teil des Systems, der nach der alten Devise „weiter so“ marschiert? Das erscheint nicht praktikabel. Das Gutachten schenkt diesem Problem aber keine Beachtung.

Es ist mir verständlich, dass diese Frage bewusst ausgeklammert ist, weil die Komplexität der nachfolgenden Zusammenhänge jeden Erkenntnisgewinn aus dem Denken in Ursache-Wirkung unmöglich macht. Wenn wir dem Gutachten folgen und uns auf die drei Aktionsfelder beschränken, sonst aber keinen generellen Wandel z.B. in den sogenannten „handlungsleitenden Prinzipien“ vorsehen, gibt es Konflikte ohne Ende. Unser Wirtschaftssystem lebt von einer Reihe von handlungsleitenden Prinzipien, wie z.B. die kurzfristige Orientierung des Handelns, eine Wertorientierung exklusiv auf Basis des Geldes, das Wachstum, das als unbegrenzt gilt, u.a.. Die Nachhaltigkeit gehört bisher eindeutig nicht dazu. Angenommen, die drei Felder Energie, Urbanisierung und Landnutzung folgen künftig nachhaltigen Prinzipien, wie sollen sich dann der „Rest“ des Wirtschaftssystems bzw. die Gesellschaft verhalten? Müssen sie nachziehen? Ist das so ohne jede Untersuchung der Problematik ratsam? Oder führt der Mangel an Abstimmung in ein Chaos der Zuständigkeiten?

Die meisten der Autoren, die ich gelesen habe, gehen davon aus, dass die Nachhaltigkeit global eingeführt werden muss. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, aber wann wird das jemals erfüllt sein? Ist es nicht sinnvoller und pragmatischer, einen nationalen Weg einzuschlagen, der stets zur globalen Seite hin offen ist, der aber nicht ständig wartet, bis auch das letzte „Kamel“ seinen Platz in der globalen Karawane gefunden hat. Wenn ein Land von der wirtschaftlichen Bedeutung wie Deutschland sich tatsächlich auf den Weg der Nachhaltigkeit machen würde und damit auch noch Erfolg hat, ist es nur eine Frage der Zeit, wann die „langsameren Kamele“ nachziehen werden und von unseren nationalen Erfahrungen profitieren wollen. Sollten wir es nicht schaffen, diesen Weg erfolgreich zu gehen, werden wir auf einigen Feldern der Transformation wichtige Erfahrungen gesammelt haben und daraus dann künftig Vorteile ziehen können.

Ein großes Anliegen der WBGU ist eine Veränderung der politischen Governance von einem moderierenden Staat zu einem gestaltenden Staat (siehe auch meinen Beitrag „Moderator oder Gestalter“ vom 29.12.2021). Dabei sind erfahrungsgemäß Schwierigkeiten zu erwarten, weil Regierungen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen, die sich schlecht in die Idee der WBGU einfügen lassen:

Regierungen bevorzugen Lösungen, die kurzfristigen politischen Nutzen bringen, und vernachlässigen systematisch die langfristige Perspektive. … Regieren verkommt zur regelmäßig wiederkehrenden Krisenbewältigung, zum Taumeln von einem Notfall in den anderen – Finanzen, Soziales, Zahlungsbilanz, Arbeitslosigkeit, Inflation u. dergleichen.“[3]

Wenn diese Aussage unverändert stimmt, hat es wenig Sinn, darauf zu vertrauen, dass der gestaltende Staat sich anders verhält. Es ist das gleiche Personal und es sind ohne grundlegende Änderung der politischen Strukturen die gleichen eingefahrenen Verhaltensweisen. Das politische Verhalten folgt einer langjährig gewohnten Strategie. Wir dürfen davon ausgehen, dass die politischen Strukturen hier gegenwärtig kaum eine andere Verhaltensweise zulassen. Dann ist aber der Vorschlag, einen gestaltenden Staat einzuführen, zwar wünschenswert, aber äußerst fragwürdig, es sei denn, man stellt ganz klar auch die gegenwärtigen politischen Strukturen in Frage. Das ist aber im Gutachten nicht der Fall.

Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die drei Aktionsfelder einer grundlegenden Neustrukturierung unterliegen werden. Es geht nicht um Krisenbewältigung im Sinne von Reparatur, es geht um Neugestaltung. Es könnte sehr gut sein, dass diese Aufgabe die Politik schlicht überfordert, weil sie seit Jahrzehnten nur gewohnt ist, Reparaturdienste bereitzustellen. Um Neues langfristig zu gestalten, wird es sehr viel Unterstützung von allen gesellschaftlichen Seiten bedürfen. Diese Unterstützung müsste organisiert (strukturiert) und systematisch vorbereitet werden und wäre m.E. mit Sicherheit Teil des Inhalts des neuen Sozialvertrages. Dazu nimmt das Gutachten aber keine Stellung.

Der gestaltende Staat soll sich die erhöhte Gestaltungsfähigkeit durch eine verstärkte bzw. veränderte Bürgerbeteiligung ‚ausgleichen‘. Einige Vorschläge beziehen sich dabei auf den „deliberativen Partizipationsprozess“ (ein schrecklicher Begriff), der das Mehr an politischer Gestaltung  durch ein Mehr an Beteiligung ausgleichen soll. Es ist ein Verfahren, bei dem z.B. hundert BürgerInnen zufällig ausgewählt werden, die in etwa der Schichtung unserer Gesellschaft entsprechen. Sie übernehmen die Aufgabe freiwillig und ehrenamtlich und repräsentieren insofern „das Volk“. Die Teilnehmer werden von neutralen Fachleuten mit den anstehenden Problemen vertraut gemacht (Wissensvermittlung) und treffen sich dann in wechselnden Kleingruppen, um die Fragestellungen mit unterschiedlichen Moderatoren zu diskutieren. Das Ergebnis wäre ein „Bürgergutachten“, das weitgehend frei von Lobbyeinfluss entsteht und dem Parlament als Richtschnur zur Verfügung gestellt wird. Dieses Verfahren wird von der WBGU kurz angeschnitten, aber nicht weiterverfolgt, obwohl das Verfahren inzwischen nach Pressemitteilungen weltweit in über 400 Fällen erfolgreich angewendet wurde[4]. Dieser Ansatz ist nur einer von Vielen.[5]

Nun kommt eine ganz grundsätzliche Frage auf: Ist das sehr detailliert aufgebaute Gutachten der WBGU geeignet, der Politik als „Handreichung“ für ihr Transformations-Geschäft zu dienen? Dabei sollte man gedanklich versuchen, sich in den Stuhl eines Vertreters der Politik zu versetzen. Der Tag eines Politikers hat auch nur 24 Stunden und sie tun mir leid, wenn man die Erwartung aufrechterhält, dass dieses Gutachten mit der Fülle an komplexen Zusammenhängen von ihnen gelesen und auch verstanden werden soll.

Dabei ergibt sich für mich noch eine völlig andere Frage: Ist der Ansatz überhaupt zielführend? Wir sprechen ja von einem Sozialvertrag (Social Contract for Sustainability) und diskutieren dann im Gutachten Energieproduktion, -abhängigkeit und -nutzung, Verstädterung (Urbanisierung, Migration) und Landnutzung (Verwaltung eines nicht vermehrbaren Gutes). Wo bitte sind da Aspekte, die wir im Rahmen einer ‚Sozialvertrags-Konstruktion‘ neu strukturieren müssten?

Wenn die Autoren des Gutachtens die Aktionsfelder Energie, Urbanisierung und Landnutzung diskutieren, bewegen wir uns im Materiellen und Quantitativen, also in Fragen des konkreten Handelns. Im Rahmen eines Sozialvertrages sollte es m.E. aber um abstrakt politische (qualitative) Gesichtspunkte gehen: Wie trägt man die in den Aktionsfeldern entwickelten Strategien und Prinzipien an die Gesellschaft heran, so dass man Aussichten hat, für das geplante Vorgehen die notwendige Unterstützung und Legitimation zu erhalten. Der Politiker kann die sachliche Seite der Vorschläge nur schwer beurteilen. Er ist vermutlich froh, wenn er sie im Grundsatz verstanden hat. Sein Interesse liegt darin, dass er Hilfestellung erfährt, wie er die als „richtig“ erkannten Schritte in die Öffentlichkeit tragen kann und sich dabei die Unterstützung wesentlicher politischer Kreise sichert. Auf der Vorstellung, dass sich sachlich Sinnvolles von selbst durchsetzt, sollte man schon allein aus Gründen der Lebenserfahrung nicht beharren.

Wir bewegen uns hiernach mit der Idee eines Sozialvertrages nicht mehr auf irgendwelchen materiellen Aktionsfeldern, sondern auf dem Feld der politischen Organisation und den Umsetzungserfordernissen. Es geht also um die Frage, wie kann die Politik strategisch sinnvoll vorgehen, um am Ende das als „richtig“ Befundene realisieren zu können. Da wir offensichtlich der Meinung sind, dass der bisherige „Sozialvertrag“ (oder was wir dafür halten) es nicht hergibt, Nachhaltigkeit zu unterstützen, müssen wir eine Änderung dieses Kontraktes herbeiführen. Dazu müssen wir sowohl die Struktur als auch die Prozesse des gegenwärtigen gesellschaftlichen als auch des politischen Systems verändern. Das ist aber mit Aussagen zur Transformation der Aktionsfelder Energie, Urbanisierung und Landnutzung zu mehr Nachhaltigkeit nicht zu leisten. Das wichtigste Element fehlt – das wäre der veränderte Sozialvertrag, der bestimmt, wann und wie die Transformation ihre politische Legitimation finden kann und wird.

Neben der Frage des neuen Sozialvertrages bleibt die zweite Frage offen: Was ist eigentlich Nachhaltigkeit? Es fällt auf, dass dieser Aller-Welts-Begriff von niemanden klar umrissen werden kann, ganz besonders nicht dann, wenn es konkret wird. Das Problem durchzieht alle mir bekannten Gutachten der WBGU und auch andere Veröffentlichungen zu diesem Thema. Wir sind mit der Nachhaltigkeit immer in der Nachbarschaft zum Gemeinwohl – jeder meint zu wissen, was gemeint ist, aber wenn es dann spitz zuläuft, bleibt nichts mehr übrig, was man irgendwie greifen bzw. justiziabel verwenden könnte. Möglicherweise ist das der Grund, warum der deutsche Text des Gutachtens von einem „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ spricht und nur der englische Text einen „Social contract for Sustainability“ beschreibt. Die ‚Große Transformation‘ klingt gut, aber fragt bitte nicht nach dem Inhalt. Das ist eine riesige Leerformel, gut gewählt im Hinblick auf die Politik, aber absolut nutzlos, wenn man nach dem konkreten Inhalt fragt oder den Begriff verwenden möchte, um etwas Konkretes damit aufzubauen.

Nun haben wir das Problem, dass wir einen Sozialvertrag erwarten, wohl wissend, dass es diesen Vertrag im besten Fall nur symbolisch geben kann. Wer sollte ihn formulieren, wer schreibt ihn nieder und wer unterzeichnet ihn legitimer Weise? Und dann ist der Gegenstand des symbolischen Vertrages – die Nachhaltigkeit – ein Begriff, den bisher niemand richtig festmachen und dessen Bedeutung sinnvoll eingrenzen kann und will. Aber wir sind uns vermutlich einig, dass es so etwas geben sollte: eine ‚Charta‘ zur Nachhaltigkeit und ihre breite politische Unterstützung. Das klingt beinahe wie die Quadratur des Kreises. Wenn das gelänge, sollte man bitteschön auch den Gedanken des Gemeinwohls gleich mit verarbeiten. Das Gemeinwohl hätte positiv das Wohl der Gesellschaft im Blick und das Postulat der Nachhaltigkeit bezöge sich auf die Vermeidung (schädlicher) Einwirkungen der Gesellschaft auf ihre natürlichen Lebensgrundlagen.

Unsere Verfassung wäre offensichtlich der passende Ort für die Begriffe Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. Der Verfassung müsste aber unbedingt ein Ausführungsgesetz nachgeschaltet sein, das dann den Inhalt der unbestimmten Rechtsbegriffe (Nachhaltigkeit u. Gemeinwohl) hinreichend fixiert und dringend auch eine Konkretisierung des Begriffs der Sozialbindung des Eigentums (Art 14, II GG) mit einschließt. Es muss letztlich möglich sein, Nachhaltigkeit, Gemeinwohl und Sozialbindung einzuklagen. Dazu müssen die Regeln justiziabel gestaltet werden. Wenn das gelingt, kann man auch zu Recht von gesellschaftlichen Zielen sprechen, die für jedermann verbindlich sind. Vorher bleibt es nur Wunschvorstellung und viel heiße Luft!


[1] Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen

[2] Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation (2011) oder „World in Transition –A Social Contract for Sustainability (engl. Fassung)

[3] Alexander King und Bertrand Schneider (1991), S. 104, Die globale Revolution, ein Bericht des Rates des Club of Rome, in: SpiegelSpezial (Nr. 2/1991), zitiert nach H. Willke, Systemtheorie III (2014), S. 22

[4] Siehe den ARTE 42-Beitrag vom 18.09.2021 mit dem Titel: „Sollen wir losen oder wählen?“

[5] Vgl. z. B. H. Willke (3.2.2017),  https://www.youtube.com/watch?v=M9fg2xFzJAw

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