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Ein etwas anderer Ansatz (III): mit dem Risiko tanzen?

Die Frage nach der Zukunft unserer kommenden Generationen wird gegenwärtig, so mein Eindruck, aus zwei Blickwinkeln oder Perspektiven beleuchtet. Die eine Perspektive beurteilt das Problem aus der Sicht der Produktion bzw. des Ressourcenverbrauchs. Die Aussagen zu dieser Perspektive sind klar und eindeutig. Die andere Perspektive nähert sich der Frage über Begriffe wie Klimaneutralität (bis 2045 oder früher), Nachhaltigkeit, Energiewende u.v.a.. Dieser Ansatz ist m.E. hochgradig Technologie lastig. Man hat nicht den Eindruck, dass die Vertreter der jeweiligen Perspektive von der gleichen Problemlage sprechen bzw. die gleichen Ziele verfolgen.

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Im Folgenden möchte ich versuchen die Perspektiven auf einem relativ abstrakten Niveau in seinen unmittelbaren erkennbaren Zusammenhängen gegenüberzustellen.

Grundlage

Beginnen wir mit der Problembeurteilung aus der Sicht des Ressourcenverbrauchs. Ausgangspunkt ist eine einfache und klare Aussage: Global gesehen verbrauchen wir (die Menschen) mit unserer Lebensweise (im Durchschnitt) etwa 1,7 Planeten[1]. Wir haben aber nur einen Planeten zur Verfügung. Die sich dieser Gegenüberstellung aufdrängende Lösungsstrategie lautet schlicht: Wir müssen alles tun, um innerhalb weniger Jahrzehnte unseren Verbrauch so zu reduzieren, dass sich der Verbrauch und das verfügbare Potenzial unserer Erde „die Waage halten“ können

Bei der Aussage fällt auf, dass sie offensichtlich mengenorientiert (und nicht wie üblich geldorientiert) ist. Das Problem, vor dem wir stehen, wird schlicht und ohne Schnörkel auf seine reale Basis zurückgeführt. Es ist ähnlich aufgebaut, wie der „Footprint“, der sich nicht auf einen Geldbetrag festnageln lässt, sondern deutlich macht, wieviel Hektar Ackerboden pro Einwohner notwendig sind, um unseren gegenwärtigen Verbrauch in Deutschland oder in Europa zu befriedigen. Dem steht eine Ackerfläche pro Person gegenüber, die unsere Erde verkraften könnte. Dieser Ansatz entzieht sich auf diese Weise elegant dem alles dominierenden ökonomisch monetären Ansatz.

Die andere Perspektive verweigert sich dem direkten Bezug und bringt lieber einen ‚Stellvertreter‘ ins Spiel: Man sagt nicht, dass wir unseren Verbrauch reduzieren müssen, sondern man erklärt dem staunenden Publikum, dass mit unserem Lebensstil zu viel CO2 in die Luft geblasen wird, dass sich deshalb das Klima zu verändern droht bzw. schon verändert hat. Man weist weiterhin darauf hin, dass wir nachhaltig wirtschaften sollen (was immer das heißen mag) und man diskutiert auch schon lange über die geplante Energiewende, bis dann der Einmarsch der Russen in die Ukraine und der verfügte Gaslieferstopp unserer abstrakten Diskussion ein Ende setzte und uns (und Europa) zum Handeln zwang.

Dabei bleibt die Frage offen, ob die Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise in der Lage sind, das eigentliche Problem (die Reduktion unseres Verbrauchs) zu lösen? Plakativ ausgedrückt nützt es wenig, wenn wir unseren CO2-Ausstoß auf eine Klimaneutralität durch neue technische Verfahren und ökonomische Anreize versuchen herunter zu fahren, aber gleichzeitig auf dem Verbrauchsniveau von 1,7 Planeten (oder inzwischen gar mehr) verharren. Wir haben nur Zeit und Chancen verloren und viel Geld verbrannt, das uns an anderer Stelle fehlen wird. Vergleichbares gilt für die Nachhaltigkeit. Sie nützt uns wenig, wenn wir nicht unseren Verbrauch senken. Wir müssen mit dem einen verfügbaren Planeten nachhaltig umgehen. Auf der Ebene eines Verbrauchs von 1,7 Planeten erscheint die Nachhaltigkeit sinnlos. Und der Technologie lastige Ansatz krankt insbesondere daran, dass jede Realisierung von neuer Technologie zur besseren ‚Beherrschung‘ der Klimakrise den Ressourcenverbrauch automatisch erhöht (ein sogenannter Rebound-Effekt).

Konsequenzen

Der Fokus auf dem Ressourcenverbrauch führt durch den Footprint-Ansatz auf den Kern des Problems. Er ist aber dem Publikum nur schwer zu vermitteln. Nach rd. 200 Jahren technologischer und ökonomischer Entwicklungsrekorde im Rahmen des kapitalistischen Systems erscheint es nicht opportun, festzustellen: „wir haben uns durch unseren Erfolg selbst in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Wir müssen nicht nur aufhören, vorwärts zu stürmen, wir müssen sogar zurück auf einen Punkt, der rd. 40% unter dem heutigen Ansatz liegt.“ Angesichts unserer Wohlstandskonditionierung, bei der eine Maskenpflicht schon auf erheblichen Widerstand stößt, wird es klar, dass ein solches Ansinnen zwar nötig und sinnvoll wäre, aber politisch nicht durchsetzbar ist. Dabei ist das große Hindernis, dass wir die Defizite des übermäßigen Verbrauchs zu Anfang noch gar nicht so recht spüren.

Niko Paech hat in einem Interview auf die Frage, wie denn der Übergang von unserer Wachstumsideologie auf eine von ihm vertretende Postwachstumsökonomie erfolgen könnte, einen amerikanischen Kollegen zitiert: entweder „by design“ oder „by desaster“. Er hat dabei nur die Bandbreite des Geschehens umrissen und hat sich nicht auf die eine oder andere Form festlegen lassen.

Wir sind betroffen, wenn das „desaster“ z.B. im Ahrtal zuschlägt, aber es ist für viele Menschen nicht so recht nachvollziehbar, dass das alles nur der Anfang ist. Das Desaster kommt nicht über uns wie eine biblische Apokalypse. Die Veränderung hat schon vor Jahrzehnten in kleinen Schritten eingesetzt, sonst wäre es den Verfassern der „Grenzen des Wachstums“ 1972 nicht möglich gewesen, ihr Gutachten so treffsicher und radikal zu entwickeln.

Wir haben aufgrund der fehlenden politischen Durchsetzungsmöglichkeit offiziell keine Krise des Ressourcenverbrauchs, stattdessen eine Klimakrise, also eine Stellvertreter-Krise. Es klingt viel netter und verbindlicher und ist für jedermann dank des ausführlichen täglichen Wetterberichtes mehr oder weniger persönlich anhand von Trockenheit, Starkregen, Windhosen, Wasserknappheit, u.s.w. spürbar und damit in Teilen nachvollziehbar. Aber durch die Namensänderung des Projektes ging der übermäßige Ressourcenverbrauch als Problemwahrnehmung beim Publikum verloren.

Wenn wir unverändert den übermäßigen Ressourcenverbrauch im Fokus hätten, so müssten wir unsere Wirtschaftsleistung innerhalb eines sehr überschaubaren Zeitraums um ca. 40 % reduzieren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass nach Realisierung einer solchen Reduktion unserer Wirtschaftsleistung das Thema „Klimakrise“ keine erwähnenswerte Bedeutung mehr hätte. Stattdessen starren wir heute auf die CO2 – Entwicklung und müssen feststellen, es läuft nicht in die gewünschte Richtung. Stattdessen steigt die CO2-Konzentration unverändert heftig. Diese Erkenntnis lässt mindestens zwei Überlegungen zu:

  1. Die Erwartungen in die Wirkungsweise der CO2-Maßnahmen werden nicht erfüllt, weil die Instrumente nicht die richtigen sind oder weil eine strikte Anwendung der Instrumente am politischen Willen scheitert.
  2. Der übermäßige Ressourcenverbrauch müsste durch Tonnen oder eine sonstige eindeutige Mengenangabe dargestellt werden. Durch den Transmissionsriemen CO2 gibt es zusätzliche Einflussgrößen, die die Unmittelbarkeit der Messung aufheben. Es fängt bei der Monetarisierung der CO2-Zertifikate an. Das lenkt systematisch vom Problem ab und verwirrt das geschätzte Publikum (was möglicherweise beabsichtigt ist).

Zurück zur Verbrauchsreduktion: Die angeführten rd. 40% Reduktion erscheinen notwendig, um den Verbrauch von ca. 1,7 Planeten auf einen Planeten zurückzuführen. Das ist zugegeben eine „Milchmädchenrechnung“, aber sie vermittelt ein Bild von der Bedeutung dieses Schrittes und von der Wucht der erforderlichen Maßnahme. Gleichzeitig wird es dem Leser vielleicht möglich, zu erkennen, dass die bisher eingeleiteten Maßnahmen angesichts der Wucht der Problemstellung etwas kleinkariert daher kommen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier nicht ehrlich nach einer ‚angemessen richtigen‘ Lösung des Problems gesucht wird. Die auseinanderstrebenden Interessen der Beteiligten dominieren den Ansatz. Der kleinste gemeinsame Nenner ist Grundlage der ‚Zusammenarbeit‘.

Die Wirtschaftswissenschaften kennen zwar Firmenzusammenbrüche und kollabierende Volkswirtschaften. Das Problem tritt auf wie ein ‚Schwarzer Schwan‘ (N. Taleb) und die Wirtschaftswissenschaften hoffen dann, den Zusammenbruch auffangen bzw. den Wiederaufbau unterstützen zu können. Aber mit Vorsatz die Wirtschaftsleistung einer globalen Volkswirtschaft um 40% möglichst geordnet herunterzufahren, steht in keinem Lehrbuch. Damit hat sich die Ökonomie in den letzten 200 Jahren mit Sicherheit nie befasst. Wir betreten damit komplettes Neuland.

Schon die Frage, ob es sinnvoll ist, weiterhin Wachstum zu produzieren, gilt als Verrat am orthodoxen ökonomischen Glaubensbekenntnis. Man strebt ständig zu den Sternen. Der letzte, der sich m.E. dezidiert mit dem Ende des Wachstumswahns befasste, war John Maynard Keynes, wobei er davon träumte, dass dann, wenn alle in einem angemessenen Wohlstand lebten, die Wochenarbeitszeit stark zurück gehen könnte. Er hat aber nicht mit der Gier und der chrematistischen Haltung (der Lehre vom Reichwerden) vieler der Beteiligten gerechnet.

Es gibt Ansätze für die Diskussion einer Wirtschaftsform, die ein gewisses Gleichgewicht einzuhalten in der Lage wäre (Steady-State-Economy). Aber diese Erkenntnisse hätten erst dann Erfolg, wenn wir die besagten 40% Reduktion realisiert haben. Wir wären dann auf einem Zustandsniveau, das Niko Paech im Rahmen der Postwachstumsökonomie in seinen Büchern zugrunde legt.

Mit anderen Worten: Nicht nur Wachstum ist keine Option mehr. Wir müssen als logische Folgerung aus der Erkenntnis einer deutlichen Übernutzung unserer Ressourcen unsere Wirtschaftstätigkeit herunterfahren. Aber es gibt m.W. keinen Plan, noch Teile, noch einen Ansatz eines solchen Plans. Alles, was wir wissen und diskutieren, setzt zu einem Zeitpunkt auf, nachdem die Reduktion schon erfolgt ist. Mit anderen Worten: die Wahrscheinlichkeit, dass die anstehende Transformation „by design“ erfolgt, ist mangels notwendiger Kenntnisse und Erfahrungen äußerst gering.

Das klingt pessimistisch, ist es aber nicht. Ich würde es bodenlos realistisch nennen. Richtig ist, wir stehen vor großen Herausforderungen, die wir zu kennen glauben und in Grenzen einschätzen können, aber aus politischen Gründen nicht lösen können. Aber glauben Sie nicht, dass der Weg hin zu unserem Wohlstand „by design“ erfolgte? Das übersteigt meine Vorstellungskraft. Die meisten Ereignisse, die uns als Problem treffen, geschehen nicht „by design“. Die Erwartung ist fatal, dass die Dinge einem Plan folgen oder durch ein Design gesteuert werden könne. Die meisten Veränderungen erfolgen disruptiv (by desaster). Es kommt darauf an, sie als solche möglichst frühzeitig zu erkennen, sich vorbereitet zu zeigen, um dann, wenn der „Schwarze Schwan“ gelandet ist, vernünftig mit kühlem Verstand zu handeln. Der Tanz mit dem Risiko endet nie. Es bleibt spannend!!


[1] Wie diese Zahl ermittelt wird, ob sie „richtig“ ermittelt wurde, ist dabei zweitrangig. Sie beschreibt den Zustand einer gnadenlosen Übernutzung des Planeten Erde auf die richtige und eindeutige Weise.

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Die Klimakrise und ihre Gegenspieler

Wenn man die Klimakrise als eine reale Bedrohung versteht, ist es sinnvoll, nicht nur nach Lösungen zu suchen, um sie erfolgreich abzuwenden. Es ist mindestens genauso wichtig, sich darüber Klarheit zu verschaffen, wer denn die jeweiligen Gegenspieler sind und welche Interessen sie verfolgen. Auch wenn man überzeugt ist, das „wir“ die Guten sind und die anderen die Bösen, sollte man trotzdem versuchen, die andere Seite bezüglich ihrer unterschiedlichen Interessen zu verstehen. Verstehen heißt ja nicht automatisch akzeptieren. Verstehen bietet die Möglichkeit, den Gegensatz ggfs. auszuhebeln oder zumindest den Konflikt zu reduzieren.

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Die ‚große‘ Lage

Die Gegenspieler sind zahlreich und sehr unterschiedlich in ihren Interessen. Die einfach gestrickten Gegenspieler sind die Krisenleugner. Sie halten das mit der Klimakrise beschriebene Szenario für grundsätzlich falsch, weil sie die wissenschaftliche Basis der Argumentation in Frage stellen, vielleicht auch gar nicht verstehen (wollen). Da spielt Verdrängung, Verunsicherung und intellektuelle Bequemlichkeit eine große Rolle. Sie können in den Szenarien keine Herausforderung bzw. Chance sehen, sondern befürchten nur das Schlimmste. Es sind jene Menschen, die gerne das „Weiter so“ favorisieren, bloß keine Veränderung in der vagen Hoffnung, dass das möglich sei. Das einzig sichere aber ist die Veränderung! Solange aber dieser Personenkreis die Veränderung nicht realisiert, gibt es ihnen das trügerische Gefühl, dass die Strategie des „Weiter so“ eine reale Option sei.

In Bezug auf die Klimakrise ist dieser oben genannte Teil der Bürger in der deutlichen Minderzahl. Die Mehrzahl der Bürger hat das Problem grundsätzlich verstanden und ist in gewissen Grenzen bereit, auch Beiträge zur Lösung zu leisten. Aber wir haben dank John Updike die Erkenntnis, dass es schwer ist, Menschen für eine Sache zu begeistern, wenn sie dafür bezahlt werden, dass sie die Sache nicht verstehen. Personen, die privat gerne anders handeln würden, sehen sich oft geschäftlich in ein institutionelles Korsett gezwängt, das den handelnden Personen zwanghaft „nahe“ legt, sich wider besserer Erkenntnis an die „überholten“ institutionellen Konventionen zu halten.

Wir haben uns über die letzten Jahrzehnte seit 1949 einen politischen und wirtschaftlichen Rahmen (das besagte Korsett) geschaffen, indem wir Institute (formale und informelle Regeln) und Institutionen (formale Organisationen) geschaffen haben, die unser gegenwärtiges Verständnis von Gesellschaft und Wirtschaft beeinflussen und unser gesellschaftliches Leben auch ein Stück weit steuern.

Das Wirtschaftssystem, das als Institution die meisten unserer Aktivitäten bestimmt, zeigt sich auch in mindestens zwei Lager gespalten. Einerseits anerkennt die Mehrzahl der führenden Persönlichkeiten des Systems in ihrer Funktion als Bürger die mit der Klimakrise ausgelöste Problematik. Ich bin mir aber nicht sicher, ob dieser Personenkreis in der Lage ist, wenn es darauf ankommt, die systemimmanenten institutionellen Konventionen zu durchbrechen. Dafür wurden sie aus der Sicht ihrer ‚Arbeitgeber‘, den Aktionären und Kapitalhaltern nicht berufen. Sie sind im Grunde auf das institutionelle „Weiter so“ verpflichtet. Man kann diese These auch an dem Institut des Gesellschafter-Geschäftsführers ablesen. Kleinere Unternehmen sind in dieser Beziehung deutlich flexibler. Diejenigen Unternehmen, deren institutionelles Korsett deutlich offener ‚gestrickt‘ ist, sehen darin oftmals eine reale Chance und warten (meist vergebens) auf klare Rahmenbedingungen aus den Reihen der Politik.

Die kognitive Dissonanz, der viele Vorstände aufgrund der Klimakrise ausgesetzt sind, führt dazu, dass die Vorstände den guten Willen demonstrieren, wenn es nichts kostet, aber insgeheim Think-tanks und andere Lobbyeinrichtungen teilweise massiv unterstützen, die dafür sorgen sollen, dass, wenn es zu Veränderungen kommt, diese möglichst weit in die absehbare Zukunft geschoben werden. Vorstände, die alle paar Jahre (beinahe routinemäßig) ausgetauscht werden, denken da auch ähnlich wie Politiker: Das Problem soll die nächste ‚Generation‘ lösen. Aber es gibt keine Zukunft, wenn wir das Problem nicht jetzt und sofort angehen. Noch sind wir in dem Korridor, in dem die Wissenschaft glaubhaft darstellen kann, dass das Problem zu lösen ist.

Neben dem institutionellen Rahmen, der durch Gesetze, formelle und informelle Regeln ziemlich rigide ist, gibt es auch noch Institute, die den Anschein vermitteln, dass sich hier Veränderungen anbahnen bzw. die Veränderung durch wenig politischen und gesetzgeberischen Aufwand verstärkt werden könnte. Das ist die institutionelle Seite, die sich nur sehr langsam bewegt. Die obersten Gerichte haben mit einigen wegweisenden Urteilen den Weg freigemacht, hier eine neue Richtung einzuschlagen.

Für die Privatwirtschaft ergeben sich aus der Entwicklung Situationen, die deutlich machen, dass Geschäftsmodellen, die jahrzehntelang als legal und erfolgreich galten, schrittweise die Geschäftsgrundlage entzogen wird, weil das Produkt, der Vertriebsweg oder die Produktionsweise den neuen Standards nicht mehr entsprechen können. Dieser Sachverhalt trifft nicht nur national, sondern auch global operierende Unternehmen. Einige Unternehmen haben sich auf die geschlossenen Investitionsschutzverträge berufen und verlangen vor privaten Gerichten unter Ausschluss der Öffentlichkeit horrende Summen, weil z.B. die Entscheidung, künftig auf fossile Brennstoffe verzichten zu wollen, deren globale Geschäftsmodelle mittelfristig in Frage stellen. Dieses wirtschaftliche Terrain wird von Seiten der oft mächtigen Konzerne sicher nicht kampflos aufgegeben, wobei die offene Konfrontation meist vermieden und lieber im Halbdunkel der Hinterzimmer gekämpft wird, um in der Öffentlichkeit kein allzu schlechtes Bild abzugeben.

Man könnte als Ausnahme beispielhaft Russland anführen. Die Annexion von Teilen der Ukraine ist der krampfhaft und völkerrechtswidrig herbeigeführte Anlass, um einen Krieg vom Zaun zu brechen. Aber stellen Sie sich die Lage Russlands vor, wenn am Ende große Teile der westlichen Welt auf fossile Energieträger verzichten könnten. Dann stünde das russische Geschäftsmodell vor großen wirtschaftlichen Problemen. Also lohnt es sich möglicherweise aus russischer Sicht, ein Feuer in der Ukraine zu entzünden, bei dem dann die verweigerten Energielieferungen Russlands an Europa wegen der Unterstützung der Ukraine gleichzeitig die Ernsthaftigkeit europäischer Kohärenz bezüglich der Abschaffung fossiler Brennstoffe auf den öffentlichen Prüfstand stellen. Bisher zeigt diese unterstellte Strategie nicht den von Russland gewünschten Erfolg. Wir, Europa, sind aber aufgeschreckt und entwickeln Maßnahmen für eine Energiewende in einem Umfang, den wir in ruhigen Zeiten in den kommenden 15 Jahren nicht geschafft hätten.

Ein besonders beharrendes Element stellt unsere öffentliche Verwaltung dar. Sie ist darauf getrimmt, Sorgfalt vor Geschwindigkeit zu repräsentieren. Sie ist auch ohne Zweifel ein Garant dafür, dass vor dem Gesetz die Mehrzahl der Menschen gleich behandelt wird. Aber wir haben bei allen unseren Regelungen, die wir in den letzten Jahrzehnten getroffen haben, das ungeheure Beharrungsvermögen dieser Institutionen übersehen. In der gegenwärtig variablen Situation mit ihren zusätzlichen Zeitrestriktionen für mögliche Problemlösungen und dem institutionellen Mangel an Kreativität zeigt sich die Öffentliche Verwaltung von ihrer schlechtesten Seite. Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass auch hier der Vorwurf des „Kaputtsparens“ als Folge der neoliberalen Ideologie nicht von der Hand zu weisen ist. Selbst wenn wir es schaffen, den institutionellen Rahmen neu oder besser zu definieren, bis er in der öffentlichen Verwaltungspraxis ankommt, könnte es zu spät sein. Wenn wir akzeptieren, dass die Privatwirtschaft vor erheblichen Veränderungen steht, weil sich ein großer Teil der vorhandenen Geschäftsmodelle so nicht weiterführen lassen, so wäre es hilfreich, wenn die öffentliche Verwaltung als Leitlinie dienen könnte. Das ist aus meiner Sicht Wunschdenken.

Die ‚kleine‘ Lage

Das Institut der CO2-Emissionen entlarvt heute eine Vielzahl von Verhaltensweisen als nicht mehr sinnvoll bzw. nicht mehr verantwortbar. Alle reden davon! Die Zahl der Resolutionen ist gewaltig, aber nur wenige tun etwas! Jeder Ressourcenverbrauch löst CO2-Emissionen aus. CO2 gilt deshalb als der Indikator für eine nachhaltige Existenz.

Die CO2-Emissionen wachsen gegenwärtig in beängstigenden Schritten. Von einem Rückgang, wie so oft gefordert, sind wir global und in Europa meilenweit entfernt. Das Ziel von 1,5° Erderwärmung wurde längst gerissen, aber insbesondere die Politik spricht nicht gerne darüber, um ihr Versagen auf diesem Felde zu kaschieren.

Nehmen wir für die weitere Betrachtung beispielhaft das Institut des Eigentums. Mit Eigentum verbinden wir i.d.R. ein gewisses Maß an langfristiger Nutzung, sonst würden wir nicht von Eigentum, sondern von Verbrauch sprechen. Ein bedeutender Ausdruck von Eigentum ist i.d.R. das Institut Grund und Boden mit den damit meist verbundenen Gebäuden.

Bauen ist eine der Aktivitäten in unserer Gesellschaft, die die größten CO2-Emissionen verursacht. Wir verbinden mit Bauen im herkömmlichen Sinne eine Konstruktion für eine Nutzungsdauer von hundert und mehr Jahren. Das ist nach meinem Wissen schon lange nicht mehr der Fall. Wir bauen heute, wenn es gut geht, für vielleicht 30 – 50 Jahre und gehen schon beim Bauen davon aus, dass insbesondere das gewerbliche Gebäude in oder nach dieser Zeit einfach abgerissen wird, weil die heutige Bauqualität eine längere Lebensdauer gar nicht zulässt. Häufig wird es damit begründet, dass das Gebäude nach dieser Zeit „technisch“ völlig veraltet sei, was immer das bedeutet: Man könnte daraus auch schließen, dass die Technik so verwendet wird, dass keine längeren Laufzeiten möglich sind (Stichwort: geplanter Verschleiß). Aus der Sicht der CO2-Reduktion wäre es jedoch sinnvoll, die Lebensdauer eines Gebäudes auf hundert (und mehr) Jahre zu planen und während dieser Zeit eine oder zwei Renovierungen oder Sanierungen vorzusehen. Wenn man bei der Planung des Gebäudes die zu erwartenden Sanierungen aktiv vorsieht, wird es auch möglich, die dann anfallenden Sanierungen kostengünstig und werthaltig durchzuführen.

Wie könnte man den Fokus auf das Bauen von der gegenwärtig geübten Kurzfristigkeit auf eine langfristige Perspektive verschieben? Eine vielleicht laienhafte Lösung könnte m.E. wie folgt aussehen: Jedes Gebäude erhält einen „CO2-Rucksack“, der die Tausenden von Tonnen CO2, die bei der Errichtung des Baus entstanden sind, in Erinnerung hält. Die Größe des Rucksackes wird offiziell fixiert, in dem die verbauten qm3 mit einer durchschnittlichen CO2-Tonnage/qm3 bewertet werden. Der CO2-Rucksack wird über die geplante Lebensdauer (100 oder mehr Jahre) linear abgeschrieben.

Soll das Gebäude verfrüht nach z.B. 25 Jahren abgerissen werden, so hat der (neue) Eigentümer neben dem Erwerbspreis auch 75% der Tonnage des CO2-Rucksacks multipliziert mit dem dann gültigen Tonnagepreis für CO2 aufzubringen, weil durch die Abrissabsicht der ursprüngliche CO2-Rucksack nicht über die geplante Laufzeit abgeschrieben werden kann. Das verteuert den geplanten Neubau erheblich, so dass dadurch die Sanierung (mit wesentlich geringerem CO2-Ausstoß) der bestehenden Substanz gefördert wird.

Das Eigentum-Institut scheint sich auch auf einem anderen Gebiet zu verändern. Waren wir über viele Jahre stolzer Besitzer eines eigenen Pkw‘s, so wird der Pkw-Besitz in den Metropolen von der jüngeren Generation eher als lästig empfunden. Durch Staus, Parkplatzsorgen und –kosten, sowie die Tatsache, dass der Pkw meist 22 von 24 Stunden herumsteht, wird allmählich einer ganzen Generation klar, dass Eigentum an einem Pkw überflüssig sein könnte. Wenn man einen Pkw benötigt, kann man ihn stattdessen mieten. Das Automobil verliert seinen hohen Status und wird eher zum temporären Konsumartikel.

Ergänzend wäre ein Tempolimit eine symbolische Geste der Politik, um zum Ausdruck zu bringen, dass Rasen ein etwas pubertäres Verhalten verkörpert und im Laufe einer Generation zu überwinden wäre. Mit dem Tempolimit ist es wie mit dem Rauchen in öffentlichen Räumen: Einmal eingeführt will keiner mehr darauf verzichten, weil die Vorteile einfach offensichtlich sind. Nur die FDP verbindet damit ihren etwas verschrobenen Freiheitsbegriff und übersieht, dass unsere Bevölkerungsdichte und die damit verbundene Pkw-Dichte es einfach unsinnig erscheinen zu lassen, Rasern ein fragwürdiges Alibi zu geben.

Wenn wir diesen Gedanken weiterspinnen, so gibt es eine Vielzahl von „Besitztümer“, die wir unser Eigen nennen, aber, wenn wir ehrlich sind, sie nur ein oder zweimal im Jahr benutzen. Es ist im Grund eine riesige Ressourcen-Verschwendung, solche nicht regelmäßig benutzten Dinge ins Eigentum des Einzelnen zu überführen. Dabei handelt es sich meist um höherwertige Werkzeuge, höherwertige Gartengeräte und vieles andere mehr. Wir könnten diese Geräte, wie das übrigens viele schon tun, für ein kleines Geld einfach bei Bedarf temporär mieten.

Ohne das Eigentum-Institut grundsätzlich in Frage zu stellen, zeigen diese paar Beispiele, wie sich unser Eigentumsbegriff Schritt für Schritt verändert. Würde sich diese Erkenntnis auch in der Politik durchsetzen, wäre es ein Einfaches, diesen Trend der Veränderung zu stützen und verstärken und dabei künftig gewaltige Mengen an CO2 zu vermeiden.

Was man aber deutlich erkennen muss, dass diese Maßnahmen aus dem Wirtschaftsprozess ein beachtliches Maß an Wachstumsdynamik herausnimmt: Die Bautätigkeit wird sich von einem Fokus auf den Neubau auf die Gebäudesanierung verschieben. Der Neubau von Wohnungen wird nur noch dort vollzogen, wo real alte Bausubstanz besteht.

Der renditeorientierte Abriss von grundsätzlich funktionstüchtigen Bauwerken wird in Stocken geraten. Der Statusverlust der Automobile in den Metropolen wird sich mittelfristig auf den Pkw-Absatz auswirken, selbst dann, wenn das Mietgeschäft boomen würde. Die Stückzahlen werden dann nicht mehr zunehmen können.

Die Vorschläge werden Auswirkungen auf unsere Wirtschaftsaktivitäten haben. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BiP) werden wir möglicherweise kein Wachstum darstellen können. Aber der Wohlstand wird dadurch nicht zwangsläufig geringer, weil sich Wohlstand nicht mit der Veränderung des BiP messen lässt. Dafür misst das BiP unsere Aktivitäten viel zu undifferenziert.

Wir sollten uns unseren Wirtschaftskreislauf vorstellen: Alles was wir heute produzieren, wird eines Tages zu dem, was wir „Müll“ nennen. Davon werden in Deutschland, gut gerechnet, etwa 20% tatsächlich recycelt, die restlichen 80% unseres Mülls werden, wenn es gut geht, ordentlich gesammelt, verwaltet und hoffentlich thermisch recycelt, also verbrannt und damit u.a. unmittelbar in CO2 umgewandelt. Das ist eine gewaltige CO2-Schleuder. Dabei müssen wir feststellen, dass auch riesige Plastikmengen im Meer herumschwimmen. Folglich können zumindest weltweit die Recyclingquoten nicht stimmen, es gibt auch weltweit eine beachtliche Recyclingquote, bei der ins Meer „recycelt“ wird. Recycling kann nur gelingen, wenn es möglich ist, die im Müll enthaltenden Stoffe relativ rein (d.h. nicht mit anderen Stoffen verunreinigt) gewonnen werden können. Verbundstoffe trennen zu wollen, konterkariert jeden Versuch Recycling effizient zu gestalten. Wenn wir das erkennen, was wäre die logische Folgerung für unsere Produktionsaktivitäten? Bei der Planung der Produktion muss die einfache Recycelfähigkeit wichtiger Teil der Funktion des Produktes werden. Das sicherzustellen, ist Aufgabe des institutionellen Rahmens unseres Gemeinwesens.

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Wo liegen die Konfliktpotenziale?

Es scheint bei der Mehrzahl der Bürger angekommen zu sein, dass wir tatsächlich vor einer „Zeitenwende“ stehen. Viele aber glauben immer noch an das „Weiter So“, weil sie es sich in der Bequemlichkeit eingerichtet haben. Und schimpfen auf die Regierung, weil sich so viele Veränderungen abzeichnen, deren Tragweite sie so gar nicht verstehen (wollen). Dabei ist der offensichtliche Krieg in der Ukraine nur ein (schlimmer) Mosaikstein im Rahmen der zahllosen anstehenden Veränderungen.

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Die Kurzsichtigkeit vieler Bürger wird auch daran deutlich, dass immer, wenn von einer Transformation die Rede ist, die Vorstellung auftaucht, dass statt Kapitalismus die alte Leier Verwendung findet, dass nun Sozialismus oder Kommunismus drohe. Dabei ist den Damen und Herren gar nicht bewusst, dass der Kapitalismus im Laufe seiner kurzen Geschichte auch geographisch eine Vielzahl von unterschiedlichen Formen entwickelt hat. DEN Kapitalismus gibt es nicht! Der Kapitalismus folgt einer evolutionären Entwicklung. Er kennt keine Blaupause, keinen Plan. Im Rückblick lassen sich Elemente identifizieren, die so etwas wie eine Charakteristik des Kapitalismus beschreiben. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte.

Eine der ersten Zumutungen, die der Bürger zu verdauen hat, ist die Tatsache, dass sowohl unsere Gesellschaft als auch unser Wirtschaftssystem nicht aus sich selbst heraus bestehen können. Wir sind an eine funktionierende Biosphäre gebunden und sind Teil dieses globalen Systems, dem wir nicht entrinnen können. Damit fällt unsere Vormachtstellung weg, die wir uns seit biblischen Zeiten eingebildet haben – macht euch die Welt untertan.

Jahrtausende war dieser Imperativ darstellbar, aber die wachsende Bevölkerungszahl und unsere Ansprüche haben den Planeten an seine absoluten Grenzen geführt. Dabei war bis vor 250 Jahren diese Entwicklung nicht vorhersehbar. Wir haben unsere heutige Vormachtstellung als Spezies erst in den letzten 200 Jahren schrittweise eingenommen, als wir begonnen haben, mit hohem technologischem Anspruch den Planeten egoistisch ausschließlich auf unsere Bedürfnisse hin auszubeuten. Und vor 250 Jahren entwickelte sich parallel zur Technologie der Kapitalismus. Die Folge ist ein nie gekannter Wohlstand, der sich auf eine unverhältnismäßige Ausbeutung des Planeten in dieser Zeitspanne gründet. Künftige Generationen werden diese einmalige Chance wohl nicht mehr haben.

Wir erhielten spätestens vor ca. 50 Jahren erste Anzeichen, um zu erkennen, dass unserer Verhalten und unsere Ansprüche an das System der Biosphäre an ihre Grenzen kommen. (Meadows, Die Grenzen des Wachstums, 1972) Noch heute glauben oder – sagen wir besser – hoffen die Ökonomen auf ewiges Wachstum, weil dann eine kapitalorientierte Wirtschaftspolitik mit Hinweis auf eine „goldene Zukunft“ viel leichter zu verkaufen wäre. Aber nach allem, was wir heute wissen, wäre die Zukunft nicht so ersprießlich.

Es ist eine nicht hinterfragte Redewendung, dass der Kapitalismus ohne Wachstum nicht funktioniert. Japan weist seit rd. 25 Jahren kein Wachstum mehr aus, aber der Wohlstand hat dadurch nicht ernsthaft gelitten. Mit anderen Worten: Da wird etwas verwechselt: Wirtschaftswachstum ist keinesfalls mit Wohlstand gleichzusetzen. Und seien wir ehrlich: Wachstum interessiert nur die Politik als Metapher für ihren möglichen Erfolg und vielleicht noch die Spitzen der Industrieverbände, die mit dieser Zahl dann Politik betreiben können. Für Sie und mich hat die Veränderung des Bruttoinlandsproduktes (BiP) keine unmittelbar persönliche Bedeutung. Es ist für die interessierten Kreise auch nur so etwas wie ein Indikator: völlig abstrakt und ohne jede praktische Wirkung. Stellen Sie sich vor, das Wachstum bleibt aus (= 0); die Boni und Tantiemen der Vorstände und Banker bleiben davon doch völlig unberührt. Warum sollte diese Erkenntnis dann für Sie (oder für die Vorstände) eine reale Bedeutung besitzen?

Gehen wir zurück auf die banale Erkenntnis, dass zwischen unserem Wirtschaftssystem und dem globale System der Biosphäre eine nicht aufhebbare Abhängigkeit besteht. Dabei ist das System der Biosphäre (landläufig auch als „Natur“ bezeichnet) die Basis und das Wirtschaftssystem baut darauf auf oder anders ausgedrückt: in dem globalen System der Biosphäre ist das Wirtschaftssystem neben anderen Systemen als ‚Subsystem‘ zu verstehen. Das globale System gibt den im Laufe von Jahrtausenden geschaffenen Rahmen vor, der von Seiten der Subsysteme eingehalten werden muss. Die Vertreter unseres Wirtschaftssystems sehen diesen Zusammenhang seit Jahrzehnten anders. Das globale Wirtschaftssystem fühlt sich weitgehend ungehindert berufen, den „Takt“ vorzugeben, dem sich das System der Biosphäre zu „unterwerfen“ habe. Diese Erwartung wird wohl nicht zu erfüllen sein ohne den Planeten auf die lange Sicht unbewohnbar zu machen.

Viele Einzelentscheidungen folgen heute unverändert dieser ökonomischen Logik: Wenn es um Geld geht, wenn eine Maßnahme Gewinn verspricht, wenn es um Wachstum geht, marschiert das Wirtschaftssystem i.d.R. durch, ohne Rücksicht auf andere nicht monetäre Interessen zu nehmen. Die Folgen dieses verhängnisvollen Machtanspruchs spüren wir mehr und mehr als Klimakrise, weil die ausschließlich gewinngetriebene Vorgehensweise Schritt für Schritt Wirkungen im globalen System der Biosphäre zeitigt. Die Veränderungen ‚produzieren‘ zwar Geld, aber auch unerwünschte Nebenwirkungen und beeinflussen zunehmend die Lebensumstände einer dicht besiedelten Welt in einer Weise, dass für große Teile des Planeten das System der Biosphäre keine akzeptablen Lebensgrundlagen mehr bereitstellen kann.

Es lohnt sich, die Frage zu stellen, wo und wie sich die Funktionalitäten der Biosphäre von der Funktionalität des Subsystems Wirtschaft unterscheiden. Wenn wir hier zu Recht einen Konflikt vermuten, so wäre es von Vorteil, nach den Konfliktgründen zu suchen, um die Zusammenhänge besser zu verstehen. Da die Biosphäre noch komplexer (vielfältiger) ist als das Subsystem der Wirtschaft, erscheint es sinnvoll, den Ausgangspunkt der Untersuchung von der Seite des Subsystems zu nehmen, um schneller zu einer Aussage zu kommen als bei einem umgekehrten Ansatz:

  1. Das Handeln im Wirtschaftssystem ist extrem kurzfristig orientiert. Die Biosphäre ist bei ihren Veränderungen und Anpassungen auf Jahre oder Jahrzehnte angelegt. Für die Teilnehmer des Wirtschaftssystems hat die Gegenwart die höchste Priorität. Selbst Erträge, die zwangsläufig in der Zukunft liegen, werden durch Abzinsen zu Wertansätzen der Gegenwart definiert. Dieser Anspruch verkleinert die Bedeutung der Zukunft und verkürzt den Zeitraum der in die Entscheidungen einfließenden Fakten und führt zu Entscheidungen, die keine langfristigen Aspekte respektieren. – In der Biosphäre spielt “Zeit“ keine Rolle. Deshalb verliert unsere Land- und Forstwirtschaft, die sich unmittelbar an die „Zeitlosigkeit“ der Biosphäre anzupassen hat, den Anschluss bzw. versucht den Anschluss dadurch zu erzielen, dass der Mensch bemüht ist, der Biosphäre mit Technologie den Kurzfristrhythmus der Wirtschaft aufzuzwingen. Darauf reagiert die komplexe Biosphäre auf vielfältige Weise, die aber nicht vorhersagbar ist. – Die systematische Kurzfristigkeitsorientierung des Wirtschaftssystems hat weiter zur Folge, dass nicht mit dem Anspruch produziert wird, etwas qualitativ hochwertiges für die nächsten Jahrzehnte (und darüber hinaus) zu schaffen, sondern der Kurzfristigkeit ist es immanent, dass die Produktions- und Verbrauchszyklen ständig kürzer werden, der Verbrauch an Ressourcen deshalb laufend zunimmt und konsequenter Weise die Müllberge ständig wachsen.
  2. Die große Metapher unseres Wirtschaftssystems ist das Wachstum. Es wird das Narrativ verbreitet, dass das System ohne Wachstum zusammenbricht. – „Die Biosphäre (als unser Basissystem) wächst nicht. Die Menge der Biomasse erhöht sich nicht. Der Durchsatz steigert sich nicht. Die Natur (die Biosphäre) betreibt eine ‚Steady-State-Ökonomie‘. Auch die Zahl der Arten vermehrt sich nicht notwendig, sie nimmt in manchen Epochen zu, in anderen wieder ab. Was sich aber erhöht, ist die Vielfalt von Erfahrung, Empfindungsarten, Ausdrucksweisen, Erscheinungsvarianten. Die Natur (hier: Biosphäre) gewinnt somit nicht an Masse, sondern an Tiefe“[1].
  3. Ein als wesentlich verstandener Begriff unseres Wirtschaftssystems ist die Effizienz. Dabei wird meist die ökonomische Effizienz herangezogen. Statt einer materiellen, eher technischen Effizienz bevorzugt die Ökonomie eine Effizienz auf der Basis Menge x Preis = Wert und kommt oft zu einer fragwürdigen Form der Effizienz. – „Die Biosphäre ist nicht effizient. Warmblütler verbrauchen über 97 Prozent ihrer Energie allein zur Unterhaltung ihres Körpers. Die Photosynthese erreicht einen lächerlichen Wirkungsgrad von sieben Prozent (…) Statt effizient zu sein, ist die Natur redundant“[2]. Sie zeichnet sich durch eine „unvorstellbare Fülle und atemberaubende Verschwendung“[3] aus. „Sie ist nicht sparsam, weil die Grundlage aller Arbeit, die Sonnenenergie[4],“ kostenfrei zur Verfügung steht.
  4. Unser Wirtschaftssystem versucht zu vermitteln, dass nur knappe Güter wirtschaftlich interessant sind und einen Preis erzielen können. Das ist in Grenzen nachvollziehbar. Aber die „grundlegende energetische Ressource der Natur (der Biosphäre), das Sonnenlicht, ist im Überfluss vorhanden. Auch eine zweite entscheidende Ressource, die Zahl ökologischer Beziehungen und neuer Nischen, ist (…) unbegrenzt. Eine hohe Zahl von Arten und die Vielfalt der Beziehungen zwischen ihnen führen in einem Lebensraum nicht zu verschärfter Konkurrenz und der Dominanz eines „Stärkeren“, sondern zu mehr Beziehungen zwischen den Arten (…).“[5] – Knappheit ist also nichts Natürliches, sie muss durch des Wirtschaftssystem und unsere Bedürfnisstrukturen künstlich geschaffen werden, damit für ein Gut überhaupt ein Preis gestimmt werden kann. Das wirft einen fragwürdiges Licht auf die Art und Weise, wie Preise entstehen.

Diese kleine Auswahl der Unterschiede zwischen den Funktionsprinzipien des Basissystems und unserem Wirtschaftssystem macht nachdenklich und fordert uns heraus, dass wir das von uns geschaffene Wirtschaftssystem in einem sinnvollen Umfang an das Basissystem anpassen. Wir laufen sonst Gefahr, dass wir den laufenden Ausgleich der entstehenden Defizite mit unserem künftig notwendigen Reparaturbetrieb nicht mehr werden auffangen können bzw. der Reparaturbetrieb wird so viel unserer Leistungskraft binden, dass das gegenwärtige Wirtschaftssystem seine Attraktivität verliert.

Jeder, der an diesen Fragen Interesse hat: es gibt noch eine ganze Reihe von Begriffen, bei denen sich der Unterschied oder auch der Gegensatz der Systeme festmachen lässt (Wirtschaftssystem vs. Biosphäre)[6]:

WirtschaftssystemBiosphäre
Konzentration, Verdrängung, Verengung der Perspektive auf monetäre WerteVielfalt, Offenheit,Qualität
Abhängigkeit schaffenFreiheit in Bezogenheit
Fragmentierung, Optimierung, Vereinzelung, WettbewerbIntegration
Der Mensch als Kunde und Mittel zum ZweckSubjekt der Gemeinschaft, Subjekt auf Augenhöhe
Gelingen = VerdrängungGelingen = Kompromiss
PatenteOpen Source
Sieger ist: wer am meisten besitztSieger ist: wer am meisten mit der Gemeinschaft verwoben ist
EffizienzVielfalt der Ausdrucksformen / Redundanz
Monopol / DominanzVielfältigkeit / Offenheit / Selbstausdruck als Kultur
Egos in feindlicher „Umwelt“Prekäre Gemeinschaft der Individuen, Kooperation

Die Frage ist, können wir den Konflikt ausräumen oder wenigstens das Konfliktpotenzial entschärfen? Das erscheint mir als die große Aufgabe der Transformation. Da wir das von mir so benannte Basissystem eine autopoetische Schöpfung mit der Erfahrung von (vermutlich) Jahrtausenden ist, erscheint mir die Erwartung, dass sich dieses System kurzfristig verändert, als wenig wahrscheinlich. Zwar kann man hoffen, dass ein hochkomplexes System eine gewisse Bandbreite zur Anpassung in seinem Verhalten besitzt, aber die wenigen Vergleiche heute üblicher Verhaltensweisen, die ich angeführt habe, erscheinen mir so konträr, dass ich dieser Erwartung keine großen Chancen gebe. Weber fasst das Wirtschaftssystems als ein „System der Trennung“ zusammen und stellt das Basissystem als „Netz der Teilhabe“ gegenüber[7].

Ein ‚letzter‘ Gedanke, bevor ich schließe, kommt mir bei der Vorstellung, wie alt das ‚mit allen Wassern der Erfahrung gewaschene‘ dynamische Basissystem ist. Dem gegenüber ist unser Wirtschaftssystem mit seinem Alter von etwa 250 Jahren vielleicht nur ein kleiner fragwürdiger Versuch, etwas Neues zu schaffen. Aber in diesen zeitlosen Regionen liegen Versuch und Irrtum dicht beieinander. Wir sollten uns Mühe geben, dass unser Wirtschaftssystem absehbar eine Form erhält, von der künftige Generationen sagen können, dass es wenigstens kein kompletter Irrtum war.


[1] Andreas Weber, Wirtschaft der Verschwendung, in: Silke Helfrich (H) u. Heinrich Böll Stiftung: Commons – für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Bielefeld, 2012, S. 35

[2] Andreas Weber, a.a.O., S. 34

[3] Vgl. Andreas Weber, S. 34

[4]  Vgl. Andreas Weber, S. 34

[5] Vgl. Andreas Weber, S. 35

[6] Vgl. Andreas Weber, S. 37

[7] Vgl. Andreas Weber, a.a.O. , S. 37

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Nachhaltigkeit – geht es etwas präziser?

Nachhaltigkeit wurde erstmals 1987 durch die Brundland-Kommission definiert. Als nachhaltig gilt eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“ Auf politischer Ebene gilt diese Definition als ein wesentlicher Schritt zu einem künftigen Umbau der gesellschaftlichen Entwicklung.

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Wie nahezu alle politischen Definitionen lassen sie viel mehr offen als dass diese Definition Standpunkte festlegt. Aber nur auf dieser Grundlage kann man hoffen, eine ausreichende Mehrheit zur Zustimmung zu bewegen. Es bleibt aber der Eindruck einer Entscheidung nach dem Prinzip: Wasch mich, aber mach mich nicht nass!

Trotzdem gibt es ein paar Gesichtspunkte, die man positiv hervorheben sollte:

  • ‚Nachhaltig‘ ist ein Begriff, der im deutschen Sprachgebrauch das Denken und Handeln auf Dauerhaftigkeit oder auf eine langfristige Perspektive verpflichtet.
  • ‚Nachhaltigkeit‘ ist eine Übersetzung des englischen Begriffs „Sustainability“, also die Fähigkeit etwas auszuhalten, zu ertragen, zu widerstehen und zu erhalten. Nachhaltig steht im deutschen Sprachgebrauch für ‚tiefgreifend‘ und ‚lange nachwirkend‘. Man versteht, was intendiert sein soll, aber die Begriffe lassen mehr offen als sie schließen.
  • Einige erkennen darin einen Gedanken „von Beschränkungen, die der Stand der Technologie und der sozialen Organisation auf die Fähigkeit der Umwelt ausübt, gegenwärtige und zukünftige Bedürfnisse zu befriedigen“. Diese etwas um die Ecke ausgedrückte Beschränkung ist mir aus der Nachhaltigkeitsdefinition nicht so recht nachvollziehbar.

Es geht nur um eine Definition, aber eine schwache Definition führt dazu, dass z.B. viele Unternehmen behaupten können, nachhaltig zu sein, wenn man aber bei näherer Betrachtung feststellen muss, dass diese Behauptung unter den Begriff des Unfugs (auch ‚Bullshit‘ genannt) eingereiht werden muss. Unfug ist aber i.d.R. nicht justiziabel. Und es gibt immer ein paar Kunden, die die Unsinnigkeit mancher diesbezüglichen Unternehmensaussagen offensichtlich nicht erkennen (wollen).

Im Rahmen meiner Suche nach einer etwas festeren Definition musste ich feststellen, dass es viele Engagierte gibt, denen es wie mir geht. Sie fragen sich: Ist mit der Definition etwas gewonnen, das über die Akzeptanz der Langfristigkeit einerseits und andererseits der Anerkennung von Bedürfnissen künftiger Generationen hinausgeht?

Konkreter wird Herman E. Daly, wenn er Nachhaltigkeit nicht nur an der langfristigen Perspektive und den Bedürfnissen der Menschen festmacht, sondern Nachhaltigkeit aus der Sicht der Ökologie klar und eindeutig wie folgt definiert:

  • „Das Niveau der Abbaurate erneuerbarer Ressourcen darf ihre Regenerationsrate nicht übersteigen.
  • Das Niveau der Emissionen darf nicht höher liegen als die Assimilationskapazität.
  • Der Verbrauch nicht regenerierbarer Ressourcen muss durch eine entsprechende Erhöhung des Bestandes an regenerierbaren Ressourcen kompensiert werden.“ (Hardtke/Prehn 2001, S.58)

Dabei fällt auf, dass die Definition der Brundland-Kommission die Nachhaltigkeit aus einer anthropozentrischen Perspektive entwickelt und die Frage, ob die Umwelt diese Form der Nachhaltigkeit überhaupt noch tolerieren kann, wird darin gar nicht erfasst. Hier liegt m. E. ein wesentlicher ‚Knackpunkt‘. Wir, die Menschen, müssen erkennen lernen, dass wir zwar den Herrscher spielen können (nach dem fatalen Motto: ‚Macht Euch die Erde untertan‘), aber am Ende nur das toleriert werden wird, was die Biosphäre als übergeordnetes System überleben lässt. Bevor die Biosphäre ernsthaft Schaden nimmt, werden die auf uns einstürzenden Folgen der ausgelösten Veränderungen so heftig werden, dass für unsere gewohnten Lebensumstände kein Platz mehr bleiben wird.

Wir neigen dazu, unsere Spezies Mensch als Subjekt unter ganz vielen Objekten zu sehen. Diese Sichtweise ist teilweise auch durch unsere Tradition des Wissenschaftsverständnisses geprägt. Sie hat auch dazu geführt, dass wir diesen Gedanken dazu benutzen, uns vorzustellen, dass diese Welt ausschließlich dazu geschaffen wurde, damit wir sie zu unserem Nutzen ausbeuten können. Der Utilitarismus, der insbesondere die Wirtschaft umtreibt, hat den Gedanken zum Leitbild erhoben und verherrlicht das egoistische Verhalten als angebliche Voraussetzung für das „größtmöglichen Glück auf Erden“.

Seit einigen Jahrzehnten beginnt sich zumindest in den Sozialwissenschaften eine andere Perspektive durchzusetzen, die die Welt nicht in übergeordnete Subjekte und tendenziell inferiore Objekte aufteilt. Der Ansatz stellt nicht den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt, sondern die Gemeinschaft alles Existierenden, das vereinfacht als ‚System‘ (z.B. die Biosphäre) betrachtet wird. Der Mensch bleibt wichtig und zentral, denn nur er ist in der Lage, Systeme zu definieren und letztlich zu beurteilen. Der Mensch ist regelmäßig Teil eines Systems, aber nicht automatisch als deren Boss oder das Subjekt, sondern nur als Element, das zur Funktion des Systems etwas beitragen kann. In sozialen bzw. dynamischen Systemen werden Maßnahmen primär nicht nach dem Grundsatz von Ursache und Wirkung beurteilt, sondern anhand des Beitrags zur Funktions- bzw. Zweckerfüllung des Systems. Es werden nicht einzelne Strukturelemente (Bestände, Subjekte) als wichtig herausgehoben, sondern der Informationsfluss (das Netz der Relationen) innerhalb des Systems, der letztlich zur Zweckerfüllung aktiv beiträgt.

Was heißt das für die Nachhaltigkeit? Solange wir Nachhaltigkeit stets auf ein Attribut dessen reduzieren, was als Produkt das Wirtschaftssystem verlässt, sind wir auf der Verliererstraße. Nachhaltigkeit lässt sich nur als eine Funktion des Wirtschaftssystems begreifen! Nicht das Produkt muss nachhaltig sein, sondern das ganze System (die Produktion) hat sich der Nachhaltigkeit zu unterstellen. Das ist noch nicht bei allen angekommen.

Was könnte diese Aussage konkret bedeuten? Wenn ein Akteur (ein Subsystem) des Wirtschaftssystems ein neues Geschäftsmodell entwickelt, so hat er sich dabei die Frage zu stellen, ob sein geplantes Geschäftsmodell (und nicht nur das intendierte Produkt) der Nachhaltigkeitsfunktion des Wirtschaftssystem gerecht wird, weil andernfalls die Durchführung seines Geschäftsmodells erhebliche Kosten in anderen benachbarten Systemen auslösen, die die Durchführung seines Modells als dysfunktional klassifizieren werden.

Systeme müssen notwendigerweise einen Zweck erfüllen (sonst sind es keine Systeme). Es stellt sich die Frage: Was ist der Zweck unseres Wirtschaftssystems? Die Frage gilt in Wirtschaftskreisen als ketzerisch. Aber ist es die Versorgung der Menschen? Oder ist es der Versuch reich zu werden? Aristoteles hat letztere Sichtweise schon vor 2.500 Jahren als Chrematistik abgetan. Oder ist das Wirtschaftssystem in Wahrheit nicht beides: ein Subsystem, das sich der Versorgung und ein Subsystem, das sich der Chrematistik verschrieben hat? Die Antwort ist m.E. erst möglich, wenn wir als Gesellschaft diese Frage nach dem Zweck unseres Wirtschaftssystems ausführlich diskutiert haben.

Es bleibt die Frage offen, wie wir diesen Zwiespalt überwinden können oder wollen? Wenn Nachhaltigkeit über den anthropozentrischen Aspekt der Brundland-Kommission hinaus als notwendige Systemfunktion anerkannt wird, ergeben sich aus der Systemtheorie heraus einige Qualitäten, die Nachhaltigkeit in einen umfassenderen Zusammenhang stellen. Hartmut Bossel[1] hat Nachhaltigkeit und die Systemperspektive versucht zusammen zu bringen, indem er die Lebens- bzw. Überlebensfähigkeit eines Systems mit dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit verknüpft. Wenn Systeme so gestaltet werden, dass sie eine reelle Chance des Überlebens haben – so Bossel – sind diese Systeme i.d.R. relativ problemlos auch als nachhaltig zu klassifizieren.

Somit bleibt die Frage, welche Attribute braucht ein System zum Überleben? Bossel nennt diese Attribute ‚Leitwerte‘ und führt (hier verkürzt dargestellt) aus: (vgl. Bossel, a.a.O., S. 114):

  • Existenz und Versorgung: Die Ressourcen, die das System braucht, müssen ausreichend verfügbar sein.
  • Wirksamkeit: Das System muss die notwendigen Ressourcen beschaffen können, wobei langfristig der Aufwand den Erfolg nicht übersteigen darf.
  • Handlungsfreiheit: Das System muss auf die vielfältigen Anforderungen der Umwelt angemessen (und nachhaltig) reagieren können.
  • Sicherheit: (ausreichender) Schutz vor unvorhergesehenen Schwankungen der (volatilen) Umwelt.
  • Wandlungsfähigkeit: Das System muss die Fähigkeit entwickeln durch Lernen, Anpassung und Selbstorganisation sich an laufende Veränderungen anpassen zu können.
  • Koexistenz: Das System muss auf die Existenz und das Verhalten benachbarter Systeme vernünftig (i.d.R. kooperativ) reagieren (können).
  • Reproduktion: Autopoietische Systeme benötigen Freiraum zur (kreativen) Entfaltung
  • Emotionale Bedürfnisse: müssen befriedigt werden, Stress und Schmerz vermeiden
  • Ethisches Leitprinzip: Systeme benötigen eine ethisch normative Grundlage. Für die Steuerung bewusster Entscheidungen sind normative Maßstäbe zu verwenden.“

Die ersten sechs Leitwerte gelten für alle autonomen selbstorganisierenden Systeme. Die folgenden drei Leitwerte sind für selbsterzeugende, empfindungsfähige und bewusste Systeme charakteristisch. (vgl. Bossel, a.a.O., S.113)

Ohne auf die einzelnen Aspekte tiefer einzugehen, können wir aber davon ausgehen, dass Systeme mit den angeführten Eigenschaften eine adäquate Grundlage zur Beschreibung der Nachhaltigkeit darstellen bzw. schaffen können. Nachhaltigkeit verliert dadurch ihren anthropozentrischen ‚Touch‘ und kann sich in einer weiter gefassten „Umwelt“ realisieren.

Zugegeben, es bleibt immer noch recht abstrakt, aber Hartmut Bossel ergänzt m.E. den Begriff der Nachhaltigkeit mit bis zu neun Aspekten und stellt damit die Nachhaltigkeit auf eine deutlich breitere Basis. Nachhaltigkeit wirkt dadurch nicht mehr als ein weitgehend beliebiger Begriff. Wer jetzt Nachhaltigkeit für sich und sein Handeln in Anspruch nimmt, ‚kauft‘ automatisch das restliche Paket mit ein. Keines dieser Attribute ist eine ökonomische Kategorie! Nur im Rahmen der Wirksamkeit wird ein ökonomischer Wert gestreift, indem ein langfristiger Überschuss der Erträge zu Grunde gelegt wird. Es fällt möglicherweise auch auf, dass keines der Attribute käuflich zu erwerben ist. Es handelt sich um Qualitäten, die man ‚schaffen‘ (also erzeugen) muss.


[1] Bossel, Hartmut: Globale Wende, Wege zu einem gesellschaftlichen und ökologischen Strukturwandel, München, 1998, S. 99 (Kap. 4)

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Ist Wachstum alternativlos?

Gegenwärtig erscheint zu viel im Flusse zu sein, als dass man aus den üblich zugänglichen Quellen sich keine hinreichend sicher begründbare Meinung bilden kann. Es ist alles nur Tagespolitik (Löcher stopfen). Eine begründbare längerfristige Linie ist gegenwärtig schwierig auszumachen. Die seit sicherlich dreißig Jahren diskutierte Energiewende ist noch nicht erkennbar. In der neuen Situation ist noch nicht auszumachen, was sich durchsetzen könnte.

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Die großen Milliardenbeträge, die eingesetzt werden, sollen das ‚Volk‘ beruhigen. Wieviel dabei für die eigentliche Aufgabe der Energiewende übrigbleibt, erscheint nicht absehbar. Der Winter und seine möglichen Folgen werden heftig diskutiert, aber was zeichnen sich langfristig für Folgen für das große Projekt Energiewende ab, die letztlich nach den sogenannten Übergangslösungen wieder Tritt gewinnen muss? Es wurde inzwischen zu viel auf die Karte der Erneuerbaren gesetzt als dass der Politik hier auf halber Strecke die Luft ausgehen darf.

Stattdessen habe ich einen Beitrag von Hermann Daly aus dem Jahr 2009 ausgegraben, der auf eine einmalig deutliche und leichte Art darzustellen vermag, warum Wachstum (unsere heilige Kuh) mittelfristig keine Option mehr sein kann. Das Original ist in englischer Sprache, deshalb habe ich mir die Mühe gemacht, den Text zu übersetzen. Die ganze Ansprache in der American University in Washington D.C. umfasst mehr. Es geht um eine Steady-State –Economy. Der hier vorgestellte Ausschnitt aus dem Beitrag ist auf die Frage nach dem Wachstum und seine Möglichkeiten beschränkt.

Hermann E. Daly[1]:

Wir haben viele Probleme (Armut, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Haushaltsdefizit, Handelsdefizit, Rettungspakete, Bankrott, Zwangsvollstreckungen usw.), aber anscheinend nur eine Lösung: Wirtschaftswachstum, oder wie die Experten jetzt gerne sagen, „die Ökonomie wachsen lassen“ – als wäre es eine Topfpflanze mit heilenden Blättern, wie Aloe Vera oder Marihuana.

Aber lassen Sie uns genau dort innehalten und zwei Fragen stellen, die alle Studenten ihren Wirtschaftsprofessoren stellen sollten:

Erstens gibt es einen grundlegenden Satz in der Mathematik, der besagt, dass, wenn etwas wächst, es größer wird! Wenn also die Wirtschaft wächst, wird sie auch größer. Wie groß darf die Wirtschaft sein, Herr Professor? Wie groß ist sie jetzt? Wie groß soll sie werden? Haben sich Ökonomen jemals mit diesen Fragen beschäftigt? Und vor allem, was lässt Sie denken, dass Wachstum (d. h. die physische Expansion des wirtschaftlichen Subsystems in einer endlichen Biosphäre) die Umwelt- und Sozialkosten nicht bereits schneller erhöht als die Produktionsvorteile, wodurch es zu unökonomischem Wachstum kommt, das uns ärmer und nicht reicher macht? Schließlich trennt das reale BIP, das sogenannte Maß für „wirtschaftliches“ Wachstum, Kosten nicht von Nutzen, sondern verschmilzt sie zu „wirtschaftlicher“ Aktivität.

Wie können wir wissen, wann Wachstum unwirtschaftlich wird? Die Abhilfe- und Abwehrmaßnahmen werden ständig größer, je mehr wir uns von einer „leeren Welt“ zu einer „vollen Welt“ entwickeln, die durch Staus, Störungen, Verdrängung, Erschöpfung und Umweltverschmutzung gekennzeichnet ist. Die durch diese Negativfaktoren verursachten Abwehrausgaben werden alle dem BIP hinzugerechnet, nicht abgezogen. Seien Sie auf ein Abwinken, ein Räuspern und einen schnellen Themenwechsel vorbereitet. Aber lassen Sie sich nicht täuschen!

Zweitens: Erkennen Sie, Herr Professor, Wachstum als einen kontinuierlichen Prozess, der an sich wünschenswert ist – oder als einen vorübergehenden Prozess, der erforderlich ist, um ein ausreichendes Wohlstandsniveau zu erreichen, das danach mehr oder weniger in einem stabilen Zustand gehalten wird? Mindestens 99 % der modernen neoklassischen Ökonomen vertreten die Ansicht des ewigen Wachstums. Wir müssen zu John Stuart Mill (1806 – 1873) und den früheren klassischen Ökonomen zurückkehren, um eine ernsthafte Behandlung der Idee einer nicht wachsenden Wirtschaft, des stationären Zustands, zu finden. Was macht moderne Ökonomen so sicher, dass die klassischen Ökonomen falsch lagen? Die Geschichte des ökonomischen Denkens aus dem Lehrplan zu streichen, ist keine Widerlegung!

Hier sind einige Gründe zu der Annahme, dass die klassischen Ökonomen Recht haben. Eine langfristige Erwartung für kontinuierliches Wachstum könnte nur dann sinnvoll sein, wenn eine der drei folgenden Bedingungen zutrifft:

(Wachstum könnte nur dann sinnvoll sein,…)

1. wenn die Wirtschaft kein offenes Teilsystem eines endlichen und nicht wachsenden biophysikalischen Systems wäre,

2. wenn die Wirtschaft in einer nicht-physischen Dimension wächst, oder

3. wenn die Gesetze der Thermodynamik nicht gelten.

Betrachten wir jede dieser drei logischen Alternativen. (falls Ihnen eine vierte einfällt, lassen Sie es mich wissen:)

1. Einige Ökonomen betrachten die Natur tatsächlich als eine Reihe von extraktiven Teilsektoren der Wirtschaft (Wälder, Fischerei, Minen, Brunnen, Weiden und sogar Landwirtschaft …). Die Wirtschaft, nicht das Ökosystem oder die Biosphäre, wird als Ganzes betrachtet; die Natur ist eine Ansammlung von Teilen. Wenn die Wirtschaft das Ganze ist, dann ist sie kein Teil einer größeren Sache oder eines größeren Systems, das ihre Expansion einschränken könnte. Wenn ein extraktiver natürlicher Teilsektor knapp wird, werden wir ihn einfach durch andere Sektoren ersetzen, und das Wachstum der gesamten Wirtschaft wird weitergehen, nicht in einer einschränkenden biosphärischen Hülle, sondern in den Sternenraum, der vermutlich voller ressourcenhaltiger Asteroiden und freundlicher, hochentwickelter Außerirdischer ist, die darauf aus sind, uns zu lehren, wie wir für immer in ihr Territorium hineinwachsen können. Ressourcen und Verbrauch gelten als unendlich verfügbar.

2. Einige Ökonomen sagen, dass das, was beim Wirtschaftswachstum wächst, der Wert ist und der Wert nicht auf physische Einheiten reduzierbar sei. Letzteres stimmt natürlich, aber das bedeutet nicht, dass der Wert unabhängig von der Physik darstellbar ist! Schließlich ist Wert  = Preis mal Menge, und Menge ist grundsätzlich immer physisch. Auch Dienstleistungen sind immer die Dienstleistung von etwas oder jemandem für eine gewisse Zeit, und Menschen, die Dienstleistungen erbringen, müssen essen. Die Werteinheit des BIP ist nicht Dollar, sondern der Wert (der eingesetzten Menge) ausgedrückt in Dollar. Benzin im Wert von einem Dollar ist eine physische Menge, derzeit etwa eine halbe Gallone. Die Aggregation der Dollarwerte vieler verschiedener physischer Rohstoffe (BIP) hebt die Körperlichkeit des Maßes nicht auf, obwohl die Summe nicht mehr in physischen Einheiten ausgedrückt werden kann. Richtig, $/q x q = $. Aber die Tatsache, dass sich q mathematisch aufhebt, bedeutet nicht, dass das aggregierte Maß „Dollarwert“ nur ein Haufen Dollar ist. Und es hilft nicht, von „Wertschöpfung“ (durch Arbeit und Kapital) zu sprechen, weil wir fragen müssen, wozu die Wertschöpfung? Und die Antwort sind natürliche Ressourcen, Materie/Energie mit niedriger Entropie – nicht Feenstaub oder (mythische) Froschhaare!

Entwicklung (mehr Wohlfahrt aus dem gleichen Durchsatz an Ressourcen herauspressen) ist eine gute Sache. Wachstum (mehr Ressourcen durch eine physisch größere Wirtschaft treiben) ist das Problem. Die Begrenzung des quantitativen Wachstums ist der Weg, um qualitative Entwicklung zu erzwingen.

3. Wenn Ressourcen aus dem Nichts geschaffen und Abfälle zu Nichts vernichtet werden könnten, dann könnten wir einen ständig wachsenden Ressourcendurchsatz haben, um das kontinuierliche Wachstum der Wirtschaft anzutreiben. Aber der erste Hauptsatz der Thermodynamik (der Physik) sagt NEIN.

Oder wenn wir einfach die gleiche Materie und Energie immer schneller durch die Wirtschaft recyceln könnten, könnten wir das Wachstum am Laufen halten. Das Kreislaufdiagramm aller wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagentexte kommt dieser Behauptung leider sehr nahe. Aber der zweite Hauptsatz der Thermodynamik (der Physik) sagt NEIN.

Wenn wir uns also nicht aus allen Problemen ‚herauswachsen‘ können, sollten wir vielleicht die Logik und die Tugenden des Nichtwachstums, der Steady-State-Ökonomie, überdenken. Warum diese Weigerung neoklassischer Ökonomen, sich sowohl dem gesunden Menschenverstand zu stellen als auch die Ideen der frühen klassischen Ökonomen zu überdenken?

Ich glaube, die Antwort ist erschreckend einfach. Ohne Wachstum ist der einzige Weg, Armut zu heilen, das Teilen. Auf der Umverteilung liegt (als „Unwort“) ein „Kirchenbann“. Ohne Wachstum, das den erhofften demografischen Übergang vorantreibt, ist die einzige Möglichkeit, die Überbevölkerung zu heilen, die Bevölkerungskontrolle. Ein weiteres „Unwort“ mit „Kirchenbann“. Ohne Wachstum besteht die einzige Möglichkeit, die Mittel für Investitionen in die Umweltsanierung zu erhöhen, darin, den Energieverbrauch zu senken. Ein weiterer „Kirchenbann“ (für das „Unwort“) Nummer drei. Dreimal „Kirchenbann“ und du bist verdammt – fahr zur Hölle!

Und wie werden wir ohne Wachstum Arsenale aufbauen, um die Demokratie (und die verbleibenden Erdölreserven) zu schützen? Wie werden wir zum Mars und Saturn fliegen und den Weltraum „erobern“? Woher soll technischer Fortschritt kommen, wenn nicht aus unbeabsichtigten Ablegern des Militärs und der Weltraumforschung? Gnostische Techno-Fantasien, von der Erde in den Weltraum zu fliehen und Krankheit und Tod selbst abzuschaffen, nähren sich vom Mythos des ewigen Wachstums ohne Grenzen. „Tekkies“ mit digital gepoltem Gehirn, die noch nie vom Problem des Bösen gehört haben, sehen den Himmel auf Erden (ewiges Wachstum) gleich um die Ecke.

Ohne Wachstum müssen wir uns der schwierigen (quasi) religiösen Aufgabe stellen, einen anderen Gott zum Anbeten zu finden. Das ist zu beängstigend, sagen wir, (also) versuchen wir stattdessen, etwas mehr zu wachsen! Lassen Sie uns das BIP und den Dow-Jones ankurbeln! Bauen wir einen weiteren Turm zu Babel mit verwirrenden Fachbegriffen wie Subprime-Hypothek, Derivat, verbrieftes Anlagevehikel, Collateralized Debt Obligation, Credit Default Swap, „toxische“ Vermögenswerte und Insider-Slang wie „dead cat bounce“. (Wenn Sie eine tote Katze von einem ausreichend hohen Turm von Babel fallen lassen, wird sogar eine tote Katze genug Aufprall entwickeln, um einen Gewinn zu erzielen.)

Nun, lassen Sie uns das nicht tun. Lassen Sie uns den „Kirchenbann“ (schlicht) ignorieren und stattdessen darüber nachdenken, welche Maßnahmen erforderlich wären, um zu einer Steady-State-Wirtschaft überzugehen. Sie sind nach heutigen Maßstäben etwas radikal, aber nicht so wahnsinnig unrealistisch wie die drei eben besprochenen Alternativen zur Validierung des kontinuierlichen Wachstums.“ Seine Vorstellungen zur Steady-State-Economy (SSE) habe ich hier schon gekürzt in einem Beitrag „Der etwas andere Ansatz (II)“ aus Juli 2022 vorgestellt.


[1] Hermann E. Daly: Speech at American University, Washington: From a Failed Growth Economy to a Steady-State Economy, Washington D.C., 2009 (p. 2 – 4) (eigene Übersetzung)

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Zwischenruf: Da ist jemand aus der Zeit gefallen!

Bernd Althusmann (CDU), noch kommissarischer Wirtschaftsminister von Niedersachsen, sieht in einem Beitrag im Mittagsmagazin eine Notwendigkeit, im Nationalpark Wattenmeer zusammen mit den Niederlanden eine Gasbohrplattform zu installieren, um die „Versorgungssicherheit für Gas in Deutschland sicherzustellen“. Er gibt den künftigen Beitrag dieses Gasfeldes für die Versorgung der BRD mit 1% der nationalen Gasverbrauchsmenge an und macht sich stark für einen schnellen Ausbau. Es war zu diesem Zeitpunkt Wahlkampf, aber ist das sein Ernst?

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Als wir das durch W. Putin ausgelöste Versorgungsproblem politisch realisiert haben, war man schnell zur Hand und sprach von einem Einsparungspotenzial bei der Energie von ca. 15% – 20%. Heute hört man von diesem Einsparpotenzial kein Sterbenswörtchen mehr. Bevor wir ein wichtiges, überaus fragiles Naturschutzgebiet opfern, sollten wir doch erst mal die in Aussicht gestellte Möglichkeit einfordern, die genannte Einsparung zu erreichen. Es ist doch wenig sinnvoll, bei einem Beitrag von lächerlichen 1% zur Versorgungsmenge zu beginnen, aber die Einsparmöglichkeit bis zu 20% außer Acht zu lassen, weil es offensichtlich einfacher durchzusetzen ist, ein Naturschutzgebiet nachhaltig zu ruinieren, als unseren Bürgern ein Energie-Einsparprogramm erfolgreich zu „verkaufen“. Dabei sind die Aufwendungen für Aufbau und Unterhaltung der geplanten Plattform noch gar nicht im „Spiel“.

Das ist eine unverantwortliche Nebelkerzenpolitik angesichts der Tatsache, dass wir 1,7 Planeten gegenwärtig „verheizen“, aber nur einen Planeten zur Verfügung haben, mit anderen Worten: wir müssen einen Weg finden, wie wir rd. 40% Wirtschaftsleistung geordnet abbauen, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Viele glauben, es gehe um Klimaschutz – es geht um die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen, also letztlich um Menschenschutz!  Wann begreifen die letzten Politiker, dass die alten Handlungsweisen nicht mehr zielführend sind?

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Lineares Denken – was ist die Alternative?

Das lineare Denken ist eine Folge unseres Weltbildes und wie wir uns die Welt erklären. Wir unterscheiden meist strikt in Subjekt und Objekt. Das Subjekt steht gewöhnlich außerhalb des Objekts, vergleichbar mit der Vorstellung von Göttern außerhalb der realen Welt. Diese Sichtweise wird auch noch verstärkt durch die Vorstellung von Ursache und Wirkung oder genauer von der präferierten Vorstellung von einer Ursache und einer Wirkung.

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Wenn diese Präferenz nicht mit der Realität in Einklang zu bringen ist (und das ist eigentlich die Regel), wird bevorzugt „abstrahiert“ (vereinfacht). Man hofft dabei, die wesentliche Ursache mit der wesentlichen Wirkung verknüpft zu haben und folgt der Vorstellung, dass die aus subjektiver Sicht ‚unwesentlichen‘ Eigenschaften ohne grundsätzlichen Schaden als nicht relevante Teile des Handelns ausgeblendet werden können.

Man schafft also bei dieser Vorgehensweise unweigerlich sogenannte „Kollateralschäden“, löst also dauernd kleinere ‚Schäden‘ aus, die man bewusst in Kauf nimmt, weil diese kleinen ‚Schäden‘ im Einzelfall als tolerierbar gelten.

Dieser verbreitete Ansatz, dem eine durchaus nachvollziehbare und auch erfolgreiche Logik innewohnt, trifft nun auf ein ökonomisches Verhalten, das seit rd. 200 Jahren das „Ich“ (den Egoismus) und einen entfesselten Freiheitsbegriff (ohne die damit verbundene Verantwortung) feiert. Dadurch werden die Kollateralschäden zusätzlich und nachhaltig marginalisiert und drohen dem Bewusstsein der Gesellschaft (dem ‚Wir‘) verloren zu gehen.

Die Kollateralschäden werden als solche nicht mehr wahrgenommen bis sie sich aufgrund ihrer großen Zahl und ihrer Häufigkeit von einem Kollateralschaden (im Einzelfall klein und mickrig) zu einem Masseschaden zusammenballen, und z.B. als ‚Klimakrise‘ das Bewusstsein der Menschen rückerobern.  

Die Beschreibung dieser Vorgehensweise wird seit einigen Jahrzenten als „linear“ bezeichnet. Um es ein wenig besser vorstellbar zu machen, sollten wir uns die Realität als ein filigranes Netz mit seinen vielen Verknüpfungen denken. Das lineare Denken greift nun aus diesem Netz einige Aspekte heraus, die das Prädikat „wesentlich“ erhalten und dann kommt die intellektuelle Schere, und zerschneidet das Netz der Verknüpfungen, um das augenscheinlich Wesentliche zu entnehmen und zu verarbeiten. Das Netz der Realität wird dadurch zerstört oder doch merklich beeinträchtig. Wir können davon ausgehen, dass das Netz sich i.d.R. um das Wesentliche herum wieder zusammenfindet, aber es ist nicht mehr das Ursprüngliche und muss ein neues Fließgleichgewicht finden. Gelingt das nicht, wird die Nebensache zum Problem.

Wenn man handelt, greift man unvermeidlich in das Netz der Realität ein, aber unsere gegenwärtige Sichtweise kann mit den ausgelösten „Kollateralschäden“ nicht umgehen, weil dafür ein anderes Denk-Werkzeug notwendig wäre. Dieses Werkzeug wurde vor ca. 70 Jahren geschaffen und hat sich relativ gut im Rahmen der Sozialwissenschaft durchgesetzt. Es ist aber (noch) nicht in der breiten Bevölkerung angekommen.

Frederic Vester hat vor mehr als 40 Jahren erste Ansätze für die Öffentlichkeit formuliert und acht Gesichtspunkte herausgestellt, um das lineare Denken in das zu transformieren, was man damals laterales oder vernetztes Denken nannte (vgl. meinen Beitrag hier: Vernetztes Denken v. 27.02.2022). Inzwischen sind wir weiter: Die strikte Trennung von Subjekt und Objekt wurde aufgegeben, weil sie in komplexen Zusammenhängen nur schwer aufrechterhalten werden kann. Weiter wird deutlich, dass die Ursache-Wirkung-Relation, insbesondere in komplexen Zusammenhängen, das Denken sehr schnell an seine Grenzen führt.

Der neuere Ansatz, der zu Vesters Zeiten in seinen Kinderschuhen steckte, kümmert sich nicht um Ursache und Wirkung, sondern konzentriert sich auf die Funktion (den Zweck, den Sinn) von komplexen, organisatorischen Einheiten, die nun als ‚Systeme‘ begriffen werden. Bei sozialen Systeme spricht man nicht mehr von Elementen des Systems, sondern von Teilnehmenden. Durch die Wortwahl wird deutlich, dass hier die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben wird, weil das sogenannte Subjekt i.d.R. selbst als Teil des sozialen Systems betrachtet werden muss. Zwischen den Teilnehmenden des Systems bestehen relativ enge Verknüpfungen. Die Grenze des Systems wird anhand der Verknüpfungen definiert: Im System existieren mehr Relationen untereinander als zur Außenwelt des Systems.

Die Betonung der Verknüpfungen (Relationen) macht deutlich, dass im Rahmen eines Systems jede Handlung automatisch Auswirkungen auf andere Teilnehmende des Systems hat. Das „Netz“, das dadurch geschaffen wird, und in dem die Teilnehmer eingebunden sind, relativiert den üblichen Egoismus und auch den Freiheitsbegriff, weil der Teilnehmer im Rahmen des Systemzwecks nur soweit frei ist, als er die Freiheit des nächsten Teilnehmenden und das Überleben des Systems zu respektieren hat.

Soziale Systeme haben definitionsgemäß eine Funktion. Die Funktion ist konstituierend. Ohne Funktion (oder ohne Zweck) ist ein System nicht denkbar. Das ‚richtige‘ Handeln im Rahmen des Systems wird anhand der Funktion des Systems bestimmt.

Daraus wird verständlich, dass eine Systemveränderung in erster Linie voraussetzt, dass das System in seinen vielen Bezügen verstanden wird. Dabei gibt es vorerst keine Prioritäten, kein Wesentlich und keine Vernachlässigbarkeit. Da der Mensch im Umgang mit Komplexität sehr rasch an seine Grenzen stößt, bietet die Systemtheorie die Möglichkeit, Subsyteme zu definieren – mit anderen Worten, die hohe Komplexität des Gesamtsystems kann in kleinere Systemeinheiten mit jeweils begrenzter Komplexität heruntergebrochen werden, ohne dabei die Komplexität des Gesamtsystems unzulässig zu reduzieren bzw. zu „abstrahieren“.

Ergänzt wird das Konzept durch die Erkenntnis, dass soziale Systeme über die Möglichkeit der Selbststeuerung (Autopoiese) verfügen. Grundlage ist die Tatsache, dass die teilnehmenden Systemelemente als System ggfs. etwas schaffen, das nicht aus den Eigenschaften der Elemente unmittelbar ableitbar ist. Diese Eigenschaft wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass man von einem System sagt, das Ganze sei mehr als seine Teile. Das, was das System kreiert, bezeichnet man als Emergenz. Hiermit möchte ich die Beschreibung der Theorie hier beenden, weil der Anlass es nicht rechtfertigt, noch mehr in die Details zu gehen.

Der Leser wird aus den dürren Beschreibungen spüren, dass die Systemtheorie verglichen mit den Ansätzen von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen relativ komplex ist. Dabei gilt unter Systemtheoretikern die Maxime: Um komplexe Strukturen zu analysieren, braucht es komplexe Werkzeuge. Ist die Komplexität des verwendeten Werkzeugs der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes nicht angemessen, kann die Analyse nicht erfolgreich sein, weil dann unzulässig stark abstrahiert werden muss. Das Ergebnis, das auf abstrahierter Ebene gefunden wird, ist oft nicht mehr sinnvoll auf die Zusammenhänge der Realität zu übertragen. Und dann fallen wir wieder in das häufig anzutreffene Problem des linearen Denkens!

Betrachten wir die Ökonomie: Sie hat seit etwa 200 Jahren ständig dadurch abstrahiert, indem man Verknüpfungen, die den Gedankengang der Ökonomie störten, als Externalität in die Bedeutungslosigkeit verschoben hat. Durch diese Prozesse hat man eine Ökonomie geschaffen, die normative Lösungen anbietet, die aber in vielen Bereichen mit der Realität nichts mehr zu tun haben.

Wenn wir erkennen müssen, dass dieser Planet endlich ist, entziehen wir der gegenwärtigen ökonomischen Theorie die grundlegende Ideologie vom ewigen Wachstum. Das erkannten auch die Ökonomen und haben deshalb große Anstrengungen unternommen, die herrschende ökonomische Theorie so zu interpretieren, dass Wachstum ohne Ressourcenverbrauch darstellbar wird. Das geht jetzt schon seit mindestens 40 Jahren so. Man sollte hier nicht weiter auf Zeit spielen und einen Strich ziehen und anerkennen, dass es hier keine adäquate Lösung gibt. Es wäre auch gut denkbar, sich mit den Erkenntnissen der Physik kurzzuschließen.

Das brächte das reale Wirtschaftssystem nicht unbedingt in ernste Schwierigkeiten, weil ein gesellschaftliches Leben ohne Wirtschaft schlecht denkbar ist. Ob es aber unverändert das heute verbreitete System bleibt, erscheint sehr fraglich. Es fällt mir auf, dass eine Transformation im Gange ist, zu der die wissenschaftsbasierte Ökonomie auf der Grundlage der ihr verfügbaren Denkstrukturen außer ‚Bremsen‘ kaum kreative Beiträge zu leisten vermag. Das Problem der ‚Externalitäten‘ rollt die Ökonomie von rückwärts auf.

Was in der Ökonomie immer als überflüssig oder störend aus ihrem Gedankengebäude als ‚außerhalb der Ökonomie‘ liegend weggedrückt wurde, poppt jetzt als originäre Problemstellung hoch und es ist m.E. deshalb nachvollziehbar, dass die Ökonomie keinen vernünftigen Rat zu geben weiß. Anders kann ich das Abtauchen der großen Wirtschaftsinstitute bei diesen existenziellen Fragestellungen nicht interpretieren.

Kann die Systemtheorie hier Unterstützung leisten? Wenn wir uns klar machen, dass die Fokussierung auf eine Unterscheidung von Subjekt und Objekt nur eine sehr begrenzte Reichweite hat, könnte die Sichtweise auf das Problem im Rahmen von Systemen von Vorteil sein. Das betrachtende Subjekt ist als Mensch Teil eines Systems, wodurch der Mensch seine Perspektive m.E. verändert: Das Subjekt ist nicht ein „Solist“, sondern ein ‚Teilnehmer‘, der in Systeme eingebunden ist. Das System stellt nicht die Frage nach der Ursache einer Wirkung, sondern fragt, ob die beobachtete Wirkung der Funktion des Systems angemessen ist. Auf diese Weise richtet sich die Perspektive vom Subjekt auf das System, auf ein durch vielschichtige Relationen verbundenes komplexeres Ganzes. Um es etwas konkreter werden zu lassen: wir bewegen uns vom individuellen „Ich“ zum „Wir“. Wenn das Subjekt-Objekt-Denken sehr eng und fokussiert ist, gelingt es über das System den Blick zu weiten und ganzheitlichere Gesichtspunkte in die Untersuchungen einzubeziehen. Systeme wollen ‚leben‘ bzw. ‚überleben‘ und damit rückt die Subjekt-Perspektive in die hinteren Reihen.

Das Ursache-Wirkung-Denken können wir aber nicht aufgeben. Ursache und Wirkung bleiben wesentliche Erkenntniswerkzeuge, sie werden nur durch den systemischen Ansatz alternativ erweitert und schaffen Perspektiven, die das lineare Denken aus Gründen der Komplexität, nicht ermöglichen. F. Vester hat diese Unterscheidung in die Praxis übertragen, indem er vorschlug, beim vernetzten Denken nicht in Produkten (oder Objekten), sondern in Funktionen zu denken.

Um diese Unterscheidung im Alltag besser erkennbar zu machen: Das Automobil ist ein Produkt. Die Mobilität repräsentiert die Funktion, zu der am Ende das Produkt beitragen soll. Das Automobil hat in seiner langen Geschichte zweifelsohne zur Mobilität beigetragen. Aber die Welt hat sich in der Zeit verändert: Die Mehrzahl der Automobile steht täglich ca. 22 Stunden herum, braucht in Städten viel Platz (Parkplatz vor dem Haus und Parkplatz in der Firma), stößt erhebliche Abgase und Feinstoffe aus und verursacht in seiner Massierung innerstädtisch einen hohen Lärmpegel. Wenn man beim Produkt bliebe, kommen solche Argumente selten. Sowie man sich über die Funktion klar wird, wird die Perspektive verändert und der Lösungsraum gewinnt an Weite und Vielfalt.

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Transformation durch politische Gestaltung?

Wenn man sich mit Personen unterhält, die ein wenig politisches Interesse haben, kann man feststellen, dass den meisten klar ist, dass wir in oder zumindest vor einer gravierenden Veränderung unserer Gesellschafts – und Wirtschaftsstruktur stehen oder uns schon darin bewegen. Dabei ist eine große Unsicherheit festzustellen, weil auf der einen Seite erkannt wird, dass Veränderungen anstehen, aber andererseits überhaupt nicht klar ist, wohin die Reise gehen soll oder gehen könnte.

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Das politische Lager möchte Optimismus vermitteln, kann ihn aber nicht begründen. Dabei kommt der Verdacht auf, dass sich große Teile der  Politik nicht trauen, die „Wahrheit“ zum Ausdruck zu bringen. Seit über 50 Jahren wird es Schritt für Schritt immer deutlicher, dass unsere Wirtschaftsform – höflich ausgedrückt – nicht nachhaltig ist und uns in eine Situation führt, die Niko Paech wohl als „Desaster“ beschreiben würde.

Die anstehenden Veränderungen, ausgelöst durch den Klimawandel, werden Schritt für Schritt heftiger und die Reparaturkosten werden immer höher. Es stehen immer weniger finanzielle Ressourcen für das eigentliche Transformationsproblem des Klimawandels zur Verfügung. Die Ökonomie versteht die Welt nicht mehr, weil ihre Methodologie die systemischen Zusammenhänge nicht erkennt. Die Ökonomie war Jahrzehnte lang unsere Richtschnur für Verhalten und Handeln in Politik und Wirtschaft. Das „goldene Kalb“ war das Wachstum, gemessen als jährliche positive Veränderung des Bruttoinlandsproduktes (BiP).

Allmählich setzt sich die Auffassung durch, dass das Wachstum keine erfolgversprechende Alternative mehr ist. Aber die Ökonomie kann keine valide und ideologiefreie Aussage treffen, wie unser Wirtschaftssystem aussehen wird oder würde, wenn kein Wachstum mehr möglich ist.

Wachstum ist nicht mehr darstellbar. Wenn große Teile der Wissenschaft zu der Auffassung kommt, dass wir global 1,7 Planeten ‚verfeuern‘, dann sollte doch jeden nüchtern denkenden Menschen klar sein, dass Wachstum keine Option mehr ist. Was macht die Ökonomie und die Politik? Sie erzählen uns seit mindestens dreißig Jahren, dass das Wachstum vom Ressourcenverbrauch abgekoppelt werden könne. Und wenn dieses ‚Wunder‘ geschehe, könnten wir munter weiter Wachstum produzieren. Die Sache hat zwei Haken:

  1. Seit mindestens dreißig Jahren redet man von der Abkopplung und schürt damit falsche Hoffnungen bei der Politik (und den Bürgern), die natürlich hochgradig anfällig für diesen hohlen Optimismus sind. Man könnte sich ja das Handeln bzw. Gestalten „sparen“. Aber die Abkopplung funktioniert nicht!
  2. Solange man die Hoffnung auf Abkopplung nicht offiziell begräbt, werden sich große Teile der Wirtschaft und der Politik mit Hinweis auf die (höchst unwahrscheinliche) Abkopplung ihre Wachstumsziele zum Schaden der Allgemeinheit weiter verfolgen und damit den Planetenverbrauch systematisch in die falsche Richtung führen. Wir verlieren Zeit, die wir dringend benötigen, um die notwendigsten Schritte zu einer Verbesserung der Situation einzuleiten.

Die „Wahrheit“ tut weh. Dabei muss einfach Ernüchterung und auch eine gute Portion Gelassenheit eintreten. Niemand weiß genau, was in dieser komplexen Situation „richtig“ ist, aber der wahrscheinlichste Lösungsansatz ist jener, der die vorhandenen Tatbestände akzeptiert, sie wahrnimmt und zur Grundlage des Handelns macht. Wir wissen, dass wir global etwa 1,7 Planeten verbrauchen, aber nur über einen Planeten verfügen. Oder anders dargestellt: In Deutschland liegt der Fußabdruck des Einzelnen bei etwa 12 ha, anzustreben sind 1 ha pro Person. Die Differenzen zwischen ‚Soll‘ und ‚Ist‘ sind also gewaltig. Auf der Basis der ‚Planetenbetrachtung‘ sollten wir uns global von einem Verbrauch von 1,7 Planeten auf 1 Planeten reduzieren (ca. minus 40 Prozent). Diese Zahlen sind globale Durchschnittszahlen. Es könnte gut sein, dass minus 40 Prozent für Europa nicht ausreichen werden. Um es kurz zu machen: Wer hier dem Wachstum weiterhin die Stange hält, an dessen Geisteszustand muss man zweifeln dürfen. Es geht darum, durch eine klug angelegte Reduktion das Verhalten und das Handeln in unserer Gesellschaft in neue Bahnen zu lenken. Hier hat die politische Bühne bisher nur sehr wenig Neues oder Gestaltendes beigetragen.

Was insbesondere fehlt, ist die systematische Aufklärung der Bevölkerung über die verfügbaren Optionen. Es braucht ein neues Narrativ, das die Köpfe und die Emotionen der Bürgerschaft erreicht und ihnen Gelassenheit und ein positives Grundverständnis der Problematik vermittelt. Stattdessen wird so getan als ob man alles im Griff hätte. Aber es glaubt keiner mehr daran.

Die Wissenschaft hat mit Maja Göpel (Prof. für Politökonomie,), Harald Welzer (Prof. für Soziologe), Niko Paech (Prof. für Postwachstumsökonomik) und mehr allgemein Richard David Precht (Prof. für Philosophie) ein paar Leuchtturmprojekte geschaffen, um mögliche Ansätze neuer Narrative in hinreichend verständlicher Form unter die Leute zu bringen. (Die Aufzählung ist sicherlich nicht vollständig.) Dabei gehen Göpel, Welzer und Precht einen etwas anderen Weg als Niko Paech. Die drei Genannten sind keine klassischen Ökonomen und kommen im weitesten Sinne aus der Sozialwissenschaft und nutzen die Methodologie dieses Fachbereichs, um eine friedliche Transformation des Gesellschaftssystems vermitteln und umsetzen zu können.

Niko Paech als klassischer Ökonom, so mein Eindruck, hat erkannt, dass die Ökonomie bisher nichts Grundlegendes zu der anstehenden Veränderung unseres Wirtschaftssystems beizutragen weiß und hat sich der Frage einer Postwachstumsökonomik zugewandt. Er stellt sich als Ökonom nicht die Frage, wie das bestehende System verändert werden kann oder soll, sondern versucht eine Ökonomie ohne Wachstum zu beschreiben. Er ist der Einzige dieser ‚Leuchttürme‘, der offensiv eine dezidierte Suffizienzstrategie (eine Reduktion des Verbrauchs) verfolgt. Als Ökonom anerkennt er die ökologischen Probleme und gibt der Veränderung zwei Eckpunkte des Handelns: Der Wandel erfolgt im positiven Sinne by design, im negativen Fall by desaster, aber der Wandel selbst ist unausweichlich. In seiner Postwachstumsökonomik zeichnet er ein durch Reduktion bestimmtes Bild von Wirtschaft und Gesellschaft, das aber durchaus nachvollziehbar positive (optimistische) Gesichtspunkte der Gestaltung bereithält.

Was könnte das für die Politik bedeuten? Große Teile der Politik sind noch vollkommen in der Wachstumsideologie gefangen und sie tun sich extrem schwer, sich aus den Fängen der wachstumsverliebten Lobbyisten zu befreien. Wir brauchen aber in der Politik ein anderes Narrativ, das die Übernutzung als unzulässig geißelt und ggfs. die Sinnfrage des Wirtschaftens neu beantwortet. Wirtschaft darf nicht auf Geldverdienen reduziert werden, sondern ist primär Versorgung der Gesellschaft. Der letztere Gesichtspunkt ist in den vergangenen Jahrzenten völlig aus dem gemeinsamen Blickfeld verschwunden. Die Pandemie hat klar gemacht, was fehlende Versorgung bedeuten kann.

Die gegenwärtige Situation verunsichert viele Menschen und die Politik scheint nicht in der Lage zu sein, durch eine sinnvolle Gestaltung Regeln zu entwickeln, die die Verunsicherung reduzieren. Eine Mehrzahl von BürgerInnen (man spricht in manchen Studien von bis zu 80%) wünschen sich hier mehr Gestaltung, Klarheit und Sicherheit.

Als Beispiel möchte ich den Vorschlag der Sektion München und Oberland des Deutschen Alpenvereins (1,4 Mio. Mitglieder) aufgreifen. Deren „Strategie gegen den Klimawandel“ setzt ein beispielhaftes Zeichen, das die Politik übernehmen könnte: Vermeiden (ggfs. erst gar nicht beginnen) – Reduzieren (wenn durchführen, dann auf das Minimum reduzieren) – Kompensieren (etwas anderes weglassen oder finanziell ausgleichen)! Jedes Mitglied des Vereins sollte sich diese drei Schritte bei allen Aktivitäten vor Augen halten und eigenverantwortlich beantworten.

Auf die Politik übertragen, hieße das, dem Wachstumsgedanken eine klare Grenze zu setzen. Das Denken in Wachstum ist absehbar keine Option mehr: also kein „höher, schneller, weiter“, sondern die Frage beantworten: ist die Maßnahme unvermeidbar?, wie lässt sich der Durchführungsumfang reduzieren?, was sollten wir dafür aufgeben?. Wir müssen wieder die Sinnfrage des Wirtschaftens in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen die Wachstumsideologie aufbrechen, indem wir den BürgerInnen in dieser Frage klare Vorgaben machen, Leitplanken schaffen. Dazu gehört, zu erkennen, dass dieser Bruch mit dem jahrzehntelang Vertrauten nicht einfach wird, aber nur so werden unsere folgenden Generationen noch eine Erde vorfinden können, die hoffentlich lebenswert ist.

Die Zeitungen verweisen am 13.September auf Verlautbarungen der Wirtschaftsinstitute, dass angeblich neben der beobachteten Preissteigerung (andere sprechen von Inflation) eine Rezession drohe. Der Begriff ‚Rezession‘ fußt auf dem Verständnis der Wachstumsökonomie, die bei zwei oder drei auf einanderfolgenden negativen Quartalsergebnissen der BiP-Entwicklung von einer Rezession spricht. Wenn wir uns vor Augen halten, dass wir 1,7 Planeten verheizen und unseren Verbrauch auf einen Planeten reduzieren müssen, hat diese Aussage m.E. keine wirkliche Bedeutung. Wenn wir die Suffizienzstrategie als grundsätzlich richtig ansehen, weil sie mittelfristig das ‚Soll‘ und das ‚Ist‘ zusammen bringt, malt die Feststellung einer „Rezession“ ein Bild, das in dem längerfristigen Rahmen in keiner Weise eine sinnvolle Aussage macht.

Vermeiden, reduzieren und kompensieren sind Verhaltensweisen, die der Einzelne annehmen muss. Wenn diese Vorstellung politisch in die Tat umgesetzt werden soll, muss das politisch-wirtschaftliche  Narrativ neu geschrieben werden und muss eine entsprechend breite  Zustimmung erfahren. Hierzu muss man diese Einstellung positiv bewerben, und genauso schamlos wie das Marketing vorgehen. Dort beflügelt offensichtlich das Wecken von  Neid oder die Betonung der sozialen Differenzierung den gewünschten Erfolg.

Wir alle kennen den Begriff des geplanten Verschleißes, den die Industrie regelmäßig weit von sich weist. Aber die Lebensdauer vieler Güter wird laufend kürzer. Die „Geiz ist geil“-Mentalität verlangt immer günstigere Verkaufspreise. Dabei bleibt notwendig die Qualität der Güter und Dienstleistungen auf der Strecke. Die damit verbundene Ausbeutung in den Lieferketten will ich gar nicht ansprechen. Wenn Wachstum nicht mehr das ‚goldene Kalb‘ darstellen kann, um das alle tanzen, wäre es sinnvoll zu überlegen, ob nicht „Qualität ist geil“ der sinnvollere Slogan für die kommenden Generationen darstellt.

Auch hierzu muss die Politik ein passendes Narrativ entwickeln oder entwickeln lassen. Das Narrativ ist dann durch längere Gewährleistungspflichten für Gebrauchsgegenstände und eine grundsätzlich leichtere Reparaturfähigkeit bei ausreichendem Ersatzteilbestand per Gesetz zu unterstützen.

Durch das „Geiz ist geil“-Verhalten und die Erwartungen von billigem Ramsch haben wir mutwillig ein gewaltiges Müllproblem geschaffen. Konsumieren muss wieder primär der Versorgung dienen und nicht der Überbrückung von Langeweile, aus der heraus viel zu oft überflüssige, aber niederpreisige Dinge (man spricht dann gerne von „Schnäppchen“) erworben werden. Es handelt sich dabei im Grunde um systematische Müllproduktion. Auch hier hilft vielleicht das Motto: „Vermeiden, reduzieren, oder kompensieren“.

Gegenwärtig ersticken wir in ‚wohlsortierten‘ Müllbergen, die aber zum größten Teil (etwa zu 80%) nicht im eigentlichen Sinne recycelt werden können. Also sind wir diesbezüglich von der Vorstellung einer Kreislaufwirtschaft, die in diesem Zusammenhang oft strapaziert wird, meilenweit entfernt. Die „Pflege“ bzw. Verwaltung dieser Müllberge kostet uns Milliarden. Hier und da werden Müllpakete im beachtlichen Umfang ‚exportiert‘, damit auch Afrika und Fernost, gewissermaßen global, an unserem ‚Müllüberfluss‘ partizipieren können.

Das sind leider nur ein paar Ideen. Das Gesamtproblem werden sie nicht lösen. Da müssen wir noch „ein bisschen“(!) daran arbeiten.

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Transformation – ja, aber wie?

Viele Artikel, die ich im Rahmen der Transformationsdiskussion gelesen habe, befassen sich mit den Fragen, was wir mit Blick auf Klimakrise in unserem Verhalten und unserem Handeln alles ändern sollten. Je länger ich mich mit diesen Fragen beschäftige, desto unzufriedener werde ich. Es fehlen mir wissenschaftlich begründete Aussagen zu dem sozialen Aspekt der Transformation, wie wir all diese Erkenntnisse einer breiten Bevölkerung vermitteln wollen.

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Dabei gehe ich davon aus, dass es gilt, die Unterstützung einer möglichst breiten Bevölkerungsschicht für dieses existenzielle Transformations-Projekt zu gewinnen.

Dabei dürfen wir nicht davon ausgehen, dass sich alle Welt für die Fragen interessieren, die gegenwärtig von wenigen Politikern und von einen relativ kleinen Kreis von Wissenschaftlern bearbeiten werden. Wir müssen feststellen, dass die Erkenntnis der negativen Umweltveränderungen bei vielen Menschen eher Unmut oder Angst auslösen denn Interesse an einer Zusammenarbeit zur Beseitigung der Probleme. Diese Emotionen führen auch bei einem großen Teil der Bevölkerung zur Verdrängung der Problemstellung. Im schlimmsten Fall verweigern sich (zum Glück nur kleine Teile) der Bevölkerung und sprechen von Manipulation, Freiheitsberaubung, Krieg gegen das eigene Volk und ähnlichem Unsinn.

Ich fühle mich bei diesen Diskussionen oft ins Mittelalter katapultiert, weil die Sichtweise so bar jeden Wissens und jeder Erkenntnis ist. Man fragt sich, ob diese Menschen keine Schulbildung erfahren haben, weil sie die einfachsten Grundlagen des Physik- oder Chemieunterricht in den Wind schlagen. Sie „glauben“ etwas, das vor dreihundert Jahren nicht verwunderlich wäre, weil damals die meisten Bürger kaum lesen und schreiben konnten, geschweige denn über eine hinreichende Schulbildung verfügten.

Unser Wissen über die Zusammenhänge ist seit der Aufklärung gewaltig angewachsen. Wir brauchen nicht mehr zu glauben, wir wissen über viele Sachverhalte heute recht genau Bescheid. Was die Menschen aber verunsichert, ist m.E. die Tatsache, dass wir viele Dinge wissen, aber gleichzeitig auch erkennen müssen, dass es einfache und „knackige“ (eineindeutige) Lösungen nur noch sehr selten gibt. Sie bilden die absolute Ausnahme.

Die alten Lösungen sahen gut aus, weil sie nie über ihren selbst definierten Tellerrand hinausschauten und die Schäden jenseits des Tellerrandes, die sie anrichteten, gar nicht wahrgenommen wurden; es waren lineare Detaillösungen, die die mit den Aktivitäten verbundene Kollateralschäden stets als irrelevant zur Seite schoben. Unsere heutigen Problemstrukturen sind durch die Jahrzehnte lang vernachlässigten (angeblich irrelevanten) Kollateralschäden gekennzeichnet und sie holen uns jetzt ein; eine simple „lineare“ Lösung wie ehemals muss als ausgeschlossen gelten.

Die Probleme prasseln von allen Seiten auf uns ein und wir müssen statt Einzelfalllösungen endlich systemische Lösungsansätze suchen. Sie sind aber hochkomplex und verschließen sich deshalb einer einfachen linearen und lokalen Behandlung. Zudem ist diese Problemkategorie einem Publikum, das immer noch auf  die „knackigen“ Lösungen hofft und von der Politik darin oft auch bestärkt wird, nur schwer zu vermitteln.

Neben der Problemlage ist auch die Frage nach dem Ziel kritisch. Wir haben uns an eine Metrik gewöhnt, die unserem linearen Denken entspricht. Wir stellen aber zunehmend fest, dass wir aufgrund der fehlerhaften Metrik Zielen hinterher laufen, die weder nachhaltig noch „Sinn-voll“ sind. Durch eine Änderung der Metrik werden die Ziele aber komplexer und sind gegenwärtig nicht in einer schlichten Zahl oder einem (Container-)Begriff plakativ darzustellen. Im Prinzip sind wir gegenwärtig als Gesellschaft ein Stück weit orientierungslos, weil die alten Ziele nicht mehr „funktionieren“ und neuen gesellschaftlichen Ziele auf breiter Basis noch nicht (für jedermann) erkennbar institutionalisiert sind.

Wenn wir also Projekte aufsetzen wollen, um eine Transformation herbeizuführen, haben wir eine Gruppe Wissenschaftler, die eine Menge über die notwendigen Prozesse weiß, aber sich nicht trauen darf (weil nicht legitimiert), neue Ziele festzulegen. Die Gruppe, die über die Legitimation der Politik verfügen würde, traut sich auch nicht, weil in der Konkurrenzdemokratie jede Partei zu jeder Zeit bemüht ist, Fehler der „anderen“ zu identifizieren, statt einen sinnvollen mehrheitlichen Diskurs über die Grenzen der Parteien hinweg zuführen, der sich nicht wieder am kleinsten gemeinsamen Nenner orientiert, sondern die generationsübergreifenden Probleme lösen soll.

Wie soll der Problemzusammenhang in die Bürgerschaft getragen werden, wenn die Wissenschaftler unter sich bleiben und die Politik mindestens so kurzfristig ‚tickt‘ wie die Wirtschaft? Wie soll dann eine langfristige globale Problematik einer Lösung zugeführt werden? Auf dem Felde der öffentlichen Information und des Narrativs kann ich nur eine Figur ausmachen: Maja Göpel. Sie tourt durch Deutschland und versucht sich in einer relativ verständlichen Sprache den Bürgern zu nähern und den von ihr vertretenden Perspektivwechsel in ein Narrativ zu packen, um den „Souverän“ (das Wahlvolk) in kleinen Schritten für die Sache der Transformation zu gewinnen.

Und was muss sie dabei für Beschimpfungen und unqualifizierte Äußerungen zur Kenntnis nehmen, für deren Verursacher die Feststellung mangelnder Urteilskraft (Kant) hochgradig geschmeichelt ist. Es ist doch sinnlos, großartige materielle und institutionelle Veränderungen aufzuzählen und zu propagieren oder zu fordern, wenn wir nicht sicherstellen können, dass der gesellschaftliche Konsens ausreicht, diese weitreichenden (und ggfs. auch guten) Ideen mit bürgerlicher Zustimmung umsetzen zu können. Außer Maja Göpel ist mir in der ‚Community‘ bisher niemand aufgefallen, der sich dieser Aufgabe so intensiv widmet. Die meisten Teilnehmer der ‚Community‘ sitzen in ihrem Elfenbeinturm, wo doch Kommunikation so wichtig wäre. Namhafte Politiker findet man hier sowieso nicht. Das Eisen ist politisch viel zu heiß und Politiker folgen gewöhnlich einer kurzfristigen Parteiräson oder dem Fraktionszwang. Die Wirtschaft redet wenigstens von Agilität, Parteien haben für ihre Organisation in diesem Sinne noch kein Rezept gefunden.

Wir sind gewohnt, Projekte über Ziel-Mittel-Relationen zu realisieren. Nun stehen wir vor der Frage, was machen wir mit einem Transformationsprojekt, für das kein klares Ziel bestimmt ist und bei dem die Mittel gegenwärtig in vielleicht nötige, aber oft dubiose Anpassungsleistungen an den Klimawandel fließen. Wenn aber Ziel und Mittel nicht definiert werden können, welche respektable Persönlichkeit des öffentlichen Lebens wäre denn bereit, seinen guten Namen für ein solches Projekt zu riskieren. Das Desaster ist doch vorprogrammiert! Da kann man nur verlieren!

Was heißt das für die Transformationsgeschäft? Angenommen, wir hätten  das Transformationsprojekt definiert, bleibt doch die Frage, wie arbeiten Wissenschaft und Projektbeteiligte zusammen? Wie schaffen wir es, eine ausreichende Mehrheit der Bürger zu begeistern, die dem Ergebnis des Projektes letztlich auch zustimmt? Wir sind offensichtlich nicht in der Lage, ein Projekt dieser Größenordnung und Brisanz im Rahmen unserer gewohnten Institutionen auf die Beine zu stellen.

Umso wichtiger sind m.E. in diesem Prozess neue Beteiligungsformen, die einerseits den bestehenden schwerfälligen Institutionen Beine machen und andererseits in der Lage sind, jene Wählerschichten zu aktivieren, um die sich die alten Institutionen nicht mehr kümmern wollen. Das Spektrum gilt wohl als zu dispers, zu mühselig, zu widerspenstig, zu inhomogen. Diese Wählergruppe würde die Parteien aufgrund ihrer Inhomogenität und Vielfalt vor große interne Akzeptanzprobleme stellen. Deshalb müssen wir andere Wege der Beteiligung (im Grund also neue Institutionen) finden und zulassen.

Gibt es eine weitere Alternative? Wenn wir von einem Projekt sprechen, unterscheiden wir gewöhnlich drei Kategorien: die Ausgangslage, das Ziel und die Mittel. Die Zielformulierung, so haben wir festgestellt, ist gegenwärtig kaum mehrheitsfähig. Der Einsatz der Mittel braucht ein Ziel; ohne Ziel keine Mittel. Es bleibt die Ausgangslage übrig. Über sie gibt es die meisten Informationen und über die gegenwärtige Situation gibt es deshalb auf Grund der verfügbaren Fakten ein gewisses Erschrecken, aber auch die einfacheren, faktenbasierten Diskussionen. Man weiß, von was man redet: Kein falscher Optimismus, keine “Hockey-Sticks“ für das Morgen. Hier scheint das Problembewusstsein den meisten der Beteiligten klar vor Augen zu stehen.

Unser westliches Denken ist in dieser Situation ziemlich hilflos. Da wir schon mehrfach über die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels philosophiert haben, gäbe es einen alten Denkansatz, den die buddhistische Philosophie vor 2.500 Jahren entwickelte. Um den Vorteil dieses Ansatzes nutzen zu können, müssten wir unser strammes zukunftsorientiertes Denken in Ziel und Mittel zurückstellen. Wir müssen uns auf die Ausgangssituation konzentrieren und akzeptieren, dass „sie ist, wie sie ist“! Diese Feststellung setzt voraus, dass wir die Ausgangssituation dann eingehend analysieren, um ideologische, einseitige und fehlerhafte Wahrnehmungen (die sogenannte „Verblendung“) durch Achtsamkeit ausschließen bzw. auf ein Minimum reduzieren zu können.

Als Folge haben wir dadurch eine Grundlage, um die Situation und die maßgeblichen Aktivitäten, die sie geschaffen haben, dahingehend zu bewerten, welche der Aktivitäten für die Situation als „unheilsam“ (es fällt mir kein moderneres Wort dafür ein) zu klassifizieren sind. Und für die als „unheilsam“ erkannten Aktivitäten gilt das schlichte Ziel, sie mit sofortiger Wirkung konsequent zu unterlassen. Mit jedem Schritt wird etwas „Unheilsames“ aus der Situation eliminiert und die Situation damit ständig schrittweise zum Besseren gewendet.

Die beschriebene Vorgehensweise ist im westlichen Sinne eine sogenannte Stückwerkstechnik, aber sie kann auch dann, wenn keine großen Ziele unser Verhalten lenken, zu einem Zustand führen, der deutlich besser sein wird als nichts zu tun, weil man sich auf Ziele und Mittel nicht verständigen kann. Die Bestimmung des „Unheilsamen“ gilt nicht für das gesamte Projekt, sondern nur für die aktuelle Situation. Wichtig ist die Erkenntnis, dass das „Unheilsame“ eine Qualität darstellt, die es zu vermeiden gilt. Damit ist dem gängigen allgegenwärtigen ökonomischen Denken eine wesentliche Grundlage entzogen, weil unser Verständnis von Ökonomie rein quantitativ orientiert ist.

Diese Vorgehensweise stellt auch nicht alles auf einmal in Frage, sondern nimmt sich inkremental einzelne Sachverhalte vor. Im Hinblick auf die Notwendigkeit, die Bürgerschaft bei dem Transformationsprozess abzuholen und mitzunehmen, erscheint diese fernöstliche Strategie, auf unsere Verhältnisse übertragen, von großem Vorteil, weil die jeweiligen Schritte aus einem Ist-Zustand heraus erfolgen (und damit auch für die Betroffenen) konkret und überschaubar bleiben. Der weitere Vorteil liegt darin, dass in den Fällen, in denen die nationale oder globale Ebene nicht mitzieht oder sich nicht einig ist, trotzdem im Sinne einer Verbesserung der jeweiligen Situation gehandelt werden kann. Wir müssen nur darauf achten, dass die Fehler, die zum Problem geführt haben, nicht wiederholt werden. Es bleibt auch immer die Gefahr, dass scheinbar simple lineare Lösungen sich vordrängen. Aber wir haben ja die schlechten Erfahrungen der Vergangenheit und hoffentlich genügend „Watchdogs“ in Gestalt der NGOs und ähnlicher Institutionen, die aufpassen, wenn wir uns vom Ist-Zustand ausgehend schrittweise wirklich an die Verbesserung machen.

Das ist sicher nicht der große Coup und auch nicht der gewünschte Befreiungsschlag, aber es ist ein gangbarer Weg, solange sich die Politik (seit über 50 Jahre) nicht um die Erkenntnisse der Wissenschaft schert, auch kein gemeinsames Transformationsnarrativ zu produzieren in der Lage ist, vielleicht auch insgesamt einfach ratlos ist und unverändert der alten Devise anhängt: Augen zu und durch! Mit der fragwürdigen Hoffnung: wenn wir wieder die Augen aufmachen, war das alles nur ein böser Traum? Die Strategie war noch nie erfolgreich! Das ist die schlechteste aller denkbaren Alternativen.

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Demokratie und eine polarisierte Gesellschaft

In der Theorie der Demokratie kommt Polarisierung m.E. gar nicht vor. Demokratie wird uns als Ideal verkauft. Die Wirklichkeit mit ihren Unzulänglichkeiten kommt darin nicht vor. Die Demokratie kennt Meinungsverschiedenheiten, die sie als solche toleriert und braucht, um aus der Vielfalt der Meinungen eine Haltung zu entwickeln, die das gemeinsame politische Handeln stützt.

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Demokratie braucht deshalb einen Grundkonsens, wie mit Auffassungen und Meinungen umzugehen ist. Unsere Verfassung hat vor über 70 Jahren das Schwergewicht der Konsensbildung den Parteien übertragen.

Wenn wir heute von einer polarisierten Gesellschaft sprechen müssen, so haben offensichtlich die Parteien diese Konsensbildungsfunktion nicht oder zumindest ungenügend wahrgenommen. Den Grund könnte man in der Struktur der Parteien suchen. Haben sich die Parteien so verändert, dass sie diese Aufgabe nicht (mehr) adäquat wahrnehmen können? Oder: Die Entwicklung der Parteien ist stehen geblieben und die Umstände haben sich so verändert, dass die Parteien damit überfordert sind. Oder: Die Erwartung vieler Wähler hat sich stark gewandelt und die Parteien haben darauf (bisher) keine adäquate Antwort gefunden. Das, was die Parteien bewegt, trifft offensichtlich nicht die Erwartungen eines immer größeren Teils des ‚Wahlvolkes‘.

Durch die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft rückte die Idee der Gesellschaft und Solidarität leider in den Hintergrund. Der Neoliberalismus kennt lt. Margret Thatcher keine Gesellschaft, sondern nur Individuen. Ein solch gravierendes Missverständnis befeuert die Polarisierung; jeder (der es sich leisten kann!) glaubt sich auf einer Insel und meint seine sogenannten „Freiheits“-Ansprüche ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft durchsetzen zu können. Und eine große Zahl von denen, die es sich nicht leisten können, die also auf eine solidarische Gesellschaft angewiesen wären, steigt aus: Nicht mit mir! 

Man sollte ein paar Beobachtungen heranziehen, um die hier vertretene Auffassung zu begründen und verständlich zu machen. In unserer Parteienlandschaft verfügte die SPD einmal über die meisten Mitglieder (deutlich über eine Million), heute hat sie noch knapp die Hälfte. Deutliche Schrumpfungsprozesse weisen auch die anderen Volksparteien auf. Der FDP sind Teile ihrer konservativsten Wähler zur AFD abgewandert; die AFD ist zerstritten und mit sich selbst beschäftigt. Die FDP, so meine Wahrnehmung, hat es aufgegeben, breite Bevölkerungsschichten anzusprechen, sie ist eine Klientelpartei geworden, die außer ihrer Klientel keine Bürger vertreten will. Die Linken hatten für ein paar Jahre zunehmende Mitgliederzahlen, verlieren gegenwärtig bis zur Bedeutungslosigkeit. Die Gründe sind sicher vielfältig und teilweise selbstgemacht. Aber man könnte daraus auch den Schluss ziehen, dass das Interesse des ‚Wahlvolkes“ am politischen Geschehen zumindest ein Stück weit verloren gegangen ist.

Die Wahlbeteiligung ist erschreckend niedrig. Was ist mit den 30 – 40 Prozent unserer Gesellschaft, die wählen dürfen. aber regelmäßig nicht zur Wahl gehen? Dieses Verhalten als schlichtes Desinteresse zu geißeln, trifft nicht den Kern. Das politische Interesse wäre m.E. schon vorhanden, aber die bestehenden Strukturen stoßen viele ab, sich aktiv oder passiv einzumischen. Mit ‚aktiv‘ ist ein Sich-Einbringen gemeint und ‚passiv‘ bedeutet, sich zu einer Wahl aufstellen zu lassen.

Wenn wir das Ergebnis der Wahlen in den letzten Jahren anschauen, so könnte man zu der Auffassung gelangen, dass hier einige Problemstellungen in die gleiche Richtung laufen. Die Parlamentszusammensetzung weist 80 Prozent Akademiker auf. Der Anteil der Akademiker in der Bevölkerung liegt bei etwa 20 Prozent. Frauen, Selbstständige und Handwerker (u.a.m.) sind dagegen völlig unterrepräsentiert. Es gibt noch viele weitere Gesichtspunkte, in denen das Parlament in keiner Weise als „repräsentativ“ verstanden werden könnte. Um es kurz zu machen: Könnte es sein, dass viele Nichtwähler glauben, „dass es auf sie sowieso nicht ankommt“[1]. Verena F. Hasel[2] zitiert eine Bertelmann Studie, die zu dem Ergebnis kommt, „dass es in den Stimmbezirken, die bei der Bundestagswahl 2017 die niedrigste Beteiligung zu verzeichnen hatten, 70 Prozent mehr Menschen ohne Schulabschluss und 50 Prozent mehr Haushalte aus dem unteren Milieu gab als in denen, wo besonders viele Menschen zur Wahl gegangen waren. Damit, so heißt es in der Untersuchung, sei das Resultat der Bundestagswahl ‚sozial nicht repräsentativ‘. (…) Wären Nichtwähler eine Partei, so hätten sie in der Bundestagswahl 2017 die zweitstärkste Fraktion gestellt“.

Wir leisten uns das, was Richard D. Precht[3] eine Konkurrenzdemokratie nennt. Kooperation unter den Parteien entsteht nur und ganz begrenzt in Zwangssituationen. Und selbst da herrschen immer ein zelebrierter Auseinandersetzungsmodus und der Versuch der Abgrenzung. Anstatt zwischen den Wahlen zum „Wohle des Volkes“ eine ruhigere Gangart einzulegen, geht der „Krieg“ oft unterschwellig weiter. Ist das die Natur der Demokratie oder ist dieses Verhalten einfach nur Krampf? Wir, das Wahlvolk; bekommen Schaukämpfe vorgeführt, die inhaltlich keinen Mehrwert haben. Aber die Parteien möchten uns glauben lassen, dass dieses Verhalten normal und alternativlos sei (Darstellungspolitik vs. Entscheidungspolitik).

Parlamentarier kennen sich oft seit vielen Jahren und schätzen sich u.U. persönlich und natürlich jenseits der Öffentlichkeit. Sie spielen uns dann regelmäßig ein „Theater“ vor, bei dem man selten den Eindruck gewinnt, es geht wirklich um die Sache.

Die Schweiz hat ihre Form der Demokratie anders gelöst. Man spricht dort von Konkordanz-demokratie[4]. Verkürzt ausgedrückt gilt: Wenn das Wahlvolk „entschieden“ hat, ist eine Allparteienregierung zu schaffen, wobei das Mitspracherecht der Parteien in den sieben Ministerien umfassenden Regierung entsprechend der auf sie entfallenden Wählerstimmen geregelt ist. Alle Parteien arbeiten nach bestem Wissen gemeinsam für die Regierung der Eidgenossen. Sollten sie sich mehrheitlich nicht einigen können, schwebt über allem das Damokles-Schwert der direkten Demokratie. Ist eine Wahlperiode zu Ende, lebt der Konkurrenzmodus auf und jede Partei hat die Möglichkeit, sich im besten Lichte darzustellen und um Stimmen zu kämpfen. Der Konkurrenzmodus endet wieder mit dem Entscheid der Wahl. Diese Form der Konkordanzdemokratie gilt in der Schweiz seit rd. 500 Jahren und scheint recht erfolgreich zu sein.

Kommen wir zu den Alternativen, wie wir unsere Demokratie ergänzen und verbessern können. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Frage, wie können wir die Gruppe der Nichtwähler gewinnen und in den Prozess eingliedern:

Der gegenwärtige Fraktionszwang, den m.W. alle Fraktionen des Bundes- und der Landtage nutzen, wird viel zu selten aufgehoben. Ich sehe einen Lösungsansatz darin, dass der Fraktionszwang grundsätzlich entfällt. Wenn er bei wichtigen Fragen zur Anwendung kommen soll, muss er begründet, beantragt und von der einfachen Mehrheit der anwesenden Abgeordneten befürwortet werden. Der Fraktionszwang wird damit begründet, dass die demokratische Willensbildung angeblich in den Parteien und Fraktionen erfolgen würde. Die Vorgänge aber sind nicht öffentlich und manche gute Ideen werden dort still und heimlich dem Machtstreben der Partei geopfert. Was es dann ins Plenum schafft, hat seine Ursprünglichkeit, Kreativität und Unschuld verloren. Vielfalt der Ideen wird tendenziell auf Einfalt (auf den Machtgesichtspunkt) reduziert!

Die Schweiz, so kommt es mir vor, nutzt das in der Verfassung vorgesehene Plebiszit als Drohkulisse, um allzu widerspenstige ParlamentariererInnen zur Kooperation zu bewegen. Bei der Durchführung eines Plebiszits können alle Parteien verlieren, sowohl an Stimmen und auch an ‚Reputation‘, also ist es wirklich nur das letzte Mittel. Das ist eine ganz andere Situation als in der Konkurrenzdemokratie, bei der Kooperation durch (möglicherweise unsinnige) Zugeständnisse wie auf dem Basar erkauft werden muss (Beispiel: Tempolimit).

Betrachten wir die Tatsache, dass 30 bis 40 Prozent unseres Wählerpotenzials überhaupt nicht politisch in Erscheinung treten. Sie wählen nicht und weil sie nicht wählen, haben auch die Parteien kein so rechtes Interesse deren Wünsche und Belange aufzugreifen. Das sagen sie natürlich nicht, das wäre schlicht Dummheit. Also betreiben sie diesbezüglich Symbolpolitik und Lippenbekenntnisse, beides kostet wenig bis nichts. Wenn wir uns aber die Entwicklungen bei Corona oder bei „empörungsrelevanten“ Sachverhalten ansehen, diese Bevölkerungsteile sind nicht stumm und tumb, sondern es besteht die Gefahr, dass aus solchen Kreisen plötzlich „Wutbürger“ werden, um den plakativen Begriff aufzunehmen. Konkret heißt das, dass dieses Potenzial durchaus ansprechbar ist. Und es rumort in diesen Kreisen, weil sie sich als abgehängt empfinden. Die Parteien und das Parlament sind von einer völlig anderen Bevölkerungsgruppe okkupiert und die Parteien haben offensichtlich jede Verbindung zu diesen Nichwählerschichten verloren.

Diese Situation müssen wir dringend ändern! Die Erwartung, dass sich die eingefahrenen Prozesse der Parteien ohne Druck ändern, ist eine Illusion. Wir müssen diesen 30 – 40 Prozent Abgehängten einen Weg direkter Demokratie eröffnen, der ggfs. außerhalb des gegenwärtigen Grundgesetzes liegt. Es muss etwas Neues sein. Und es muss so gestaltet sein, dass auch die Parteien sachlich so in Bedrängnis geraten, dass sie sich mittelfristig dieser Klientel zuwenden.

Es gibt Ansätze direkter Demokratie in den unterschiedlichsten Formen: den Bürgerrat, das Volksbegehren oder den Bürgerentscheid (auf allen politischen Ebenen mit niedrigen Durchführungsbarrieren), die Planzelle des Peter Dienel (das ‚deliberative‘ Partizipationsmodell) und ähnliche Verfahren, die außerhalb der eingefahrenen politischen Strukturen laufen und weltweit schon viel hundertfach erfolgreich angewendet werden. Man hat leider mit der griffigen Überschrift „Losen statt Wählen“ der dahinter stehenden Idee keinen Gefallen getan. Das Losen steht in zu engem Zusammenhang mit dem Glückspiel und weist in die komplett falsche Richtung. In der Schweiz gibt es eine öffentliche Verwaltungsstelle, die diesen plebiszitären Bestrebungen neutral mit Rat und Tat zur Seite steht und gleichzeitig auf die Einhaltung einer gewissen Mindestform und Vorgehensweise Einfluss nehmen kann.

Immer dann, wenn wir eine kleine, aber repräsentative Gruppe Bürger zusammenstellen wollen, in der jede Gesellschaftsschicht unserer Republik eine reelle Chance hat, vertreten zu werden, so bildet man eine statistisch repräsentative Stichprobe, indem zufällig ausgewählte Bürger aller Schichten angesprochen werden, ob sie (freiwillig) Teil des Prozesses werden wollen. Ziel ist es, in dieser Gruppe alle gesellschaftlichen Bereiche repräsentativ abbilden zu können.

Die freiwilligen Teilnehmer werden zu einem persönlichen Treffen eingeladen, erhalten dort eine umfassende fundierte und neutrale Einführung in die aktuelle Problemstellung, Sie treffen sich dann in wechselnden Gruppen, um vorher definierte Fragen in freiem Gedankenaustausch (Deliberation) zu diskutieren. Für diese Aufgabe wird auch eine Aufwandsentschädigung bezahlt. Das Ergebnis der Diskussion wird mit professioneller Unterstützung zusammengefasst und ist eine Vorlage für die Politik, die darauf reagieren muss. In einem anderen Zusammenhang habe ich ausgeführt, dass auf diese Weise dem Bürger, der gewöhnlich über keine Lobby verfügt, ein Einfluss möglich wird, der dem Lobbyismus der Wirtschaft Paroli bieten kann. Da das Parlament bzw. die Politik gezwungen wird, darauf zu reagieren, wäre das ein starkes Instrument und ein wirksames Gegengewicht zum unvermeidlichen, aber lästigen Lobbyismus der Wirtschaft. Wichtig ist dabei, dass über das Ergebnis in den Medien detailliert berichtet wird, um jenen 30 – 40 Prozent zu zeigen, dass auch ihre Problemstellungen Eingang in die Diskussionen findet.

Wer sich intensiver mit dieser Frage auseinandersetzen will, dem sei das Buch von Verena Friederike Hasel, „Wir wollen mehr als nur wählen“  aus dem Jahre 2019 zum Lesen empfohlen. Es ist gut geschrieben und lässt sich flott lesen.


[1] V. F. Hasel, Wir wollen mehr als nur wählen, DTV 34968, 2019, S. 28

[2] Eda. S. 28

[3] David Richard Precht, Die Kunst kein Egoist zu sein, S. 468f.

[4] Vgl. V.F. Hasel, a.a.O., S. 55, oder David Richard Precht, a.a.O. S. 468f.

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