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„Bedenke das Ende“ – eine etwas andere wirtschaftliche Perspektive

In einer ‚leeren‘ Welt als Synonym für eine schwachbevölkerte Welt konnten es die Menschen sich leisten. Produktion ‚linear‘ von der Wiege bis fast zur Bahre (hier: die Veräußerung) zu denken und was danach geschieht, entzieht sich, als Müll bezeichnet, weitgehend unserem wirtschaftlichen Interesse.

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In einer ‚vollen‘ Welt mit hoher Bevölkerungsdichte und hohen Produktionsvolumina führt diese Denkweise in die Irre, denn sie blendet die Tatsache aus, dass wir, solange wir eine Wachstumsstrategie verfolgen, systematisch auch immer mehr Abfall produzieren.

Wir ersticken buchstäblich im Abfall. Wir verwalten ihn für viel Geld so gut es eben geht und sprechen hin und wieder vom Recyceln, aber nur (vermutlich geschönte) 12% des Abfalls werden einem „Recycling“ (ohne wenn und aber) zugeführt. Der Rest wird aufbewahrt, manchmal illegal abgefackelt und ansonsten „thermisch“ recycelt, also auf deutsch: CO2-wirksam verheizt. Das ist keine nachhaltig sinnvolle Lösung.

Die Ökonomie kennt zwar den Ausschuss und den Verschnitt im Rahmen eines Produktionsprozesses, aber die Ökonomie erfasst in ihren gewöhnlich linearen Überlegungen mit keinem Wort, dass alles das, was das ökonomische System an Produkten hervorbringt, irgendwann unweigerlich zu Lasten der Biosphäre in Abfall mündet. Man hat die Biosphäre bei der Extraktion von Ressourcen nicht gefragt und fragt die Biosphäre auch nicht, wie sie mit all dem vom Menschen geschaffenen Abfall umgehen soll. Aus den Augen aus dem Sinn!! Die Ökonomie macht im Großen dass vor, was wir im Kleinen in jedem Wald an illegal entsorgtem Abfall finden können – nach der Devise: sollen sich doch andere darum kümmern!!

Vor Jahrzehnten wurde der Grüne Punkt ins Leben gerufen. Er funktioniert über ein Lizenzsystem und erhält von jedem Hersteller einen überschaubar geringen Obolus, der gesammelt eine beachtliche Summe an Geld zur Verfügung stellt. Diese Gelder dienen m.E. dazu, die Abfallwirtschaft zu subventionieren, damit sie den Abfall schön sortiert, ihn thermisch recycelt oder gar exportiert, damit der Bürger nicht erkennt, dass langfristig und schrittweise die Voraussetzungen für ein Müll-Chaos geschaffen werden. Wir müssen uns das so vorstellen, dass die Abfallwirtschaft durch den Grünen Punkt ein gigantisches nie endendes Geschäftsmodell darstellt. Abfall ist systemimmanent! Und da man damit gute Geschäfte macht, gibt es auch keinen Anlass, dieses System besser oder innovativ anders zu organisieren. Warum auch – der ‚Rubel‘ rollt doch!

Das einzige Problem ist die Endlichkeit – irgendwann schlägt die Klimakrise zu oder der Planet wird landwirtschaftliche Flächen zur Verfügung stellen müssen, damit der Müll (natürlich sauber geordnet) aufgestapelt werden kann. Können Sie sich vorstellen, dass uns künftig ein etwas dekadenter ‚Erlebnistourismus‘ auf Mülldeponien führen wird, weil der Blick von den hohen „Monte Scherbelinos“ über die Müllberge so „herrlich bunt das Auge entzückt“ (wie die Werbung es uns dann versprechen wird) und hoffentlich wird dabei wenigstens unser makabrer Sinn für Ordnung befriedigt.

Der Grüne Punkt ist in meinen Augen eine „Gelddruckmaschine“, mit deren Hilfe sich ein Abfallwirtschaftssystem etabliert hat, das darauf hofft, dass sich möglichst nichts daran ändert. Und der Politik ist das nur recht. Ein Problem weniger…!?

Als Lösung wird hierfür vielfach die Kreislaufwirtschaft gepriesen, wobei die meisten Befürworter die damit verbundenen Zusammenhänge für ein Funktionieren dieser Wirtschaftsform nicht erkennen bzw. ausblenden wollen. Die Kreislaufwirtschaft geht davon aus, dass der Teil des Abfalls, der recycelbar ist, dem Wirtschaftskreislauf wieder zur Verfügung gestellt wird. Das sind mit Sicherheit keine 100 Prozent. Der Rest des Ressourcenbedarfs wird wie heute auch durch den Abbau von Ressourcen (Extraktion) bereitgestellt werden müssen. Um die Extraktionsquote so klein als möglich halten zu können, muss die Recyclingquote so hoch als möglich geschraubt werden.

Recycling ist aber kein Perpetuum Mobile. Bei jedem Recyclingdurchlauf entstehen Verluste. Der Verbrauch an den originären Ressourcen wird sich dadurch aber drastisch reduzieren lassen, was wiederum der Grundstoffindustrie gar nicht gefallen wird. Der Widerstand dürfte entsprechend heftig ausfallen.

Bei Lebensmitteln gibt es kein Recycling. Millionen Tonnen Lebensmittel werden jährlich „entsorgt“ (vernichtet). Das lässt sich aber nicht durch Recyceln regeln, sondern durch Veränderung unserer Ernährungsgewohnheiten, die insbesondere durch Wünsche und Erwartungen des Lebensmittelhandels durchdrungen sind. Es gibt Handelsklassen, die bestimmen, wie ein Lebensmittel auszusehen hat. Was dem nicht entspricht, wird ausgesondert und kommt i.d.R. erst gar nicht auf den Markt. Die Ware ist nicht minderwertig, sie entspricht nur optisch oder von der Größe her nicht den Handelsklassen und gilt damit als unverkäuflich. Es müssten lokale Märkte jenseits des Handels und seiner Handelsklassen (notfalls) subventioniert geschaffen werden, um diese ca. 30 Prozent einer Ernte nicht regelmäßig unterpflügen (verschwenden) zu müssen.•••••

Die Kreislaufwirtschaft hat eine weitere Herausforderung: Das recycelte Wirtschaftsgut (das Grundprodukt) wird nur dann in einem zweiten oder dritten Durchlauf vom Markt akzeptiert werden, wenn der Preis des recycelten Wirtschaftsgutes dem der Originalressource entspricht oder sogar leicht darunter liegt. Ist das recycelte Gut teurer, wird es keinen Käufer finden. Mit anderen Worten: Das Recyceln des Abfalls muss kostenmäßig grundsätzlich zu Lasten des jeweiligen Ausgangsproduktes erfolgen. Die Kosten können nicht auf die Verwendung des recycelten Wirtschaftsgutes vorgetragen werden.

Die Idee hierzu ist schon längst geboren: Der Grüne Punkt lizenziert im Prinzip alle Güter und hat ein System entwickelt, in dem jeder Produzent für die Abfallwirtschaft einen Beitrag zu leisten hat. Diese Geldsammelstelle (oder „Gelddruckmaschine“) sammelt heute schon das Geld ein, das die Abfallwirtschaft subventioniert. Das Lizenzsystem ist als Stücklizenz je nach produziertem Wirtschaftsgut auszudehnen und zu differenzieren, um die recycelten Wirtschaftsgüter dem Primärmarkt wieder zu einem Preis zur Verfügung stellen zu können, der leicht unter dem Preis der ursprünglichen Ressource liegt. Diese Preisdifferenz sollte so gestaltet sein, dass der recycelte Stoff im n-ten Recycling-Durchgang immer noch eine reale Chance hat, am Markt zu bestehen.

Das ist die Beschreibung des schlichten Marktmechanismus. Aber wie können wir die Recyclingquote wesentlich erhöhen? Die gegenwärtige Quote von 12 Prozent ist absolut unzureichend. Auch hierzu kann der Grüne Punkt einen Betrag leisten: Wir sind gewohnt, jede Art von Produktion nur als eine Konstruktion vom Rohstoff bis zum verkaufsfähigen Produkt zu begreifen. Dann endet jedes Weiterdenken. Aber jede Produktion endet einmal unweigerlich als Abfall oder Müll. Also müssen wir künftig doch bei jeder Produktion die Grund-Frage stellen: Lässt sich das produzierte Wirtschaftsgut technologisch einfach und kostengünstig recyceln?

Jedes Wirtschaftsgut wird heute einer Vielzahl von Bewertungen unterworfen, warum also nicht eine offizielle Bewertung einführen, die die technischen Möglichkeiten des Recyclings des jeweiligen Gutes abschätzt, bewertet und einen Lizenzbeitrag bezüglich des Grünen Punktes für den Produzenten festschreibt. Ist das Gut technisch einfach und erfolgreich zu recyceln, so drückt sich das in einem geringeren Lizenzbeitrag für dieses Gut aus. Im anderen Fall wird es teurer oder gar richtig teuer. Das Produkt verliert dann möglicherweise an Marktattraktivität und regelt damit die dabei entstehende Abfallmenge.

Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Frage nach der Lebendauer eines Wirtschaftsgutes. Wenn in der „Abfalllizenzprämie“ des Grünen Punktes auch eine Bewertung der Lebensdauer eingebaut würde, so wird nicht nur der Kreislauf eingehalten, sondern auch die Umschlagsgeschwindigkeit des Kreislaufprozesses beeinflusst. Die „Dinge“ bleiben viel länger in Gebrauch und belasten die Abfallquote erst zu einem viel späteren Zeitpunkt.

Die Verlängerung der Lebensdauer führt auch dazu, dass sich einerseits die Produktionsweise von „billig“ und „Masse“ zu „mehr Qualität“ verändert. Die damit einher gehende Preiserhöhung für qualitativ bessere Güter wird andererseits notwendig wieder eine Reparaturwirtschaft fördern, weil sich aufgrund der besseren Qualität der Produkte auch Reparaturen wieder lohnen. In diesem Sinne ist die EU-Forderung nach Reparaturfähigkeit der Wirtschaftsgüter ein Schritt in die gleiche Richtung.

Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass in einer Kreislaufwirtschaft nur noch Teile der angeblich unverrückbaren ökonomischen Grundsätze gelten werden, die vielfach heute noch unser lineares Wirtschaftssystem prägen. Diese Entwicklung ist aber m. E. unvermeidlich, weil die gegenwärtige Form unseres Wirtschaftens nicht zu halten ist. Welchen Namen diese Wirtschaftsform letztlich erhalten wird, bleibt abzuwarten, weil niemand klar sagen kann, wohin die künftige Entwicklung laufen wird. Der Prozess ist trotz der vielen Widerstände offen, weil ein „Weiter so“ keine Option ist und das macht die Transformation so spannend!

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Strategie – Alle Eier in einen Korb?

Volker Wissing (FDP), gegenwärtiger Verkehrsminister hat eine merkwürdige Art, sich ins Rampenlicht zu heben. Es wurde so nebenbei behauptet, es gäbe ein Gutachten, dass davon ausgehe, dass der Lastkraftverkehr bis 2050 um nochmals 50%(?) zunehmen würde und man deshalb unbedingt und sofort mit dem Ausbau von Autobahnen zu beginnen habe, um dieser (doch absehbaren) Steigerung gerecht werden zu können.

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Mit der Konsequenz, dass man deshalb den Güterverkehr auf der Schiene nicht im geplanten Umfang fördern könne. Mit anderen Worten, wir legen weiterhin „alle Eier in einen Korb“, obwohl wir schmerzhaft feststellen mussten, dass diese Strategie uns in eine verteufelt einseitige Abhängigkeit nicht nur auf dem Energiesektor führte.

Im Internet ist das besagte Gutachten, auf die sich die Meldung aus dem Dunstkreis des Verkehrsministerium stützt, nicht zu finden. Ich will nicht ausschießen, dass ich mich zu ungeschickt anstelle, aber eine so wichtige Grundlage – so würde ich meinen – müsste auf den Seiten des Bundesverkehrsministerium prominent zu finden sein. Daraus kann man nur schließen, dass ein Gutachten in der Form und von der Bedeutung her gar nicht existiert. Das macht die Sache nicht einfacher, weil in ordentlichen Gutachten meist Zahlenmaterial präsentiert wird, das die Aussage des Gutachtens stützen soll. Man hätte auf diese Weise eine gemeinsame Ausgangsbasis und einen hinreichend gesicherten und ggfs. überprüfbaren Angriffspunkt.

So ist man auf Annahmen und Plausibilitätsüberlegungen angewiesen, die mehr Interpretationsspielraum lassen als für die sachliche Beurteilung gut ist. In Deutschland sind lt. Statista.com 3,64 Mio. Lkw (Stand Jan. 2023) zugelassen. Die Zahl enthält nur die inländisch registrierten Lkw, die Lkw der ausländischen Spediteure sind darin nicht erfasst. Wenn also bis zum Jahr 2050 lt. Gutachten ein 50%iger Zuwachs im Lkw-Verkehr erwartet wird, dann werden das rd. 1,8 Mio. zusätzliche inländische Fahrzeuge sein. Und jeder dieser Lkw braucht mindestens einen Fahrzeuglenker. Wo sollen die Fahrzeuglenker herkommen? Wir haben heute und hier personell einen virulenten Mangel an kompetentem Personal und greifen dabei auf Fahrer aus den umliegenden EU- und Nicht EU-Ländern zurück. Wenn wir aber 50% in der Lkw-Fahrzeugdichte zulegen, dann müssten wir unterstellen, dass der Zuwachs auf Deutschland beschränkt bleibt und unsere Nachbarn keinen Zuwachs erwarten dürfen. Das ist völlig unrealistisch!

Gehen wir davon aus, dass ein Lkw einschließlich Anhänger lt. Straßenverkehrsordnung maximal 25 m lang sein darf. Die neu in Verkehr kommenden 1,8 Mio. Lkw repräsentieren aneinandergereiht eine maximale Schlange von 45 Mio. Metern (1,8 Mio. x 25 m). Das sind 45.000 km. Der Erdumfang liegt bei etwa 40.000 km – um einen einfachen Größenvergleich mit diesen Zahlen herzustellen.

Wenn diese Lkw auf unseren Autobahnen fahren, sollten sie einen Mindestabstand zum Vordermann von 50 m einhalten, d.h. der zusätzlich rollende Verkehr verbraucht pro Lkw mind. 75 laufende Meter, um überhaupt wirksam werden zu können und zusätzlich Parkflächen von mind. 25 x 2,5 m (= 62,5 m²). Lkw-Fahrer müssen rechtzeitig Parkflächen ansteuern, um den gesetzlichen Lenkzeiten gerecht zu werden. Hier gibt es heute schon ein im Grunde unzumutbares Gedränge.

Wenn wir tatsächlich 1,8 Mio. zusätzliche Lkw auf unseren Autobahnen fahren lassen, und wir wollen dabei keine schlechtere Staubilanz als die gegenwärtige erreichen, dann müssten wir 6.500 km1 neue Autobahnen in Deutschland bauen, nur um das heute bestehende Chaos aufrecht zu erhalten. Eine Besserung können wir erst im Rahmen eines darüber hinausgehenden Ausbau erwarten.

Mit anderen Worten: Wenn wir die in der Meldung dargelegte Menge an Lastkraftfahrzeugen wirklich realisieren würden, dann dürfen wir in den nächsten Jahrzehnten nur noch Autobahnen bauen und nichts anderes. Und dafür bestehen keine ausreichenden Produktionskapazitäten i.w.S., weil unsere Infrastruktur durch jahrelange Schlamperei einen unzumutbaren Zustand erreicht hat. Vom notwendigen Finanzbedarf für diese Infrastrukturmaßnahme ganz zu schweigen. Das heute bestehende Autobahnnetz ist ein Ergebnis von ca. 70 Jahren sukzessiver Bautätigkeit bei minimalem Erhaltungsaufwand.

Das Bedauerliche an diesen skizzenhaften Zahlen ist, dass diese paar simplen „Bierdeckelrech-nungen“ scheinbar kein Politiker als Beteiligter an der gemeinsamen Entscheidung aufmacht, um Fragen zu stellen. Es ist ja nicht mehr als der schlichte Versuch, die einseitige Perspektive über den Ausbau der Autobahn grob auf ihre Plausibilität und Machbarkeit hin zu überprüfen, um ein „Gefühl“ dafür zu entwickeln, ob das angestrebte Ziel mit den vorhandenen Mitteln überhaupt erreichbar ist. Oder ob da Traumtänzer am Werk sind, die etwas anderes verdecken wollen.

Mein Eindruck ist, dass die Basisaussage, dass bis zum Jahr 2050 mit einem Zuwachs von 50% Lkw-Verkehr gerechnet werden kann, einen absoluten „Bullshit“2 oder Unsinn darstellt. Basis dieser Zahlen ist wahrscheinlich eine eindimensionale, „lineare“ Trendentwicklung ohne sich im geringsten mit den Randbedingungen (Altersstruktur, Bevölkerungswachstum, Arbeitsmarkt, Klimakrise, Bestrebungen zur CO2-Neutralität bis 2045, vorhandener Produktionskapazitäten u.v.m.) zu befassen.

Bevor wir hier zu alternativen Gesichtspunkten kommen können, müssen wir uns anhand einer anderen groben „Bierdeckelbetrachtung“ mit der damit verbundenen zusätzlichen Kapazität des Transportsystems befassen. Es gibt lt. DL-Statis gegenwärtig 3,64 Mio. inländischer Lkw, die nach einer anderen Statistik 3.1 Mrd. Tonnen (t) pro Jahr transportieren. Mit anderen Worten: ein Lkw transportiert im Durchschnitt etwa 851,6 t / Jahr. Ein 50%iger Zuwachs des Transportvolumens bis 2050 löst (cum grano salis) 1,5 Mrd. Tonnen zusätzliches Transportvolumen aus (1,8 Mio. Lkw x 851,6 t Frachtvolumen).

Wo sollen denn diese Lkw fahren bzw. wer fährt diese Lkw? Oder sollten wir besser fragen, wo stehen diese Lkw im Stau, auf welchen Parkplätzen können die Fahrer dieser Lkw-Flotte denn ihre Lenkzeiten einhalten? Oder müssen wir davon ausgehen, dass dann alle Lkw selbstfahrend sind? Wo ist die dazu gehörige sichere Technologie oder sind wir Opfer unserer eigenen Traumtänzerei?

Wir haben eine Klimakrise. Wir wollen bis 2045 klimaneutral sein. Wir wollen unseren CO2– Ausstoß stark reduzieren? Ist das alles Makulatur oder habe ich da etwas falsch verstanden?

Wie sieht denn gegenwärtig das Gesamtbild aus:

  • 3,1 Mrd. Tonnen Güterverkehr inländischer Lkw 84,87%
  • 357,6 Mio. Tonnen Güterverkehr auf der Schiene (Eisenbahn) 9,79%
  • 195,1 Mio. Tonnen Güterverkehr mit der Binnenschifffahrt 5,34%

Um bei der Bierdeckelbetrachtung zu bleiben: Wir haben in der Vergangenheit die meisten „Eier“ in den Korb der privaten Speditionswirtschaft gelegt. Das gilt seit der Aufbauzeit nach dem II. Weltkrieg. Insbesondere in den letzten 40 Jahren wurde dann versucht, die Bahn so zu verschlanken, weil sie an die Börse gebracht werden sollte. Dabei meinte man, der Personenfernverkehr (ICE) sei der Heilsbringer. Der Güterverkehr galt als lästiges Anhängsel, der mit uraltem Material aus der Vor – und Nachkriegszeit seinen Aufgaben nachkommen sollte. Der Gütertransport auf der Schiene wurde systematisch und m.E. vorsätzlich zerstört. Er hat an der Entwicklung des Transportgewerbes keinen Anteil gehabt.

Wir müssen hierbei in Netzen denken. Die unbestrittene Stärke des Lastkraftwagens liegt in der Bedienung der Fläche. Die Stärke des Schiene wäre bei Anwendung der richtigen Technologie die großen Entfernungen zwischen den Knoten (Hauptumschlagsplätzen (HUP)). Eine Hybrid-Lösung war/ist der Huckpackverkehr (Lkw auf die Schiene). Aber im Vergleich zum Lkw-Verkehr ist der Beitrag vorerst vernachlässigbar. Dazu sind Investitionen der Bahn von Nöten, die den gegenwärtigen Rahmen vermutlich weit übersteigen.

Verkehrsminister Wissing will nun nicht dazu beitragen, dass die Schiene erfolgreich aufholen kann, damit wir dem privaten Transportgewerbe einen Wettbewerber und potenten Marktteilnehmer gegenüberstellen, der bei guter Ausstattung dem privaten Lkw-Gewerbe neue Wege zeigen kann, wie der viel zu hohe CO2-Ausstoß reduziert werden kann. Man gewinnt dabei den Eindruck, dass diese Vorstellung Herrn Wissing gar nicht tangiert. Er folgt weiter der falschen Strategie und legt „alle Eier in einen Korb“.

Möglicherweise müsste die Bahn natürlich dynamisiert und auch reorganisiert werden und das kostet Geld und stellt für jeden Verkehrsminister ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar (siehe Stuttgart 21). Herr Wissing sollte sich aber darüber im Klaren sein, dass seine drei oder vier Vorgänger eine so magere Bilanz ihrer Arbeit vorgelegt haben, dass sein Risiko, dahinter zurückzufallen, relativ gering ist.

Wenn wir weiterhin mit einen Fachkräftemangel kämpfen, so erscheint es nicht sinnvoll, mit einem Mann besetzte Lkw über die Lande zu schicken, wenn ein Güterzug mit einem Lokführer bestückt die Ladung von geschätzt 40 – 50 Lkw (und mehr) aufnehmen kann. Das Verhältnis 1:50 wäre doch zumindest auf den langen Strecken in Zeiten extrem knappen Personals ein interessantes Argument. Die CO2-Bilanz ist verglichen mit dem Lkw um mehrere Zehnerpotenzen besser. Aber nein, Herr Wissing ist vermutlich ein Gefangener der Autolobby und traut sich nicht, einen Befreiungsschlag zu wagen.

1Deutschland verfügt über 13.192 km Autobahn (2021) und über einen Lkw-Bestand von 3,64 Mio. Fahrzeuge(2023). Pro Autobahnkilometer ergeben sich 275,9 Lkw. 1.8 Mio. zusätzliche Fahrzeuge verlangen dann bei gleichen Randbedingungen 6.524 neue Autobahnkilometer (oder einfacher gerechnet: 50% mehr).

2 Der Philosoph Harry Frankfurt hat „Bullshit“ definiert als die Fähigkeit, zu überzeugen, ohne sich um die Wahrheit zu scheren“ (Sayash Kapoor in der SZ v. 21.3.2023)

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Externe Effekte – ein unbekanntes Terrain?

„Als »externe Effekte« werden in der klassischen Ökonomie die Auswirkungen der Handlungen oder Unterlassungen von wirtschaftlichen Akteuren auf Dritte bezeichnet. Das Vorhandensein externer Effekte impliziert, dass es fast unmöglich ist, über das System der Marktpreise zu so genannten »effizienten Marktlösungen« zu kommen, denn diese Preise spiegeln nur die privaten Grenzkosten wider, nicht aber die sozialen oder ökologischen Kosten, die infolge der externen Effekte entstehen.1

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Als externen Effekt bezeichnet man in der Wirtschaftslehre die Handlungen2, die vom Handelnden durch keine Gegenleistung ausgeglichen werden. Der fehlende Ausgleich gegenüber den eventuell Betroffenen wird wirtschaftlich damit begründet, dass keine über einen Preis- oder Marktmechanismus vermittelte Beziehung besteht. Damit wird der Vorgang im Wirtschaftssystem nicht erfasst bzw. als irrelevant eliminiert.

Der Handelnde eignet sich zwar etwas an, was ihm nicht gehört und nutzt es für seine Zwecke. Die Aneignung bleibt i.d.R. folgenlos, weil der mögliche ‚Eigentümer‘ im Sinne des Rechts als nicht bestimmbar gilt und er deshalb seine Eigentumsrechte nicht wahrnehmen kann oder will oder der mögliche ‚Eigentümer‘ hat das ihm zustehende Eigentumsrecht als solches noch gar nicht erkannt.

Das klingt recht abstrakt, ist aber im Grunde ganz einfach: unser Wirtschaftssystem versteht unter dem Begriff des ‚Wirtschaftens‘ ausschließlich solche Güter und Handlungen, für die ein Markt und deshalb auch meist ein Preis bestimmbar ist. Alles andere ist definitionsgemäß nicht Teil des Systems. Was heißt das im Klartext?: Wir wirtschaften schon viele Jahrtausende mit dem Ziel, die Menschen mit ihrem Bedürfnissen umfassend zu versorgen. Seit der Dominanz des Kapitals wurde der Begriff enger gefasst, weil es nicht mehr primär um die Versorgung ging, sondern um die Chrematistik (um die Lehre des Reichwerdens). Solange das im kleineren Rahmen (gewissermaßen beiläufig) stattfindet, sollte das kein Problem sein, wenn sich aber das System in seiner Priorität der Chrematistik zuwendet, wird der Versorgungsgedanke unterdrückt und zur Dienstbarkeit der Chrematistik.

Versorgung erfolgt von altersher nach menschlichem Maß. Die Bestimmung, wer als versorgt gilt, liegt beim zu versorgenden Individuum. Wenn aber die Chrematistik dominiert, wird erfolgreiche Versorgung nur aus der Perspektive des Produzenten betrachtet. Erst, wenn beim Produzenten die Grenzkosten den Grenzertrag erreichen, dann lässt sich mit den verkauften Gütern keine Marge mehr machen und der Chrematist verliert das Interesse an einer weiteren „Versorgungsmehrung“ und wendet sich i.d.R. einem ertragreicheren Betätigungsfeld zu.

Eine Folge der Dominanz der Chrematistik drückt sich in der systematischen Kurzfristigkeit des Handelns aus. Die Lebensdauer von Gütern darf nicht zu lange währen, man will ja neue Ware verkaufen. Als Folge produziert man so, dass die Produkte relativ schnell ihre Funktion bzw. ihren Wert verlieren, (die neue Produktgeneration macht Druck, wartet schon), und sie müssen i.d.R. billig, zumindest günstig sein, damit der Wechsel von „Alt“ zu „Neu“ dem Kunden nicht zu schwerfällt. Wenn das als Motivation nicht ausreicht, kommt das Marketing ins Spiel, das uns jeden Tag von neuem erklärt, dass das Alte Uralt ist und schon „die Nachbarn darüber tuscheln“ oder aber das Neue technologisch in Meilenstiefeln voranschreitet, obwohl i.d.R. nur das Design geändert und ein paar Knöpfe versetzt wurden. Und echte Inventionen sind selten (im einprozentigen Bereich).

Streng genommen sind wir zeitlich gar nicht mehr in der Lage, die Vielzahl der sich ständig ändernden Produkte sinnvoll zu nutzen – wir werfen sie mit kräftiger Unterstützung einer fehlleitenden Marketingorgie einfach weg, weil die zur Verfügung gestellten Nutzungen von uns gar nicht mehr verarbeitet werden können – der Tag hat nur 24 Stunden. Um alles einigermaßen sinnvoll nutzen zu können, sollten wir den Tag eventuell auf 36 Stunden ‚aufbohren‘ – einige ‚Irre‘ versuchen es, indem sie ‚schneller leben‘ wollen – bis sie als Konsumjunkies psychisch ihren Zusammenbruch erleben. Das moderne Wirtschaften „will den Menschen eben von vornherein nicht als lebendes Wesen begreifen, sondern als einen Algorithmus der Optimierung3

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille: Was ist mit den Dienstleistungen, die keinem Markt und keiner Preisfindungsmaschine unterliegen? (Haushalt führen, Kindererziehung u. -beaufsichtigung, Sozialmaßnahmen in der Familie, Ehrenamt i.w. S.), und was ist mit jenen Gütern unseres täglichen Gebrauchs, die nicht als Wirtschaftsgüter verstanden werden, sondern allgemein unter dem Begriff der Gemeingüter erfasst werden?

Ein Wirtschaftsgut hat einen Markt und einen Preis. Voraussetzung für ein Wirtschaftsgut ist das Eigentumsrecht an dem Gut. Erst dann, wenn gewährleistet ist, dass die Nutzung bzw. der Besitz des Gutes anderen legal vorenthalten werden kann, hat das Gut die Chance, als knappes Wirtschaftsgut verstanden zu werden und einen Preis zu erzielen. Erst dann kann man es verkaufen oder vermieten.

Gemeingütern fehlt i.d.R diese Eigenschaft. Sie sind u.U. allgegenwärtig wie z.B. die Luft und deswegen gibt es keinen „Eigentümer“, der andere von der Nutzung ausschließen könnte; Luft ist lebensnotwendig und gehört strenggenommen allen oder niemandem. Wasser ist ein ähnlicher Fall. Es gibt natürliche Reserven, auf die wir über eine öffentliche Infrastruktur zugreifen. Erst in den letzten Jahren setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Wasservorräte endlich sind, weil unser gegenwärtige Verbrauch zu hoch und der Niederschlag aufgrund der Klimakrise zu gering ist. Der Kreislauf ist durch einen übermäßigen Verbrauch absehbar überlastet.

Gemeingüter haben keinen offiziellen Preis. Wenn Gemeingüter billig für industrielle Zwecke abgegeben werden, müssen wir von einer Subvention sprechen. Die öffentliche Hand verlangt meist einen Preis, der mit ihren ‚Gestehungskosten‘ korreliert statt sich zu fragen, ob der Preis, abhängig vom jeweiligen Geschäftsmodell, nicht prozentual von dem Verkaufspreis des Endproduktes abhängig sein sollte. Limonade besteht z. B. zu 98% aus Wasser. Der Anteil der Wasserkosten am Marktpreis der Limonade liegt aber im einstelligen Prozentbereich. Da stimmen die Relationen nicht. Hier findet eine Subvention einzelner auf Kosten der Allgemeinheit statt.

Nachtrag: Lt. Süddeutsche Zeitung vom 3.Mai 2023, R10, wird in Bayern , Hessen und Thüringen für das Gewerbe kein Wassercent erhoben, d.h. das Wasser kann im Rahmen von Entnahmevereinbarungen über die Menge kostenfrei entnommen werden. Der private Nutzer hat pro Kubikmeter Trinkwasser regional unterschiedlich, z.B. in Treuchtlingen 2,84 Euro /qm, zu entrichten. Da ist wohl mit dem Verständnis von Gemeingut etwas aus dem Ruder gelaufen!

Die Gemeingüter (Commons, oder auch Allmende) leiden immer noch unter der unsinnigen. rein theoretischen Analyse von Garrett Hardin aus dem Jahr 19684, dass Gemeingüter keine Chance zu einer sinnvollen Nutzung hätten, weil der Egoismus der Beteiligten dazu führe, dass das Gemeingut übernutzt und damit zerstört wird. Jeder suche ohne Rücksicht seinen individuellen Vorteil. Diese Ansicht hat Elinor Ostrom empirisch widerlegt, weil sie darlegte, dass die Kommunikationsfähigkeit der Beteiligten dazu führt, dass meist Regeln gefunden werden, die die Nutzung der zahlreichen Gemeingüter vor einer Übernutzung schützt. Der Fehler von G. Hardin liegt darin, dass er das Verhalten des homo oeconomicus als reales Verhalten einstufte und aufgrund dessen egoistischer Zentrierung und Gier die Möglichkeit der wechselseitigen Kommunikation ausschloss. Das ist beim theoretischen Konstrukt des homo oeconomicus leider immer zu erwarten und disqualifiziert deshalb diese Konstruktion für reale Aussagen über die Wirklichkeit.

„(…) Durch externe Effekte entstehen Kosten, die nicht von den Käufern und Verkäufern getragen, sondern stattdessen auf die Allgemeinheit abgewälzt werden. So ist es gemeinhin billiger für ein Unternehmen, Schadstoffe in die Atmosphäre und radioaktive Abfälle in die Erde zu befördern, als sie zu entsorgen (oder die Kosten zu »internalisieren«). Diese externen Effekte sind nicht ausgewiesene Kosten wirtschaftlicher Aktivitäten, die üblicherweise von uns allen getragen werden.1

Es fällt auf, dass die Gemeingüter (Commons) in der Mainstream-Ökonomie nahezu keine Rolle spielen. Weder in den Zeitungen, noch in den Beiträgen der sonstigen Medien lassen sich Hinweise auf Gemeineigentum und dessen Bedeutung bzw. Management finden. Es gibt ‚Exoten‘, die sich darum bemühen, das Verständnis für Gemeineigentum zu wecken und deutlich zu machen, dass hier ein Problembereich ruht, der mit der Tatsache der Endlichkeit unserer Ressourcen und der zunehmenden Erkenntnis, dass quantitatives Wachstum sein Ende finden wird, eine völlig andere Bedeutung erhält.

„Wie sind Gemeingüter oder – anders gesagt – Gemeinressourcen zu managen, damit sie als Gemeingüter erhalten bleiben? Die Antwort hängt stark vom Charakter der gemeinsam genutzten Ressource und der jeweiligen (Nutzungs-) Gemeinschaft ab. Eine wichtige Determinante ist, ob eine Ressource von vielen Leuten genutzt werden kann, ohne dadurch zerstört zu werden. Wenn in einem Wald zu viele Bäume gefällt werden, wird das den Wald langfristig zerstören. Wenn sich jedoch viele Programmierer einer Open-Source-Software-Community anschließen und viele Nutzer gleichzeitig dieselbe Software benutzen, mindert oder schmälert das die Gemeinressource nicht, sondern es steigert sogar den Wert des gemeinsamen Quelltextbestandes. Ein Wald kann »aufgebraucht« werden, eine »Software-Allmende« wird dagegen durch mehr Beteiligung erweitert.2

„Ein wichtiger Aspekt hinsichtlich des Managements einer Gemeinressource ist daher, ob sie endlich ist oder nicht. Natürliche Ressourcen sind meistens endlich, während Informationen und Kultur nicht verbraucht werden können, schon gar nicht im Zeitalter des Internets und billiger digitaler Reproduktion. Deshalb gewinnt die Informationsallmende an Wert, je mehr Menschen sich daran beteiligen (…).

Ein weiterer wichtiger Faktor ist, ob eine Ressource ausschließend oder rivalisierend ist. Es lässt sich kaum verhindern, dass Menschen von Ressourcen wie Leuchtturmsignalen oder Sonnenuntergängen profitieren, die jedermann frei zugänglich sind. Außerdem wird dadurch, dass ich an diesen Ressourcen teilhabe, niemand anderes Teilhabe beeinträchtigt, d. h. sie sind nicht rivalisierend. Solche nicht ausschließenden, nicht rivalisierenden Ressourcen nennt man »öffentliche Güter«. Man kann nicht einfach andere Menschen davon abhalten, Gewinn (Nutzen) aus ihnen zu ziehen.3

Das Problem der Gemeingüter werden wir hier nicht lösen können, aber wir haben m.E. in diesem Rahmen noch ein viel größeres Problem: In den Lehrbüchern der Ökonomie taucht der Begriff der Gemeingüter nicht auf und wenn, dann wird die Sache mal kurz gestreift. Was ist mit Abfall? Oder sagen wir es deutlicher: was ist mit Müll? Er ist allgegenwärtig, findet aber in der Lehre keine Erwähnung ähnlich wie der Ausgangspunkt aller Aktivitäten. Ob Müll unter die externen Effekte erfasst werden muss oder kann, ist unklar, in der Wirtschaftstheorie selbst spielt er aber keine Rolle, obwohl alle „Extraktionen“ und alle Produktionen irgendwann zu Müll werden. Müll ist im Grunde die allumfassenste Branche in unserem Wirtschaftssystem – und das Merkwürdige ist, wir ersticken fast daran und kaum ein Ökonom hat das bisher so richtig bemerkt.

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1Silke Helfrich u. Heinrich Böll Stiftung, Wem gehört die Welt?, München 2009, S.33

2Die meisten Wirtschaftsdefinitionen stellen statt auf die Handlung auf die Entscheidung ab. Der Weg von der Entscheidung zur Handlung kann aber lang sein. Erst die Handlung löst aber das Problem aus.

3Andreas Weber, Biokapital, Berlin 2008, S. 143

4Die Analyse ging unter dem Begriff der „Tragik der Allmende“ in die Wirtschaftsliteratur ein. Garret Hardin ist jedoch Biologe – man hat die Ausführungen mit Wonne in die Wirtschaftswissenschaften aufgenommen bis Ostrom den Unsinn aufdeckte und dafür wohl den Wirtschafts-Nobelpreis erhielt.

5 Silke Helfrich u. Heinrich Böll Stiftung, Wem gehört Welt?, München 2009, S. 33

6 Silke Helfrich u. Heinrich Böll Stiftung, Wem gehört Welt?, München 2009, S. 33 f.

7 Silke Helfrich et al., S. 34

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Deindustrialisierung – eine berechtigte Warnung?

Es fällt auf, wie oft in letzter Zeit das Wort „Deindustrialisierung“ in den Mund genommen wird. Die sogenannten Leitmedien befassen sich mit Beiträgen, alle möglichen Verbandspräsidenten äußern sich besorgt – könnte es sein, dass einige der Industrie nahestehende „Think-Tanks“ hier ein neues Narrativ unter „die Leute“ bringen wollen?

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Die Wirtschaft insgesamt spürt natürlich den Veränderungsdruck, der durch die Klimakrise stetig drängender wird. Lange Zeit waren die Wälle hoch, die sie juristisch vor dieser Gefahr geschützt haben. Seit dem das deutsche Bundesverfassungsgericht und eine Reihe europäischer Gerichte hier neue Maßstäbe erlassen haben, schwinden diese Schutzmechanismen. Die Justiz arbeitet nach den erlassenen Gesetzen und ist hier deutlich hartbeiniger und standfester als die Politik mit ihrem „flexiblen“ Gesetzesverständnis. Und die Justiz verbietet sich jeglichen Lobbyismus hinter verschlossenen Türen. Die Gesetze und die real verfügten Maßnahmen der Politik und der Unternehmen werden rechtlich gegeneinander aufgewogen und viele Maßnahmen werden schlicht als zu leicht befunden.

Die großen Wirtschaftsbosse, die sich teilweise dank ihrer politischen Kontakte und der Lobbyarbeit als unangreifbar betrachteten, mussten plötzlich erkennen, dass gute Kontakte in die Politik nicht mehr reichen. Die Gesetze des Landes gelten auch für sie und der Begriff einer „kriminellen Vereinigung“ ist nicht nur auf zweifelhafte Mafia-Strukturen, sondern auch auf Wirtschaftsstrukturen anzuwenden, die bisher als seriös galten. Da ist etwas in Bewegung geraten und die alten Gewissheiten und Privilegien sind im Schwinden.

Die absolute Marktorientierung ist gebrochen. Eine Pandemie hat uns allzu deutlich vor Augen geführt, dass der Markt eben doch nur ein im Grunde schlichter Mechanismus ist, der in Krisenzeiten zwar Maskendeals mit unanständigen Provisionserträgen beflügelt, aber das pandemische Problem humanitär nicht zu lösen in der Lage ist. Dann kommt der Angriff Russlands auf die Ukraine. Alle, auch jene, die auf bequemer und vor allem besonders billiger Energie ihr Geschäftsmodell aufgebaut haben, müssen erkennen, dass Deutschland in einem Maße von Russland in Abhängigkeit geraten war, die nicht länger zu tolerieren ist. Und wer waren die intensiven Befürworter des billigen russischen Gases: die energieträchtige Großindustrie – Nordstream 2 lässt grüßen. Hier wurden für diese fixe Idee Milliarden staatliche Euro in der Ostsee versenkt ohne vorher die geopolitischen Zusammenhänge entsprechend kritisch und sorgfältig zu bewerten.

Dann kommt Olaf Scholz mit seinem Hinweis von die „Zeitenwende“. Seine Berater haben hier vermutlich bei Fritjof Capra in den 1980iger Jahren Anleihe genommen, der seinen damaligen Bestseller „Wendezeit“ nannte und im Grunde auch eine Zeitenwende im wissenschaftlichen Verständnis der Welt proklamierte. Ähnliches versucht Scholz nun auf dem politischen Feld. Aber was er genau damit meint…, da lässt er uns noch im Ungewissen. Es gibt gegenwärtig zu viele praktische Baustellen, die eine rasche Lösung fordern, so dass die „Zeitenwende“ noch zurückstehen muss. Der in die Diskussion geworfene Begriff allein genügt schon, um deutlich zu machen, dass zumindest die „alten“ Zeiten vorbei sind, ohne dass wir schon erkennen können, was da heraufdämmern könnte.

Vor diesem Szenario fühlt sich die Industrie, d.h. konkret wohl die Großindustrie als wesentlicher Teil der Realwirtschaft aufgefordert, so mein Eindruck, ihre Bedeutung für das Land in Erinnerung zu rufen und sie tut das mit dem Warnhinweis, es dürfe nicht zu einer Deindustrialierung kommen. Dabei hat niemand – soweit ich das erkennen kann – die Industrie grundsätzlich in Frage gestellt. Natürlich freut es diese Industrieteile nicht, wenn dauernd von KI und Digitalisierung schwadroniert wird und die Industrie, insbesondere die Energiekosten fressende Schwerindustrie, erst weit hinten Erwähnung findet.

Die Wirtschaftsstrukturen stehen vor beachtlichen Herausforderungen. Bisher war es zulässig und herrschende Auffassung, die ökonomischen Externalitäten auch im industriellen Rahmen vom Tisch wischen zu können und sich dafür nicht verantwortlich zu fühlen. Dieser „Freibrief“ verliert zunehmend an Gültigkeit. Die wissenschaftliche Ökonomie hat bisher für die Einbeziehung von Externalitäten keine adäquate Lösung gefunden (und sucht m.W. auch nicht danach). Die Wirtschaft fühlt sich hier vermutlich zu Recht im Stich gelassen.

Die Haltung ist in Grenzen nachvollziehbar: Der Energiemarkt, vormals durch vier ‚Jumbos‘ dominiert, verändert sich. Die ehemals punktuell agierenden Schwergewichte der Energieversorgung lösen sich schrittweise auf und werden vorerst durch ein Netz zahlloser kleiner Produzenten ergänzt und es ist m.E. nur eine Frage der Zeit, wann dieses Netz zum Sprung in die Dominanz ansetzt. Mit jedem neuen Produzenten im Netz sinkt die Bedeutung der vier Großen. Und die Großen sehen in dieser Marktveränderung möglicherweise eine Form der Deindustrialisierung. Ich würde darin einfach einen Strukturwandel erkennen wollen, der mit den neuen technologischen Möglichkeiten eng verknüpft ist. Auf diese Veränderung haben die Energieversorger bisher keine befriedigende Antwort gefunden.

Der niederländische Netzbetreiber Tennet will sich aus Deutschland zurückziehen, weil er im Rahmen seines Aufgabenverständnisses in Deutschland vor einem Investitionsvolumen steht, das aus seiner Sicht mittelfristig nicht die von ihm erwarteten Renditen bereitstellen kann. Wir sind wieder einmal da, wo wir in den letzten 250 Jahren immer wieder standen: Die langfristig wirksame Infrastruktur ist nicht über den privaten Markt zu finanzieren, weil die Renditen mit der Kurzfristigkeit kapitalistischen Denkens und Handelns kollidieren. Also wird der Staat einspringen müssen. Die großen ‚Strategen des radikalen Marktverständnisses‘ werden verschämt wegschauen, um dann in einem Jahrzehnt, wenn das Renditeproblem der Privatwirtschaft dank des Einsatzes der öffentlichen Hand und ihrer Kapitalien überwunden scheint, darauf zu drängen, wieder die Privatisierung anzustreben. Aber die Politik sollte hart bleiben. Infrastruktur wird durch öffentliche Gelder geschaffen und sollten kein Spielball privater Interessen werden.

Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem funktioniert nur dann reibungslos, wenn die Infrastruktur die notwendigen Voraussetzungen hierfür schafft. Die Einkommenschance, die unser Wirtschaftssystem dem Einzelnen bietet, beruht regelmäßig auf einer Infrastruktur, die wir alle im Rahmen einer staatlichen Gemeinschaftsinvestition finanziert haben.

Gegenwärtig dürfen wir feststellen, dass unsere Infrastruktur an vielen Stellen ernsthaft bröckelt. Der Grund könnte darin liegen, dass wir vor lauter individuellem „Money-Making“ vergessen haben, dass das individuelle Verdienen immer auf einer von der Gesellschaft geschaffenen Grundlage beruht, die wir Infrastruktur nennen. Wir müssen feststellen, dass es hier inzwischen an allen Ecken und Kanten klemmt. Haben wir der Perspektive des Marktes und des individuellen „Geldmachens“ zu viel Raum gegeben und dabei über die Jahre die Pflege der Basis dieses „kapitalen Spiels“ schlicht vernachlässigt?

Der Rückstau der Infrastruktur ist schrittweise auszugleichen. Man kann dabei nicht von Tendenzen einer ‚Deindustrialisierung‘ sprechen. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass ein Zurück zum alten Zustand auch nicht sinnvoll ist. Wir haben es hier mit einem riesigen (eventuell gewollten) Missverständnis zu tun: Wie viel ist ‚Deindustrialisierung‘ und wie viel ist ‚Wandel‘ der wirtschaftlichen Gegebenheiten? Teile der Großindustrie wollen offensichtlich den Wandel als eine Form des „De-Growth“ dadurch verhindern, indem sie versuchen, ihn als „Deindustrialisierung“ zu brandmarken. Man könnte auch sagen, dieser Wandel bedeutet Fortschritt, wenn dieses Wort einen weniger zweifelhaften Inhalt hätte. Rifkin z.B. sieht in dem platzgreifenden Wandel ein Ende des Zeitalters des Fortschritts und den Beginn eines Zeitalters der Resilienz. Vor die Wahl gestellt, würde ich mich gerne für die Resilienz entscheiden..

Die große Sorge der Wirtschaft ruht aus meiner Sicht auf den Einheiten der Großindustrie, weil diese ‚Jumbos‘ es im Laufe ihrer Entwicklung verlernt haben, sich in einer angemessen Zeit an neue Situationen anzupassen. Sie haben sich zu riesigen Bürokratie-Kraken entwickelt. ‚Jumbos‘ meinen in dem Glauben leben zu können, dass sie aufgrund ihrer schieren Größe und Kapitalkraft die Situation stets so beeinflussen können, dass ihre Anpassungsfähigkeit nicht gefordert ist. Dieses Verhalten ist bei einer Marktveränderung vorstellbar, aber die Großindustrie sieht sich Klimaherausforderungen gegenüber, die weit über irgendwelche kleinen Marktveränderungen hinausgehen.

Mit anderen Worten: die Resilienz der Großkonzerne ist angesichts anstehender Umweltveränderungen und m. E. absehbar notwendiger Eingriffe in den Markt zu gering. Um dieser Problemlage vorauseilend einen Schutzwall zu umgeben, wird möglicherweise vor einer ‚Deindustrialisierung‘ gewarnt. Man ist sich also insgeheim seiner Schwäche wegen mangelnder Flexibilität sehr wohl bewusst. Und wir als Gesellschaft wollen verständlicherweise diese Jumbos, die glauben, „too big to fail“ zu sein, nicht bei nächst bester Gelegenheit wieder „retten“ müssen?!

Die politische Großwetterlage hat dafür gesorgt, dass die Globalisierung ihren Reiz verloren hat. Globalisierung ist ein Kind einer naiv verstandenen und umgesetzten Idee ‚Wandel durch Handel‘. Man hat geglaubt, den Autokraten dieser Welt ihr Großmachtdenken durch Vermittlung wirtschaftlicher Vorteile schlicht abkaufen zu können. Diese Haltung verkennt grundlegend die unterschiedlichen Wurzeln des jeweiligen Handelns. Beim Kaufmann reduziert sich alles Handeln auf einen monetären Preis oder „Profit“, bei Autokraten spielt der monetäre Aspekt nur eine Rolle, wenn auch deren altertümlicher Anspruch auf „Thymos“1 (Ehre, Leidenschaft, Stolz, Wut, Herkunft, vielleicht auch Anerkennung u.a.m.) befriedigt wird. Die Haltung des Kaufmanns ist der autokratischen Weltsicht zu schlicht, zu schnöde und zu profan.

Auch die Klimakrise trägt ihren Teil dazu bei. Wir wissen zwar nicht, wie wir mit den externen Effekten umgehen sollen, aber eins wird klar: Globalisierung ist bzw. war nur möglich unter Vernachlässigung wesentlicher ‚unsichtbarer‘ Kosten der externen Effekte. Und setzt eine prinzipiell friedvolle Welt voraus. Die Folge ist nun eine heftige Verschiebung der Prioritäten zur Resilienz. Und die Resilienz baut die Welt umgekehrt auf: lokale Resilienz, regionale Resilienz und das Globale mutiert aufgrund seiner Risiken zu einer Restgröße. Es gibt sogar schon ein neues Wort für diese Prioritätsverschiebung: „Glokalisierung“.

Diese Verschiebung des ökonomischen ‚Weltbildes‘ macht das Leben der Großindustrie nicht einfacher. Große Unternehmen leben vom Durchsatz, von der Massenproduktion und nur höchst selten vom anspruchsvollen Einzelprodukt. Hier wird deutlich, wie Großunternehmen und Globalisierung zusammenhängen – ohne Globalisierung ist der hohe Durchsatz in Frage gestellt, der einen grundsätzlich globalen Markt voraussetzt. Wenn der globale Markt fraglich wird, muss auch die Größe des global handelnden Unternehmens in Frage gestellt werden. Wenn sich die „Glokalisierung“ durchsetzt, hat das heftige Auswirkungen auf die Unternehmensstrukturen. Großunternehmen drohen dabei strukturell aus der Zeit zu fallen. Dieser absehbaren Veränderung eine Warnung vor „Deindustrialisierung“ entgegen zu setzen, wirkt ziemlich kleinkariert.
———————————–

1Thymos ist ein altgriechisches Lebensgefühl, das insbesondere der Adel noch für viele Jahrhunderte weiter kultiviert hat. So wie wir heute für ein Schäppchen empfänglich sind, waren das thymotische Denken von Ehre, Stolz und Herkunft geprägt. Geld spielt dabei keine oder nur eine völlig untergeordnete Rolle.

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Ökologie und Ethik

Herman E. Daly war Wirtschaftswissenschaftler an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten und war Senior Economist bei der Weltbank. Von der Position in der Weltbank trat er 1994 zurück und widmete sich der Umweltökonomik. Er verstarb am 28.10.2022. Wenige Wochen vor seinem Tod hat er noch einen Artikel im Real-World Economics Review (No. 102)1 veröffentlicht, den er in 4 Parabeln unterteilte. Die Parabel zur Umweltethik habe ich versucht lesbar zu übersetzen.

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Daly vertritt die Auffassung, dass eine ökologische Ökonomie Werte braucht, die mit den diesbezüglichen Ansichten der gegenwärtigen Wirtschaftswissenschaften im Konflikt stehen werden. Dabei unterscheidet er eine „leere“ Welt und eine „volle“ Welt. In einer leeren Welt dominiert die Biosphäre und das Wirtschaftssystem beeinflusst die Biosphäre nur marginal. In einer vollen Welt dreht sich die Situation, es kommt zu einem wirtschaftlichen ‚Overshoot‘ und Wachstum wird unwirtschaftlich. Näheres führt die Parabel I (Pre-analytic Parable) im Detail aus.

4. Parabel: Ethical Parable Darwin vs. Wallace

Herman Daly schreibt hier:

„Die oben (unter Parabel 1) dargelegte prä-analytische Vision und die erste Analyse der ökologischen Ökonomie sind sehr einfach, und die politischen Implikationen sind sehr radikal. Die radikalste politische Implikation ist, dass Wachstum (unser bisheriges Hauptziel in der leeren Welt), in der vollen Welt unwirtschaftlich geworden ist. Wachstum erhöht jetzt die ökologischen und

sozialen Kosten schneller als der Produktionsnutzen zunimmt2. Wir sollten das Gesamtwachstum stoppen und anfangen zu schrumpfen oder „de-grow“, sowohl in Bezug auf den Pro-Kopf-Durchsatz als auch in Bezug auf die Bevölkerung. Was als Folge davon mit dem BIP geschieht, ist von untergeordneter Bedeutung. Der Klimawandel und der Verlust der biologischen Vielfalt sind Symptome eines Grundproblems des sogenannten „Overshoot“. „Overshoot“ bedeutet, dass die Welt zu voll von uns und unserem Zeug ist – zu viel Verbrauch von Flächen, die (alternativ-vf) die aktuelle Photosynthese unterstützen könnten, und zu schnelles Abfließen der (seit Jahrmillionen – vf) gespeicherten Produkte der alten Photosynthese.3

Wachstum ist seit zwei Jahrhunderten unser ‚summum bonum‘. Wachstum war unser Versuch, (das Problem der-vf) Armut zu lösen ohne teilen zu müssen, unser Ersatz für Verteilungsgerechtigkeit, unser Heilmittel für Arbeitslosigkeit und Inflation, unser erhofftes Heilmittel gegen Überbevölkerung durch den automatisch (ausgelösten-vf) demographischen Rückgang und unser Zwang zum Frieden durch militärische Überlegenheit. Wachstum bedeutete auch die Herrschaft über die übrige Natur durch den Menschen (Anthropozän), ohne die daraus resultierende Pflicht des Menschen anzuerkennen, seine weitaus überlegenen Fähigkeiten in den Dienst der gesamten Schöpfung zu stellen, von der wir ein wesentlicher Teil sind. Welche ethische Grundlage kann eine solche radikale Umkehr unterstützen? Gibt es ein solches Fundament?

Derzeit ist die ethische Grundlage der ökologischen Ökonomie unklar und eklektisch. Viele übernehmen die antiken materialistisch epikureische und lukretische Sichtweise, die in jüngster Zeit durch den von vielen Biologen gepredigten Neodarwinismus modernisiert wurde, dass alles aus zufälligen Mutationen resultiert, die einer natürlichen Selektion durch Fortpflanzungserfolg unterliegt.4 Objektive Werte und eine Ethik, die über den Fortpflanzungserfolg hinausgehen, werden als bedeutungslos angesehen. Der Mensch unterscheidet sich letztlich nicht von anderen Lebewesen, er ist eine zufällige Folge der blinden Evolution. Viele Ökologen haben diese Weltanschauung von ihrer Mutterdisziplin, der Biologie, übernommen.

Blinde Ziellosigkeit lässt jedoch keinen Raum für Werte. Und ohne Wert hat die Wirtschaft keine andere Daseinsberechtigung als materiellen Abfall zu erzeugen, wie wir in Teil I gesehen haben,

die angestrebte glückliche Ehe zwischen den Disziplinen der Ökologie und der Ökonomie erfordert eine ernsthafte Eheberatung.

Diejenigen ökologischen Ökonomen, die weniger vom Neodarwinismus begeistert sind, sehen den Menschen als etwas grundlegend anderes, zwar immer noch als Teil der größeren evolvierten Schöpfung, aber als ein besonderes Geschöpf, das, ob es will oder nicht, der größeren Schöpfung (gegenüber-vf) verantwortlich ist, denn mehr als andere Lebewesen spiegelt der Mensch das Bild, wenn auch ein gebrochenes Bild, seines Schöpfers. Der Mensch hat eine bewusste Selbstidentität als Person, sowie Vernunft, Sprache, Recht, Literatur, Mathematik, Geschichte, Wissenschaft, Musik, Kunst, usw.

Aus dieser Perspektive verlangt die Ethik, diese besondere Fähigkeit und die daraus resultierende Verantwortung, für die Erhaltung und Pflege der Schöpfung einzusetzen. Den Menschen auf das Niveau anderer Tiere zu reduzieren, ist falsche Demut, die die Verantwortungslosigkeit unterstützt. Wenn wir einen Stierkampf stoppen wollen, richten wir unsere Argumente an den Matador, nicht an den Stier.

Der moderne wissenschaftliche Materialismus mag die Idee eines Schöpfers nicht, selbst dann, wenn dieser die Evolution als Mittel zur Schöpfung einsetzt. Von Verantwortung oder Schuld zu sprechen, ist ein weiterer Verstoß gegen die Regeln der naturalistischen Methodik – es gilt als „unwissenschaftlich“. Sie glauben, dass Zufall und Notwendigkeit, natürliche Selektion, Neo-Darwinismus, die richtige und hinreichende Weltanschauung ist. Wenn sie von anderen Wissenschaftlern auf die extreme Feinabstimmung der physikalischen Gesetze und der zahlreichen Konstanten konfrontiert werden, die für das Leben notwendig sind, geben die Materialisten zu, dass die Wahrscheinlichkeit verschwindend gering ist, dass Leben in unserem Universum durch Zufall entstanden ist. Also, postulieren sie unendlich viele (unbeobachtbare) Universen, in denen die infinitesimale Wahrscheinlichkeit, mit unendlich vielen Versuchen multipliziert, eintreten könnte und offensichtlich auch eingetreten ist. Wir haben einfach die große kosmische Lotterie gewonnen…wir Glücklichen!

Ihr prä-analytisches Paradigma von Materialismus und Zufall ist sehr ausgeprägt. Immerhin hat es sie zu vielen machtvollen Entdeckungen geführt – aber auch zu einem grundlegenden Nihilismus. Zunehmende Macht bei abnehmendem Zweck.–was kann da möglicherweise schiefgehen?

In der populären Diskussion wird die Zufallsbetrachtung als wissenschaftlich, die Zweckbetrachtung jedoch als religiös angesehen. In einem tieferen Sinne ist jedoch jede Ansicht sowohl wissenschaftlich als auch religiös.5 Zum Beispiel kam der unabhängige Mitentdecker der natürlichen Selektion, Alfred Russell Wallace, zu dem Schluss, dass die Theorie der natürlichen Selektion zwar sehr wirkungsvoll, aber dennoch unzureichend sei, um die weit überlegenen Fähigkeiten der menschlichen Spezies gegenüber anderen Lebewesen zu erklären.6

Er berief sich auf eine spirituelle Dimension als Zusatzhypothese zur unzureichenden Hypothese der materialistischen natürlichen Auslese, um die enormen menschlichen Eigenschaften zu erklären. Der Einwand wurde aufgenommen, aber er reduzierte sein Ansehen bei den materialistischen Darwinisten.

Und Darwin selbst, obwohl Materialist, schrieb dennoch an einen Korrespondenten:7

Nichtsdestotrotz haben Sie meine innere Überzeugung zum Ausdruck gebracht, wenn auch viel lebhafter und klarer als ich es hätte tun können, dass das Universum nicht das Ergebnis des Zufalls ist. Aber dann taucht bei mir immer der schreckliche Zweifel auf, ob die Überzeugungen des menschlichen Geistes, der sich aus dem Verstand der niederen Tiere entwickelt hat, irgendeinen Wert haben oder überhaupt vertrauenswürdig sind. Würde irgendjemand den Überzeugungen des Verstandes eines Affen vertrauen, wenn es überhaupt Überzeugungen in einem solchen Verstand gibt?“

Dies ist eine merkwürdige Aussage. Darwin behauptet eine innere Überzeugung, dass das Universum nicht das Ergebnis von Zufall ist. Aber dann wertet er seine eigene problematische Überzeugung als unglaubwürdig ab, da sie sich aus einem „Affenhirn“ entwickelt hat. Dennoch scheint er seine eigene Theorie der materialistischen natürlichen Selektion aus diesem Grund nicht zu verwerfen, obwohl sie demselben „Affenhirn“ entsprungen sein muss wie seine anderen Überzeugungen. Andere haben gefragt: Wenn meine Gedanken auf bewegte Materie reduzierbar sind, warum sollte ich dann an irgendetwas davon glauben, einschließlich dieses einen?

Ethik erfordert einen Zweck, eine Ordnung der Wünsche und Handlungen in Bezug auf einen objektiven Wert, eine endgültige Ursache, Teleologie und eine Wahrnehmung eines letzten Wertes – alles Dinge, die der herrschende Naturalismus und der Materialismus leugnen. Deren Sichtweise lässt keinen Raum für einen objektiven Wert und eine Hierarchie von Zielen, auf die die Handlungen Bezug nehmen, wie es die Ethik verlangt.

Ethik ist in doppelter Hinsicht ausgeschlossen – wenn alles determiniert ist, dann ist der Zweck eine nicht-kausale Illusion; wenn es Gut und Böse nicht gibt, dann gibt es kein Kriterium, nach dem

man ethisch wählen könnte, selbst wenn eine Wahl möglich wäre. Auf welcher Grundlage könnten wir dann für eine ökologische Ökonomie und ihre Politik vertreten, statt für die derzeitige Wachstumsökonomie plädieren – oder umgekehrt?

Der Gedanke des objektiven Wertes macht uns Angst, weil wir mit einiger Berechtigung glauben, dass er zu Intoleranz und Verfolgung derjenigen führen könnte, die eine andere Vorstellung vom objektiven Wert haben als wir. Dies ist gewiss eine Gefahr, aber die größere Gefahr besteht darin, dass wir, wenn wir den objektiven Wert leugnen, nichts mehr haben, auf das wir uns berufen können, wenn wir versuchen, zu überzeugen. Es geht nur noch um meine subjektiven Präferenzen gegenüber den Ihren, und da es keine höhere Autorität gibt, haben wir nichts, worauf wir uns berufen können, um zu überzeugen, und auch nichts, dem wir zustimmen können, wenn wir überzeugt werden. Es gibt keine andere Möglichkeit als zu kämpfen, entweder mit Gewalt oder mit Täuschung.

Ein Bekenntnis zur Realität des objektiven Wertes, einschließlich unserer Fähigkeit, gemeinsam darüber nachzudenken – wie unklar er auch immer wahrgenommen wird – ist notwendig, um willkürliche Herrschaft durch Gewalt zu vermeiden. Diese Verteidigung des objektiven Wertes wurde überzeugend dargelegt von C. S. Lewis.8

Ein häufiger Einwand gegen die Realität des objektiven Wertes ist die Behauptung, dass verschiedene Religionen und Kulturen ganz unterschiedliche Werte haben. Wäre der Wert wirklich objektiv, müsste es eine Übereinstimmung bei den Grundwerten geben, nicht die Uneinigkeit, die wir angeblich beobachten. In einem Anhang zu dem soeben zitierten Buch tritt Lewis dieser Meinung entgegen, indem er über 100 sehr ähnliche Behauptungen objektiver Werte aus maßgeblichen Quellen aufzählt, die aus sehr unterschiedlichen Kulturen zu sehr unterschiedlichen Zeiten und Orten stammen. Er unterteilt die Aussagen in acht Kategorien, deren Titel den jeweiligen objektiven Wert bezeichnen:

1. das Gesetz der allgemeinen Wohltätigkeit (gegen Mord, Gewalt);
2. das Gesetz der besonderen Wohltätigkeit (gegenüber Familie, Freunden);
3. Pflichten gegenüber Eltern, Ältesten, Vorfahren:
4. die Pflichten gegenüber Kindern und Nachkommen;
5. das Gesetz der Gerechtigkeit (sexuelle Gerechtigkeit, Ehrlichkeit);
6. das Gesetz des guten Glaubens / der Wahrhaftigkeit (Wahrheit sagen, Verleumdung vermeiden);
7. das Gesetz der Barmherzigkeit (für Witwen, Waisen, Arme und Kranke),
8. das Gesetz der Großherzigkeit (sich am Glück der anderen erfreuen, ohne Neid).

Lewis betrachtete diese Sammlung verschiedener kultureller Bekenntnisse zu gemeinsamen Werten nicht als Beweise, sondern als Belege für objektive Werte. Sein Hauptargument war eher logisch als empirisch, reductio ad absurdum oder Beweis durch Widerspruch – man nehme das Gegenteil an (keinen objektiven Wert) und zeige, dass dies zu Widersprüchen und Absurditäten führt, wie im vorhergehenden Absatz und im folgenden.

Einige materialistische Philosophen und Biologen lehren, dass Moral und freier Wille, auch wenn sie kulturübergreifend gelebt werden, Illusionen sind, aber nützliche Illusionen mit Überlebenswert, sagen sie, und daher wurden sie aufgrund ihres mutmaßlichen Beitrags zum Reproduktionserfolg ausgewählt, um sich unserer Umwelt anzupassen – unserer sich zufällig verändernden Umwelt, um es klar zu sagen. Sie gehen jedoch nicht weiter auf die Folgen ein, die sich ergeben, wenn wir (sie) als Illusion durchschauen. Kann eine Illusion, selbst eine „nützliche“, wirksam sein, wenn sie

als Illusion entlarvt ist? Ich bezweifle es. Die Folgen der Einnahme dieses Giftes wurden eindrucksvoll 1924 im Leopold-Loeb-Prozess, dem „Jahrhundertprozess“ gegen zwei akademisch brillante junge Nietzscheaner und Darwinistische Nihilisten (dargestellt-vf), die sich selbst beweisen wollten, dass sie von der Illusion einer objektiven Moral befreit waren, indem sie einen jungen Mann ermordeten.9

Die einzige Verteidigung, die ihr Anwalt, der berühmte Clarence Darrow vorbrachte, konnte das zugegebenermaßen schuldige Paar vor der Hinrichtung bewahren, indem er behauptete, dass ihre Handlungen bestimmt waren, dass in der großen Kette des strengen Determinismus „etwas entglitten“ sei. Aber warum „entglitten“, wenn es keine objektive Norm gibt, die unterschritten werden kann?

Es liegt auf der Hand, dass die Institutionen und die Politik einer ökologischen Wirtschaft in einer vollen (von Menschen dominierten) Welt ein viel solideres ethisches Fundament erfordern als das heute vorherrschende. Die Wirtschaft muss ihre Reduktion von objektiven Werten auf subjektive Präferenzen überdenken, und die Ökologie muss ihre Reduktion des objektiven Wertes auf

zweckfreien neodarwinistischen Materialismus überdenken.10 Die Macht des Wachstumsstrebens durch Berufung auf subjektive Präferenz und/oder den materialistischen Determinismus zu bekämpfen, wird aussichtslos sein. Die politische Ökonomie begann als Teil der Moral-Philosophie.

Ökologische Ökonomie erfordert eine Rückkehr zu diesem historischen Ausgangspunkt und ein Überdenken der Ökonomie im Lichte der Ökologie, der Philosophie und der Religion.11 Sie erfordert auch die Grundlage einer prä-analytischen Vision der Wirtschaft als Teilsystem einer endlichen, nachhaltigen Biosphäre, die den Gesetzen der Thermodynamik und Ökologie unterliegt. Für die Politik bedeutet es, dass qualitative Verbesserung (Entwicklung) die quantitative Steigerung (Wachstum) als Weg des Fortschritts ersetzen muss. Alles in allem ist das eine sehr große Veränderung!

Welche entwicklungspolitischen Maßnahmen zeichnen sich bei einer so großen Veränderung ab, vorausgesetzt, es besteht der ethische Wille, sie zu verwirklichen? Wie bereits erörtert, bietet ein System der Begrenzung, Verteilung und des Handels mit Grundressourcen einen Rahmen für

die zunehmenden Knappheitsrenten aus natürlichen Grundressourcen zu erfassen und gerecht zu verteilen, während gleichzeitig die höheren Ressourcenpreise zu mehr Effizienz und Sparsamkeit führen können. Ressourcenobergrenzen zur Begrenzung des Durchsatzes von Grundressourcen, insbesondere von fossilen Brennstoffen, sind erforderlich, um den ökologischen Overshoot und die daraus resultierenden Klima- und Biodiversitätskatastrophen zu reduzieren, unter denen alle Länder leiden.

In fast allen Ländern ist die Ungleichheit in der Einkommensverteilung extrem geworden, und das Gesamtwachstum des BiP (Bruttoinlandsprodukt) bietet nicht mehr die Hoffnung, die Ungleichheit in einer Ära des unwirtschaftlichen Wachstums zu verringern. Deshalb erscheint eine Begrenzung der Bandbreite der Ungleichheit, die durch ein Mindesteinkommen und ein Höchsteinkommen beschränkt ist, als eine notwendige Teilung, um die große Mehrheit der Bürger in demokratischen Ländern zur Mitarbeit zu bewegen. Erziehung zur Verhütung und Verhütungsmittel sollten allgemein verfügbar gemacht werden, damit jede Geburt eine gewünschte Geburt sein kann.

Das größere demografische Problem für die Nationen wird die Migration sein. Ökologische Katastrophen, Kriege und scheiternde Staaten haben die Zahl der Migranten, von denen viele legitime Flüchtlinge sind, stark erhöht. Jedes Land, das seinen eigenen Ressourcenverbrauch einschränkt, seine Geburten begrenzt und seinen Bürgern ein Mindesteinkommen bietet, was hier befürwortet wird, kann leider nicht mehr lange eine große Zahl von Einwanderer aufnehmen. Anstatt dass die Menschen in Länder auswandern, deren Politik objektive Werte respektieren (wenn es solche Länder gibt), muss diese gute politische Praxis (an Stelle der Menschen-vf) in all die anderen Länder wandern.

Die Entwicklungspolitik muss aufhören, auf weiterem Wachstum in einer bereits „vollen“ Welt zu beharren. Und um dies zu erreichen, muss die Ökologische Ökonomie ihre Ethik auf objektive Werte gründen und nicht auf subjektivistischen Individualismus oder materialistischen Neo-Darwinismus.“ (Zitatende)

Daly demonstriert begründet seine Auffassung von objektiven Grundwerten mit den Ausführungen von Lewis. Ich tue mich jedoch schwer, aus den angeführten acht Wertekategorien einen Wert her- oder abzuleiten, der reelle Chancen hätte, objektiver Grundwert einer Ökologischen Ökonomie zu sein. Lewis’ Argumente geben Daly insoweit recht, als es möglich erscheint, objektivierte Grundwerte zu bestimmen. Der m.E. schwierigere Part, diesen Grundwert für die Ökologie zu finden, steht aber noch aus.
………………………………………………..
1Herman Daly, “Ecological Economics in Four Parables”, real-world economics review, issue no. 102, 18 December 2022, pp. 2-15,
2John Talberth, Clifford Cobb,Noah Slattery, The Genuine Progress Indicator, Redefining Progress, Oakland CA, 2006.
3Ecological Footprint, https://www.footprintnetwork.org/our-work/ecological-footprint/
4Richard Dawkins, The Selfish Gene, Oxford University Press, 1976.
5Neil Thomas, Taking Leave of Darwin, Discovery Institute Press, 2021
6Alfred Russell Wallace, Darwinism, (Chapter 15), 1889.
7Charles Darwin, Life and Letters of Charles Darwin, (1986), “Religion”, in Francis Darwin (ed.), Vol. I, Ch VIII,New York: D. Appleton & Co. pp. 274–86.
8C. S. Lewis, The Abolition of Man, 1944, reprinted by HarperCollins e-Books
9They were sentenced to life in prison where Loeb was killed by fellow inmates. Leopold was eventually paroledand in apparent repentance spent the remainder of his life as a hospital technician in Puerto Rico. Darrow later defended John Scopes from the charge of “teaching evolution” in the notorious “Monkey Trial” of 1925.
10See, for example, Thomas Nagel, Mind and Cosmos: Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature Is Almost Certainly False, Oxford University Press, 2012.
11Herman Daly, From Uneconomic Growth to a Steady-State Economy, Edward Elgar, Publishers, 2014.

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Nachhaltigkeit konkret – ein Versuch

Das Thema Nachhaltigkeit war im Rahmen dieses Blogs schon mehrfach ein wichtiges Thema. Zum einen unter der Überschrift „Nachhaltigkeit – geht es etwas präziser“ und auch als „Nachhaltigkeit oder Klimaneutralität“. In beiden Beiträgen wird deutlich angesprochen, dass der Begriff „Nachhaltigkeit“, den die Bruntland-Kommission aufgebracht hat, zwar verstanden wird (was politisch vielleicht wichtig ist), aber im Konkreten einer völlig beliebigen Verwendung Tür und Tor öffnet.

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Die Bruntland-Kommission hat Nachhaltigkeit aus der anthropozentrischen Perspektive definiert und dabei, vereinfacht gesprochen, die sogenannte „Enkeltauglichkeit“ (eine Perspektive der Langfristigkeit) gefordert. Herman E. Daly hat die Nachhaltigkeit aus der Sicht der Biosphäre bestimmt. Diese Definition ist fraglos härter und konkreter, aber immer noch sehr abstrakt:

  • Die Abbaurate einer Ressource darf ihre Regenerationsrate nicht übersteigen.
  • Das Emissionsniveau darf die Assimilationskapazität der Biosphäre nicht übersteigen.
  • Der Verbrauch nicht regenerierbarer Ressourcen ist durch eine entsprechende Erhöhung des Bestandes an regenerierbaren Ressourcen zu kompensieren.

Dann erschöpft sich die Diskussion mangels akzeptabler oder interessanter Vorschläge ziemlich schnell. Ein Grund liegt vermutlich auch darin, dass die Ökologie kein Ziel hat. Erhaltung der Biosphäre ist in meinen Augen kein Ziel, das ist nur eine untere Handlungsgrenze, unter die wir auf keinen Fall rutschen dürfen. Ökologie wird gerne mit Evolution verwechselt und für die Evolution halten viele den Zufall für zuständig. Aber Ökologie funktioniert nur dann, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt werden können: Artenvielfalt, ein Miteinander, Komplexe Strukturen, Systemdenken, Funktionalität u.a.m.. Leben ist m. E. ohne diese komplexen Strukturen nicht denkbar. Alles, was im Grunde schlicht, einfach, linear, direkt, zielgerichtet auftritt, hat mit „Leben“ wenig zu tun. Herman E. Daly hat in einem seiner letzten Essays (4. Parabel) 2022 versucht, diesem Gedanken eine Stimme zu geben.

Die konkreten Folgen dieser Problematik wurden mir dann vor kurzem bei einem Vortrag eines Architekten vor Augen geführt, bei dem es u.a. darum geht, „nachhaltiges Bauen“ zu bewerten.

Es ging um die Frage, ob Betonbau, Holzbau oder auch eine Hybridbauweise als nachhaltig eingestuft werden könnte. Grundlage der Darstellung war Bauen in Beton, dann auch in Holzfertigbau bzw. in einer Holzhybridbauweise.

Der vortragende Architekt hatte eine Vielzahl von Kriterien zusammengetragen. Die Mehrzahl seiner Kriterien waren technischer bzw. planerischer Natur, deren Zusammenhänge ich als Laie nur schwer abschließend beurteilen kann. Mein Interesse galt daher der Frage, wie sich diese Gesichtspunkte zu einem Begriff der Nachhaltigkeit verdichten lassen.

Die Betonbauweise gilt allgemein als nicht nachhaltig, weil die Zementherstellung große Mengen an Energie benötigt und viel CO2 ausstößt. Hinzu kommt, dass der Sand oder Kies, der für den Beton notwendig zur Verfügung stehen muss, inzwischen global als ein knappes Gut eingestuft wird. Schon diese beiden Punkte lassen den Betrachter an einer Nachhaltigkeit zweifeln. Betrachten wir die Lebensdauer der in Betonbauweise errichteten Gebäude, so können wir darin eine Variable erkennen, die die Nachhaltigkeit deutlich verbessern könnte. Wir bauen heute mit Investoren, die oftmals schon beim Neubau damit kalkulieren, dass das errichtete Gebäude in etwa 25 – 30 Jahren wieder abgerissen wird, damit auf dem Grund dann ein neues Gebäude errichtet werden kann. Es ist deshalb auch nicht ausgeschlossen, dass die Qualität des gegenwärtigen Neubaus durch die Erwartungen des (baldigen) Abrisses leidet. Die Lebensdauer eines in Betonbauweise errichteten Gebäudes liegt bei entsprechender Planung, guter Ausführung, ordentlicher Pflege und gegebenenfalls auch Teil-Sanierung bei mindestens 100 Jahren (etwa bei dem Vierfachen der aktuell angestrebten Lebensdauer, insbesondere bei gewerblichen Bauten), d.h. die unzureichende Ökobilanz könnte durch eine Steuerung der Aktivitäten pro Zeiteinheit deutlich verbessert werden.

Mit dem Bau des Beton-Gebäudes ist ein großer „Rucksack“ voll von ökologisch schädlichen Entwicklungen verbunden, ein Sack voller ‚externer Effekte‘, gemessen in Tonnen von Äquivalenten1. Durch eine bewusste Streckung der Lebensdauer ließe sich der erste ‚Rucksack‘ zwar nicht vermeiden, aber doch nachhaltiger verteilen. Wenn nach 25 Jahren das Gebäude, das eine Lebensdauer von 100 Jahren aufzuweisen hat, abgerissen wird, dann sind 75% des ‚Rucksacks‘ aufgrund der künstlich verkürzten Lebensdauer noch nicht verbraucht. Sie werden dann zu diesem Zeitpunkt bewertet und erhöhen die Kosten des künftigen Neubaus. Das wird rasch zu einer Verschiebung der Prioritäten bei Investoren führen. Wenn durch die Maßnahme die Schaffung von weiteren drei ‚Rucksäcken‘ vermieden werden könnte, so würden drei ‚Rucksäcke‘ erst gar nicht entstehen und das wäre ein großer Schritt in die richtige (ökologische) Richtung. Statt vier Rucksäcke voller externer Effekte werden wir nur einen Rucksack auf die angestrebten 100 Jahre verteilen müssen. Sanierung und Erhaltungsaufwand werden dagegen laufen, aber hier verstecken sich gewöhnlich viel weniger externe Effekte. Der ‚alte‘ Betonbau würde auf diese Weise ökologisch entlastet und der Drang nach Neubauten über den ‚goldenen Zügel‘ eingeschränkt.

Die Holzbauweise wird gegenwärtig als angeblich klimaneutrale Alternative propagiert. Wann immer in unserem Wirtschaftssystem, das sich der linearen Denkweise mit Haut und Haaren verschrieben hat, etwas als besonders nachhaltig verkauft wird, sollte größte Vorsicht geboten sein. Auf die technischen Vor- und Nachteile will und kann ich hier nicht eingehen. Glaubt man der Werbung, kann dieses Verfahren die CO2-Bilanz bis zu 90 Prozent verbessern, weil der Einsatz von Beton stark zurückgefahren wird. Das klingt im ersten Schritt recht gut. Wenn wir aber das lineare Denken beiseite schieben und uns das komplexere Gesamtbild betrachten, gibt es ein ganze Reihe von Fragen.

Holzbalken wachsen nicht auf der Wiese. Gehen wir davon aus, dass ein Baum im Querschnitt idealerweise kreisrund ist und Balken zu ihrer leichteren Weiterverarbeitung i.a.R. zu einem rechteckigen Querschnitt verarbeitet werden. Anders als im Fußball muss das „Eckige“ in das „Runde“. Und das Runde wird entlang des Baumes zur Spitze hin immer kleiner. Mit anderen Worten: es treten bei diesem Verwertungsverfahren immer Verluste auf. Der theoretische Verlust aufgrund der Tatsache, dass das Eckige aus dem Runden geschnitten werden muss, führt zu über 36 Prozent Holzmasseverlust, wenn keine Verjüngung des Baumes zur Spitze hin unterstellt wird.. Dieser Verlust enthält noch nicht die Verluste, die dadurch entstehen, dass der Baum sich zur Spitze hin verjüngt, dann noch Äste, organische Schwachstellen (Fäulnis) und manches andere mehr aufweist. Ich würde den realen Gesamtverlust auf etwa 50 Prozent schätzen. D.h. konkret, bevor ein Balken gesetzt werden kann, ist der halbe Baum schon „entsorgt“. Das Problem spricht für sich. Wer in Holz bauen will, sollte die Zahl der dafür einzusetzenden Bäume, grob gerechnet, etwa verdoppeln.

Nun kommt die Frage der Nachhaltigkeit. Und zwar nicht die anthropozentrische CO2 Bilanz, sondern jetzt greife ich auf die Nachhaltigkeit im Rahmen der Biosphäre (siehe oben) zurück. Die Abbaurate für Bäume muss kleiner sein als die Regenerationsrate des Waldes. Diese Frage lässt sich für einen Laien nur durch unterstützende Angaben der Forstbehörden beantworten. Dort wird die Zahl von 98 Prozent angeführt (2018), wobei es nicht klar ist, wie hier die Einschläge behandelt werden, die in der jüngsten Vergangenheit aufgrund der „Borkenkäfer-Offensive“ bei Fichten-Monobeständen in tieferen Lagen ausgelöst wurden.

Bisher wurde üblicherweise in Stahlbeton (oft gewerblich) und mit Ziegeln (privat) gebaut. Wenn sich das Interesse an einer Holzbauweise verstärkt, so haben wir gegenwärtig vermutlich aufgrund der menschengemachten Borkenkäferplage relativ viel eingelagerte Holzvorräte. Diese Vorräte werden sehr rasch zusammenschmelzen, wenn sich daraus ein Holzbauboom entwickeln sollte. Dann verfügen wir nicht mehr über Vorräte, sondern müssen den kommenden Einschlag organisieren. Das wird bei einer Einschlagquote von 98 Prozent der Regenerationsrate aber schwierig bis unmöglich, ohne die Bedingung zu verletzen, dass die Abbaurate kleiner als die Regenerationsrate sein soll. Bei 98 Prozent und den üblich zu erwartenden kleineren Messfehlern können wir davon ausgehen, dass diese Bedingung in ganz kurzer Zeit gerissen wird. Ab diesem Zeitpunkt wäre es offensichtlich grob fahrlässig, diese Holzbauweise noch als klimafreundlich oder gar CO2-neutral zu bezeichnen.

Die Ökonomie findet hier i.d.R. einen einfachen Ausweg: Wenn wir schon am Limit sind, lasst uns doch das heimische Holz durch importiertes Holz ‚substituieren‘. Die Tatsache, dass dieses Holz oft schwarz eingeschlagen wird, stört die Ökonomie wenig. Hauptsache, die Substitution bietet die Möglichkeit, die mengenmäßige regionale Einschränkung zu umgehen. Dass die Nachhaltigkeitsregeln global gelten, wird vermutlich vielerorts in Geld aufgewogen oder muss man sagen: substituiert.

Die favorisierte Holzbauweise hat noch einen zweiten Schwachpunkt, der sich aus der Forderung ergibt, dass das Emissionsniveau die Assimilationskapazität der Biosphäre nicht übersteigen darf. Wenn wir also mehr mit Holz bauen, und wir wollen nicht den üblichen Raubbau im Kolonialstil verfolgen, so müssen wir dafür sorgen, dass wir vor unserer eigenen Haustüre kehren. Mit der Holzbauweise können wir kaum die grüne Lunge darstellen, die wir dringend benötigen, um unseren Emissionshaushalt im Zaum zu halten. Daly’s Nachhaltigkeitskonzept gilt global. Im Prinzip müssten wir den Einschlag aufgrund der Langfristigkeit der Waldentwicklung auf vielleicht 90 Prozent o.weniger reduzieren, weil wir global Zuwächse in der Waldfläche benötigen, um einen nennenswerten Beitrag leisten zu können, die Emissionen auf natürliche Weise zu absorbieren.

Als Fazit lässt sich feststellen, dass die herkömmliche Bauweise für sich betrachtet, zwar CO2-intensiv ist, aber nicht der Bösewicht ist, den wir gerne darin sehen wollen. Der wahre Grund für die mangelnde Nachhaltigkeit liegt in dem von uns gewollten, Geld getriebenen Kurzfristigkeit-denken, die den wahren Kern des Problems offenlegt. Hier gilt es anzusetzen. Die „Rucksack-Methode“ als Kompensation der wesentlichen externen Effekte wäre bei Bauinvestitionen ein guter Anfang. Eine Übertragung auf andere Großinvestitionen erscheint dabei nicht ausgeschlossen.

Die Holzbauweise ist im Einzelfall eine Lösung. Sobald dieses Verfahren zur Massenanwendung kommt, wird es, ähnlich wie bei Pellets, an der Nachhaltigkeit scheitern. Wir können keine Verfahren mehr in der Masse tolerieren, die auf einem Raubbau der Biosphäre beruht. Wir werden uns auf den Verbrauch besinnen müssen, der uns regional zur Verfügung steht und dieses Material sparsam und technisch so effizient wie möglich einsetzen.

1Der „Rucksack“ wird nach Fertigstellung festgestellt und beim Grundbuchamt angemeldet und dort verwaltet. Er ist damit öffentlich einsehbar und geht auf den neuen Eigentümer über. Er beeinflusst indirekt auch die Grundstückspreise.

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Ökonomie ohne Biosphäre – geht das?

Es ist mir schon seit längerem klar, dass mit der Ökonomie etwas nicht stimmen kann. Dieses diffuse Gefühl lässt sich nicht so einfach in überzeugende Argumente umsetzen . Insbesondere wundert mich seit einigen Jahren, dass die Ökonomie so gut wie keine Beiträge zur Problematik der Klimakrise bereithält bzw. keine Lösungen vorschlägt, die nicht in der festgefahrenen „Rille“ der Mainstream-Ökonomie verharrt.

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Bei der Suche nach Beiträgen, die mein Gefühl bestätigen bzw. dieses Gefühl in gute Argumente verwandeln könnte, bin ich auf die Besprechung eines Buches1 gestoßen, das diese Erwartungen wohl erfüllen könnte. Das Buch selber ist mir leider nicht verfügbar, aber die Rezension2 durch Shimshon Bichler und Johnatan Nitzan, beide Referenten an Universitäten von Israel und Kanada, ist so treffend, dass man auch über die Rezension genügend Einblicke erhält, um sie einem interessierten Publikum vorzustellen.

Steve Keen’s Buch bietet eine gut begründete Kritik der herrschenden Makroökonomie. Aus Keen’s Sicht stellt der dort verbreitete Neoklassizismus eine große Gefahr dar:

„Ich betrachte die neoklassische Ökonomie nicht nur als eine schlechte Methodologie zur wirtschaftlichen Analyse, sondern auch als eine existenzielle Bedrohung für die Fortführung des Kapitalismus – und der menschlichen Zivilisation im Allgemeinen.“(S. 155, eigene Übersetzung)

Das Buch von Steve Keen ist auf drei Schlüsselfragen hin ausgerichtet:

1. auf die bizarre neoklassische Perspektive, warum Geld, Kredit und Schulden keine Bedeutung für die Makroökonomie besitzen,

2. auf die Behauptung der Neoklassik, warum die komplexen, nicht linearen Turbulenzen des Wirtschaftssystems am besten durch lineare Gleichgewichtsbegriffe erklärbar sind, und

3. die Tatsache, warum die Neoklassiker die Ökonomie des Klimawandels an sich gerissen haben, indem sie mit offenkundig falschen Annahmen eine Politik des Nichtstuns rechtfertigen mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft.

Der Punkt 3 hat mich veranlasst, diesen Teil der Rezension ins Deutsche zu übersetzen:

Der letzte wichtige Punkt auf Keen’s Reise ist, dass die neoklassische Wirtschaftswissenschaft von der Natur abstrahiert (in der neoklassischen Standardproduktionsfunktion gibt es keine Energiezufuhr oder Verschwendung), und dass diese Abstraktion nicht nur theoretisch irreführend, sondern auch sehr gefährlich für den Kapitalismus ist, ebenso wie für die Menschheit und das Leben auf dem Planeten im Allgemeinen.

Wenn die Wirtschaft weiterhin so schnell wächst wie im vergangenen Jahrhundert, nämlich mit etwa 2,3 Prozent jährlich, wird die Menschheit in etwa 1.400 Jahren die gesamte von der Sonne ausgestrahlte Energie benötigen, und in etwa 2.500 Jahren die gesamte von der Milchstraße erzeugte Energie – das heißt, vorausgesetzt, wir rösten uns nicht schon viel früher3 (Murphy 2021: Tabelle 1.3, p. 9).

Und wir werden uns rösten. In etwas mehr als 400 Jahren, selbst ohne Berücksichtigung der globalen Erwärmung, werden die Energieabfälle der menschlichen Industrie die Durchschnittstemperatur auf 100 Grad Celsius ansteigen lassen, also auf den Siedepunkt von Wasser – obwohl die Welt bis dahin unbewohnbar geworden ist (ebd., Tabelle 1.4, S. 12).

Die Neoklassizisten sehen das allerdings nicht so. Für diejenigen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, ist der Klimawandel eigentlich kein Thema. Selbst wenn er eintritt, argumentieren sie, werden seine Auswirkungen auf die Wirtschaft vernachlässigbar sein. Nach einer von Keen zitierten Konsensschätzung wird ein globaler Anstieg von 3 Grad Celsius bis 2090 das jährliche BIP-Wachstum um winzige 0,015 Prozent verringern. Mit anderen Worten, die Menschheit ist sicher, wenn sie nichts dagegen unternimmt.

Das Problem mit diesen leichtfertigen Vorhersagen und politischen Empfehlungen zum Nichtstun, so Keen, ist, dass sie unbegründet sind. Sie sind nicht nur sinnlos, sondern widersprechen auch dem Konsens, dass der Klimawandel weite Teile der Welt unbewohnbar machen und gleichzeitig die Vegetation und andere Lebensformen unterminiert. Woher kommt also diese tiefe Kluft zwischen den „zwei Kulturen“? Für Keen ist der Ursprung Milton Friedman, der seine Kollegen aus der Neoklassik davon überzeugte, dass in der Wissenschaft Annahmen keine Rolle spielen. Sie können annehmen, was sie wollen. Das Einzige, was zählt, sind ihre Vorhersagen.

Und genau auf diese Weise modellieren die Neoklassiker ihre Welt. Sie beginnen mit der Beobachtung, dass die Temperaturen auf den Planeten in einem bestimmten Bereich liegen. Zur Veranschaulichung: Der Unterschied zwischen dem kalten Kanada und dem heißen Burkina Faso beträgt fast 34 Grad Celsius. Und da dieser große Querschnittunterschied tolerierbar ist, muss auch ein zeitlicher Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur tolerierbar sein, insbesondere wenn dieser Anstieg nur wenige Grad Celsius beträgt. Das Problem ist, so Keen, dass Querschnittunterschiede in den Temperaturen nichts mit zeitliche Veränderungen im Klima der gesamten Planeten zu tun haben. Und es gibt noch mehr. Da Annahmen keine Rolle spielen, ignorieren die Neoklassiker den Anstieg der „Feuchtkugeltemperaturen“, vor dem Wissenschaftler warnen, der große Teile der Welt tödlich treffen wird.

Sie ignorieren auch die Veränderungen der atmosphärischen und der Meeresströmungen, die die Klimamuster auf der ganzen Welt radikal verändern könnten. Und, am wichtigsten, sie ignorieren vor allem aber die zahlreichen Kipp-Punkte des Klimas, vor denen Wissenschaftler warnen, ebenso wie die Möglichkeit einer „Kippkaskade“, die den Klimawandel um ein Vielfaches verstärken könnte.

Und das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Die Neoklassiker vernachlässigen in ihren Arbeiten die sozio-politischen Unruhen, die beginnen werden, lange bevor die Auswirkungen dieser natürlichen Prozesse voll zum Tragen kommen. Und sie schweigen völlig über die Finanzmärkte, deren vorausschauende Antizipation dieser Veränderungen die Welt erschüttern könnten, bevor die materiellen und sozialen Folgen zum Tragen kommen.

Für die Neoklassiker ist es vernünftig, von diesen Bedingungen abzusehen. Schließlich liegt ihre Hauptaufgabe nicht in der Suche nach der Wahrheit, sondern in der Verteidigung des Kapitalismus. Und da die meisten Wissenschaftler überzeugt sind, dass der Kapitalismus den Planeten erwärmt, lautet die neoklassische Antwort, dass diese Erwärmung unbedeutend ist.

Und genau hier sieht Keen einen bittersüßen Hoffnungsschimmer. Seiner Ansicht nach werden sich die rosigen neoklassischen Klimavorhersagen als völlig falsch erweisen; die Schwere dieses Fehlschlags wird dazu beitragen, die betrügerischen Grundlagen des neoklassischen Dogmas zu entlarven; und diese Entlarvung wird die Tür zu einer „neuen Ökonomie“ öffnen, in der Annahmen eine Rolle spielen und in der Geld, Komplexität und Natur ernst genommen werden. Hoffentlich überleben wir, um das zu erleben.“

Dem ist m.E. nichts hinzuzufügen.

1Keen, Steve, The New Economics: A Manifesto, (2021) Cambridge, U.K.

2 Real-World Economics Review No. 102, 2022, S. 161 f.)

3Murphy, Tom W. Jr. 2021. Energy and Human Ambitions on a Finite Planet. Assessing and Adapting to Planetary Limits: eScholarship, University of California.

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Ökonomie und Resilienz

Man kann der gegenwärtig praktizierten Wirtschaftswissenschaft nur schwer die Kompetenz absprechen. Dazu tritt sie zu dominant auf und ist im täglichen Leben allgegenwärtig. Aber man kann der Orthodoxie die Fähigkeit absprechen, sinnvoll einer grundlegend neuen Situation mit neuen Methoden bzw. mit wirtschaftlich neuen Strategien zu begegnen bzw. sie zu unterstützen.

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Unsere Wirtschaftswissenschaften sind auf das Gedankenmodell des Kapitalismus ideologisch fixiert. Sie hat die Tatsache, dass das Hauptziel des menschlichen Wirtschaftens in der Versorgung der Bevölkerung liegen könnte, komplett an den Rand geschoben. Stattdessen wurde der „Raubzug“ (die individuelle Bereicherung) zum globalen Ziel. Und es ist dafür gesorgt, dass dieses Ziel nur eine Minderheit der Teilnehmer auf Kosten der Mehrheit und insbesondere auf Kosten unserer Lebensgrundlage (der Biosphäre) auch wirklich erreicht.

Zu meiner Jugendzeit gab es noch den real existierenden Sozialismus oder auch Kommunismus. Der Kapitalismus hatte sich verständlicherweise dagegen klar abzugrenzen. Der ideologische Druck auf den Kapitalismus war groß und die Antwort des Kapitalismus war, wie nicht anders zu erwarten, hochgradig ideologisch. Nachdem die sozialistischen und kommunistischen Ansätze als nicht realisierbar aufgegeben werden mussten, hat der Kapitalismus seine ideologische Haltung aber konsequent beibehalten. Es ließ sich recht gut damit leben und im Zweifelsfall standen einfache und schlichte Argumente zur Verfügung, um die kapitalistische Position zu verteidigen. Und die wirklichen Gewinner in diesem Spiel sind nicht notwendig viele, aber sie sind einflussreich und sorgen dafür, dass unter dem Gesichtspunkt der Bestandssicherung Änderungen nur in geringem Umfang eintreten.

Inzwischen verfügen wir über breitere Erkenntnisse. Die kapitalistische Wirtschaftsweise wird als effizient verstanden, aber sie produziert dabei laufend sogenannte externe Effekte oder auch „Externalitäten“, die im Einzelfall vernachlässigbar erscheinen, aber über die Jahrzehnte und in Summe „Kollateralschäden“ verursacht haben, die uns heute summarisch als „Klimakrise“ beglücken. Wir stehen vor der Frage, wie wir in Zukunft wirtschaften sollen, um die angesprochenen Kollateralschäden zu vermeiden oder doch in Summe drastisch zu verringern?

Das ist aber eine Frage, die man einer stark ideologisch geprägten Wirtschaftslehre nicht stellen kann. Die Ideologie ist der Auffassung, dass Wirtschaften nur im Rahmen der von ihr vertretenen Perspektive möglich ist. Etwas anderes zu denken ist „des Teufels“. Sie können dem Papst auch nicht den Vorwurf machen, dass er die Welt ausschließlich durch die katholische Brille sieht.

Das Problem dieser ideologischen Haltung liegt darin, dass bis auf ein kleines Häuflein von Ökonomen die orthodoxe Lehre sich überhaupt keine Gedanken macht oder gemacht hat, wie man denn auf den Fall reagieren könnte und müsste, wenn sich die herrschende Auffassung als unzureichend, falsch, oder gar schädlich erweisen könnte.

Unser gegenwärtiges Wirtschaftsdenken ist auf die kurzfristige Unmittelbarkeit beschränkt. Manche indigenen Völker (und auch in unserer eigenen Geschichte) beziehen bei Entscheidungen die absehbaren Handlungskonsequenzen für mehrere Generationen ein. Wir meinen, mit dem schmalen Bild von Angebot und Nachfrage seien regelmäßig alle wichtigen handlungsleitenden Parameter erfasst. Alles andere gilt als vernachlässigbare Externalität.

Die Ökonomie spricht gerne von ihren Erkenntnissen als quasi „physikalische Gesetze“, und geht bevorzugt davon aus, dass sie ewig gelten werden. Die Ökonomie macht dabei aber den Kardinalfehler, dass sie sich auf ein mechanistisches Weltbild aus der Zeit Newtons (1642 – 1726) beruft. Dieser mechanistische Ansatz eignet sich nicht oder nur sehr eingeschränkt, um die komplexen sozialen Prozesse des gegenwärtigen Wirtschaftens hinreichend zu beschreiben oder gar zu verstehen.

Man könnte nun meinen, es wäre doch ein einfaches, die externen Effekte beim wirtschaftlichen Handeln künftig zu berücksichtigen. Der Begriff der externen Effekte ist ein Sammelbegriff für alles, was die Wirtschaftswissenschaften in ihren Betrachtungen bevorzugt als irrelevant ausschließen. Dazu zählen teilweise auch die Erkenntnisse anderer Wissenschaftszweige wie Psychologie, Soziologie, Physik und politische Wissenschaften. Dahinter verbirgt sich ein ganzer Kosmos der verschiedensten Aktivitäten und Zusammenhängen. Man könnte auch sagen, die Wahrnehmung der Externalitäten könnte einen Untersuchungsfeld eröffnen, das die Wirtschaftswissenschaft gegenwärtig weder kennt noch beschreiben kann, schweige denn Vorschläge entwickeln könnte, wie künftig damit umgegangen werden soll.

In lockeren Gesprächen wird oft der Vorschlag gemacht: gebt den Externalitäten einfach Preise, dann gewinnen sie im ökonomischen Sinne Entscheidungsrelevanz. So einfach ist das nicht. Der als Externalität erfasste Sachverhalt taucht ja in dem Begriffsapparat der Wirtschaftswissenschaften nicht mehr auf. Der Begriff der Externalität ist wie ein großer Papierkorb zu verstehen, in den „Überflüssiges“ entsorgt wird. Man kann im Rahmen der Ökonomie einen Preis nur festlegen, wenn der bezeichnete Gegenstand ein Wirtschaftsgut darstellt, das nach herrschender Meinung auf einem Markt Abnehmer findet. Das ist durch die Klassifizierung als Externalität aber ausgeschlossen.

Ob die Externalitäten Wirtschaftsgüter sein können, entscheidet sich auch an der Frage der Eigenständigkeit. Externalitäten sind oft Eigenschaften eines Wirtschaftsgutes oder eine Prozesses, die im Einzelfall als vernachlässigbar angesehen, aber in der Masse dann relevant werden kann. Für die Masse ist aber nach herrschender Auffassung niemand mehr verantwortlich zu machen, weil jeder Einzelfall (möglicherweise zu Recht) als irrelevant angesehen wurde. Hieraus kann man in etwa erkennen, dass eine Veränderung der relevanten Wirtschaftssituation nicht oder nur schwer durch Reparaturen am Begriffsapparat der orthodoxen Wirtschaftslehre erfasst werden kann.

Noch schwieriger wird es, wenn man davon ausgeht, dass die strikte Wachstumsorientierung unseres Wirtschaftssystems künftig mit ziemlicher Sicherheit ein Auslaufmodell sein wird. Oft wird lapidar vorgetragen, dass Wohlstand die neue Orientierung sei. Wachstum ist ein einfacher Quotient, der aus dem Bruttoinlandsprodukt gewonnen wird. Wohlstand ist ein deutlich komplexerer Sachverhalt, dessen Bestimmung je nach Verfahren i.d.R. eine ganze Reihe von unterschiedlichen Sachverhalten kombiniert, die sowohl quantitative als auch qualitative Kenngrößen umfassen.

Die Aufhebung des simplen und direkten Zusammenhangs von Wirtschaften und Wachstum könnte auch damit beginnen, dass man das mit dem Wachstum eng verbundene Kurzfristigkeitsdenken durch neue Regeln aufzubrechen versucht. Dieser Vorgänge lösen aber zwangsläufig eine Entwicklung aus, die die Verteilung von Gewinnern und Verlieren des Prozesses neu mischt.

Für die Produkte werden künftig z. B. gesetzlich Mindestlebenserwartungen definiert, wird Reparaturfähigkeit gefordert und eine Produkteigenschaft erwartet, die das einfaches Recyceln der eingesetzten Materialien sicherstellt. Bei Investitionen ist zu bestimmen, dass Erhaltung und Sanierung Priorität vor Neuanschaffung erhält. Dem Neubau wird auferlegt, so zu bauen, dass das Produkt eine lange Lebensdauer aufweist und mit einfachen Mitteln erhalten, an neue Verwendungen angepasst bzw. saniert werden kann. Zur Durchsetzung muss das Gesetz den Nutzern bzw. der Aufsicht die Möglichkeit bieten, die Beachtung die neue Regeln auf dem Rechtsweg durchzusetzen.

Durch die konkrete Unterbindung einer ständigen Kurzfristorientierung unserer gegenwärtigen Wirtschaftsaktivitäten werden wir feststellen können, dass unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem ein riesiges System systematischer Verschwendung darstellt. Wir sind zwar effizient im Kleinen, aber durch unsere Orientierung an der Kurzfristigkeit dürfen die Güter, die wir produzieren, nicht zu lange halten, weil jeder dadurch veranlasste Neuverkauf die „Kiste am Brummen“ hält – zu Lasten unserer Lebensgrundlagen und unserer Mitwelt.

Die Wirtschaftswissenschaften gehen von einem ewigen Wachstum aus. Die Formel, die das Wachstum beschreibt, ist dabei so gestaltet, dass das Wachstum nicht nur in der Erwartung des Ewigen steht, sondern auch aufgrund der formalen Erfassung als Exponentialgleichung irgendwann mathematisch „explodiert“. Das hat aber bisher offensichtlich noch die wenigsten Wirtschaftswissenschaftler so richtig interessiert. Ähnlich geht es mit dem Ressourcenverbrauch, der natürlich für einzelne Ressourcen als begrenzt erkannt wird. Als Entlastung kommt dann schnell der Begriff der Substituierbarkeit ins Spiel . d.h. die knappe (und damit eventuell teure) Ressource wird dann durch eine andere ersetzt. Von der grundsätzlichen Möglichkeit der Endlichkeit der Ressourcen spricht die Ökonomie gewöhnlich nicht.

Die Thermodynamik der modernen Physik kann darstellen, dass alle Prozesse in der Natur irreversibel ablaufen, d.h. wenn ein Gleichgewichtszustand (und der spielt in den Wirtschaftswissenschaften eine beachtliche Rolle) durch laufende Prozesse verlassen wird, ist der alte Gleichgewichtszustand nicht mehr wiederherzustellen. Eventuell ist ein neues Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau darstellbar. Wenn wir Steinkohle verheizen, entsteht im Wesentlichen Energie, Staub und CO2. Der Prozess ist aber nur in dieser Richtung durchführbar (also irreversibel). Wir kennen das von den sogenannten Kipp-Punkten, deren Überschreitung ein Zurück zum Ausgangspunkt verbauen.

Aus Energie, Staub und CO2 sind wir nicht in der Lage, wieder Kohle herzustellen. Das klingt lächerlich, aber die auf der Mechanik aufbauende Theorie der Wirtschaftswissenschaften kann so etwas postulieren. Sie werden aber hoffentlich keinen ernstzunehmenden Vertreter finden, der diese Vorstellungen für die Praxis behauptet.

Die Irreversibilität der natürlichen Prozesse führt dazu, dass jeder dieser Prozesse einen Beitrag zur Entropie leistet. Dabei beschreibt Entropie ein Maß für die Umwandlung von Ressourcen in Energie. Die Energie ist nicht mehr auflösbar oder rückführbar. Je mehr wir Ressourcen extrahieren, desto mehr Energie setzen wir frei. Die „Entropiezeche“1 zahlen wir dadurch, dass die Energie nach unserem Gebrauch zwar in der Welt ist, aber für uns künftig nicht mehr nutzbar ist. Diese hier grob umrissenen Gedanken aus der Physik nimmt die Wirtschaftswissenschaft i.d.R. gar nicht zur Kenntnis.

Wenn wir also viele dieser angesprochenen Gesichtspunkte (es gibt noch viel mehr) realisieren, werden wir – oft automatisch, weil die Zusammenhänge sich dann ändern, eine ganz beachtliche Veränderung unseres Wirtschaftssystems auslösen.

Rifkin2 identifiziert die handlungsleitende Effizienz als kritischen „Dreh- und Angelpunkt“ unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Aus meiner Sicht muss zur Effizienz noch die Gewinnmaximierung als Ausdruck der inhärenten Gier hinzugefügt werden, um den Gedanken einer effizienten Handlungsweise ins Schädliche zu übertreiben und damit unser System hinsichtlich seiner Anpassungsfähigkeit (Resilienz) nachhaltig zu schwächen.

„Der Übergang von der Effizienz zur Anpassungsfähigkeit geht mit umfassenden Umwälzungen in Wirtschaft und Gesellschaft einher,

  • etwa der Verschiebung von Produktivität zu Erneuerbarkeit, (als nachhaltiges Kriterium)
  • von Wachstum zu Wohlstand, (von einem engen Konzept zu einer Form der Vielfalt)
  • von Eigentum zu Zugang, (nicht der Besitz zählt, sondern die Nutzungsmöglichkeit)
  • von Märkten mit Käufern und Verkäufern zu Netzwerken mit Anbietern und Nutzern, (das schlichte Denken in Angebot und Nachfrage weicht einer komplexeren Kommunikation)
  • von linearen Prozessen zu kybernetischen Prozessen, (von simplen zu komplexen Systemen)
  • von vertikaler zu lateraler Integration, von zentralisierten zu dezentralen Wertschöpfungsketten, (von der Hierarchie zum Netzwerk)
  • von Unternehmenskonglomeraten zu agilen hoch technisierten kleinen und mittelgroßen Genossenschaften, verlinkt in variablen Gemeingütern,
  • vom geistigen Eigentum zu Open Source (kostenfreie Gemeingüter)
  • von Nullsummenspielen zu Netzwerkeffekten, (von Gewinnern u. Verlierern zu breiterer Teilhabe)
  • von der Globalisierung zur Glokalisierung, (von der Anonymität zur Regionalität mit deutlich begrenzten globalen Bezügen)
  • vom Konsumismus zu Ökosystemdienstleistungen, (‚Shoppen‘ ist dann keine Freizeitbeschäftigung mehr)
  • vom Bruttoinlandsprodukt zu Indikatoren der Lebensqualität, (siehe Wachstum vs. Wohlstand)
  • von negativen externen Effekten zur Kreislaufwirtschaft, (Müll ist keine Lösung)
  • von der Geopolitik zur Biosphärenpolitik.“3 (Erhaltung der Biosphäre als Lebensgrundlage)

Es geht nicht darum, Verhaltensweisen zu diskreditieren, es geht darum, festzustellen, dass bestehende und verbreitete Verhaltensweisen keinen Beitrag zur Problemlösung mehr darstellen. Insofern werden wir an einer Transformation unseres Gesellschafts- und Wirtschaftsleben nicht vorbeikommen. Je früher wir das verstehen, desto erträglicher werden die Konsequenzen sein.

„Früher dachte ich, die größten Umweltprobleme seien der Verlust der biologischen Vielfalt, der Zusammenbruch der Ökosysteme und der Klimawandel. Ich dachte, mit 30 Jahren guter Wissenschaft wären wir in der Lage, diese Probleme zu adressieren. Aber ich habe mich geirrt. Die größten Umweltprobleme sind Egoismus, Gier und Apathie … und um diese Probleme zu lösen, brauchen wir einen geistigen und kulturellen Wandel.“4

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1Diesen Begriff habe ich bei J. Rifkin (Das Zeitalter der Resilienz, 2022) erstmals gefunden.

2Rifkin, Jeremy, Das Zeitalter der Resilienz, 2022

3Jeremy Rifkin, 2022, S. 12 (In Klammern habe ich versucht, minimale Erläuterungen zu geben)4

4Gus Speth, in: Duncan Austin, “The Towering Problem of Externality-Denying Capitalism”, real-world economics review, issue no. 102, 18. December 2022, pp. 30-54, (eigene Übersetzung)

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Effizienz“ – ein Wesenszug unseres Systems?

Wenn das bestehende Wirtschaftssystem zur Diskussion steht, erscheint Effizienz als eine treffende Systemeigenschaft. Die Konnotation des Begriffs von Effizienz wird in aller Regel positiv aufgefasst. Wenn aber Jeremy Rifkin1 den Begriff der Effizienz aufgreift, hat er anderes im Sinn.

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Als Kritiker des Wirtschaftssystems greift er diesen das System prägenden Begriff heraus, um das Gespräch einzuleiten und seine misstrauischen Gesprächspartner positiv zu stimmen und für eine ganz andere Sichtweise Schritt für Schritt auf das System einzustimmen, ohne die Katze gleich aus dem Sack zu lassen. Mit Effizienz können sich vermutlich alle Beteiligten mehr oder weniger gut identifizieren.

Effizienz gilt m. E. als ein technischer Begriff, der weit davon entfernt ist, moralische oder ethische Gesichtspunkte zu vermitteln. Und trotzdem gelingt es Rifkin, Schritt für Schritt die Effizienz als eine Denk- und Handlungsweise darzustellen, die aus seiner Sicht die Grundlage für unsere komplizierte Weltlage darstellt, die unter dem Begriff der Klimakrise segelt.

Von Effizienz spricht man gewöhnlich, wenn es gelingt, aus vorhandenem Material bei optimalem Einsatz ein Produkt oder ein angestrebtes Produkt mit dem geringst möglichen Materialeinsatz herzustellen. Die Ökonomie übernimmt die Idee gleich am Anfang ihrer Entwicklung, indem sie die Effizienz in Geld bewertet. Ökonomische Effizienz liegt dann vor, wenn die Kosten (dargestellt als Menge x Preis) optimiert werden. In Wettbewerbssituationen reicht das Optimum oft nicht – es gilt dann, die Kosten systematisch zu minimieren.

Wenn unser Wirtschaftssystem dem Gedanken der Gewinnmaximierung unter der Voraussetzung folgt, dass Preise anonym am Markt festgelegt werden, so ist dieses ökonomische Verständnis von Effizienz eine der Voraussetzungen, die das System zum Erfolg geführt hat, weil Gewinnmaximierung bei einem gegebenen Marktpreis nur erzielt werden kann, wenn eine konsequente Kostenminimierung wahrgenommen wird.

Diesem Grundsatz wurden alle ergänzenden Maßnahmen untergeordnet. Alle produktiven Aktivitäten, bei denen wir in unserem nationalen System im Vergleich der globalen Möglichkeiten keine Kostenminimierung darstellen können, wurden skaliert (in Arbeitsschritte zerlegt) und jeweils dorthin verbracht, wo nach Auffassung der Unternehmen eine Chance besteht, die Idee der Kostenminimierung zu realisieren.

Das schien wunderbar zu klappen, solange man darauf vertraute, dass die Lieferketten zum beiderseitigen Nutzen funktionieren. Keiner wollte sich vorstellen, dass wir eine weltweite Pandemie bekommen könnten oder dass es in der Vorstellung des globalen Handelsnetzes Teilnehmer geben könnte, die die Vorstellung „Wandel durch Handel“ nicht teilen wollen. Das Auftreten elementarer und einseitiger Abhängigkeiten lassen die Naivität der globalen Vision unter Vernachlässigung von Machtgesichtspunkten deutlich zu Tage treten.

Diese Verengung der Perspektive auf die Effizienz als ein anderes Wort zur Beschreibung von wirtschaftlicher Gewinnmaximierung oder systematischer Verherrlichung der Gier hat uns dazu geführt, mit einer einseitigen (linearen) Zielverfolgung, blind für die Wirklichkeit, gewaltige externe Effekte aufzutürmen (ich nenne sie Kollateralschäden). Die Klimakrise ist u.a. ein Ergebnis dieses Verhaltens.

Rifkin2 zitiert dabei William Galston (Wall Street Journal, 10.3.2020): „Was wäre, wenn das unermüdliche Effizienzdenken, das seit Jahrzehnten das unternehmerische Denken beherrscht, das globale Wirtschaftssystem anfällig für Erschütterungen gemacht hat?“ und Rifkin fährt fort: „Galston legte dar, dass der Erfolg der Globalisierung darauf beruht, die Produktion von alltäglichen Gütern und Dienstleistungen in diejenigen Weltregionen zu verlagern, in denen sich durch niedrige Lohnkosten und nicht vorhandene Umweltschutzgesetze effiziente Skaleneffekte erzielen lassen.3

Um es klar zu sagen, Effizienz ist nicht des Teufels, aber wie so oft, führt die obsessive Anwendung von Effizienz zu einer grandiosen Einseitigkeit, die insbesondere in der Biosphäre zu Entwicklungen führt, die den grundlegenden Gesetzen unserer Biosphäre widersprechen. Dies wurde erstmals klar und unmissverständlich ausgesprochen, als Joseph Stieglitz als ehemaliger Chefökonom der Weltbank in den 90iger Jahren des letzten Jahrhunderts darauf hinwies, dass wir im Rahmen des Planeten Erde wirtschaften, dass also nicht die Wirtschaft das übergeordnete System repräsentiert, sondern der Biosphäre absolute Priorität zukommt. Dieses Statement löste große Aufregung unter den Wirtschaftsvertretern und den Wirtschaftswissenschaftlern aus, weil sie ihren uneingeschränkten politischen Einfluss zu Recht schwinden sahen. Stieglitz erhielt in diesem Zeitraum dann den ‚Nobelpreis‘ für Wirtschaftswissenschaften.

Aus den Ausführungen wird auch deutlich, dass wir durch die kontinuierliche Anwendung von Effizienz viel von unserer Widerstandskraft (Resilienz) gegenüber unvorhergesehenen Einflüssen verloren haben. Die Natur setzt dabei nicht auf Effektivität, sondern auf Redundanz bzw. Vielfältigkeit, weil dadurch die „Response Diverity“ (die Reaktionsdiversität) die Bandbreite möglicher Reaktionen erhöht.

„Biologische Systeme funktionieren ganz anders.Sie zeichnen sich nicht durch Effizienz aus, sondern durch Anpassungsfähigkeit. Und ihre Leistung wird nicht anhand der Produktivität gemessen, sondern anhand ihrer Erneuerbarkeit.“ 4 Die Anpassungsfähigkeit als auch die Erneuerbarkeit sind Teilaspekte der Resilienz. Verglichen mit dem Begriff der Effektivität ist Resilienz ein weitaus komplexerer Sachverhalt. Prozesse können effektiv sein. Das ist eine ziemlich eindimensionale Aussage. Resilienz beschreibt einen Zustand, der seine Eigenschaften aus vielen Quellen schöpft, u.a. aus der Anpassungsfähigkeit und der Erneuerbarkeit.

Es tut sich m.E. ein gewaltiger Dissens auf zwischen dem Verständnis der Welt im Rahmen der Ökonomie und der wirklichen Welt. Rifkin erklärt diese Diskrepanz als eine Folge der wissenschaftlichen Entwicklung. Es erinnert mich an die Diskussionen in den 1980iger Jahren, als Fritjof Capra seinen Bestseller „Wendezeit“ herausbrachte und deutlich machte, dass zwischen der Newton’schen Physik und der „modernen“ Physik eine Quantensprung stattgefunden hatte.

Das Problem Capras war die Erkenntnis, dass diesen Quantensprung der Physik viele andere Wissenschaftszweige noch nicht realisiert hatten. So auch die Ökonomie. Ihr Theorie-Gebäude entspricht noch dem Niveau der zeitlosen Newton’schen Physik. Die Mathematisierung der Ökonomie hat nichts wesentliches dazu beigetragen. Die Sätze der Thermodynamik sind ihr fremd. Entropie ist kein Begriff, der Platz in der Ökonomie finden könnte.

Die Biologie war lange im Grunde eine Klassifikationswissenschaft (Fliegenbeinzählen) und hat sich dann, so Rifkin, mit Ernst Haeckel zu einer Ökologie und m. E. mit Ludwig von Bertalanffy zu einer systemischen Form entwickelt und spielt damit heute in den Diskussionen eine wesentliche Rolle.

Nach meinem Eindruck von der Ökonomie verliert sie ihre Deutungshoheit, weil sie zu den anstehenden ökologisch-wirtschaftlichen Fragestellungen keinen Beitrag zu leisten vermag. Ihrem Theoriegebäude fehlen einfach die Werkzeuge, um in komplexen Situation mehr als nur rückwärtsgewandte Konzepte einbringen zu können.

1Rifkin, Jeremy, Das Zeitalter der Resilienz, Frankfurt, 2022

2Vgl. Rifkin, 2022, S. 24

3Rfkin, 2022, S. 25

4Rifkin, 2022, S. 29

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Was bestimmt die Vermögensverteilung?

Wer sich die Mühe macht, die Darstellungen der Verteilung des Nettovermögens in unserem Gemeinwesen mit Verstand zu lesen, muss sich m.E. ein paar grundsätzliche Fragen stellen: Ist die Verteilung des Vermögens „gottgegeben“? War sie schon immer so? Wie sieht die Verteilung in vergleichbaren Staaten aus? Welche Gründe werden für die bestehende Verteilung des Vermögens angeführt? Sind diese Gründe richtig oder wenigstens der Problemstellung angemessen? ….

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Hierzu kurz ein paar einfache technische Details: Die gegenwärtig verfügbare Vermögensverteilung stammt aus dem Jahr 2017. In jüngerer Zeit hat man festgestellt, dass die Vermögensangaben insbesondere am oberen Ende viel höher sein müssten und auch viel schneller zunehmen als geschätzt wurde. Seitdem die Vermögensteuer in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ausgesetzt wurde, ist man auf Schätzungen, Hochrechnungen und freiwillige Auskünfte angewiesen.

Die Bevölkerung des Gemeinwesens (also rd. 83 Mio. Einwohner abzüglich 13 Mio. Einwohner unter 17 Jahren) wird in zehn Dezile aufgeteilt. Dabei werden gedanklich die Einwohner nach ihrem steigenden Nettovermögen wie Zinnsoldaten aufgereiht und dann in zehn einwohnermäßig gleich große Dezile verteilt. In jedem Dezil ist das jeweilig festgestellte Vermögen von rd. 7 Mio. Bürgern erfasst. In den meisten Darstellungen wird pro Dezil ein Durchschnittsvermögen angegeben. Das in dem Dezil erfasste gesamte Nettovermögen kann durch Multiplikation des angegebenen Durchschnittswertes mit der Zahl der dort jeweils erfassten 7 Mio. Bürger selbst ermittelt werden.

Was heißt das konkret?[1] Das erste Dezil endet im Durchschnitt mit Schulden von 12.765 Euro, das zweite Dezil weist im Durchschnitt kein Vermögen (= 0) auf, das dritte Dezil kommt auf 1.804 Euro Vermögen – die fünf ersten Dezile weisen zusammen ein Vermögen von 1,3 Prozent bei rd. 35 Mio. Einwohner aus. Das oberste, das zehnte Dezil erfasst im Durchschnitt ein Vermögen von 609.933 Euro und repräsentiert allein 56,1 Prozent des Gesamtvermögens in Deutschland. Die meisten Leser stürzen sich vermutlich auf die Vermögensangabe des zehnten Dezils und greifen empört anhand des Offensichtlichen das massive Ungleichgewicht der Vermögensverteilung an. Die Zahlen des zehnten Dezils sind dabei m.E. aber die wackeligsten, möglicherweise sind sie mangels valider Information und aufgrund großer medialer Vorsicht viel zu niedrig angesetzt.

Den Hammer sehe ich persönlich eher in der Tatsache, dass über 35 Millionen Einwohner der Dezile 1 bis 5 (= 50%) in diesem Land nur 1,3 Prozent des Vermögens auf sich vereinigen können. Und die Schere geht ständig weiter auf, d.h. dass sich die ersten fünf Dezile nicht verändern, aber die oberen Dezile (5 – 9) und insbesondere das oberste Dezil (10) rasant zu nehmen. Da wir davon ausgehen können, dass wir unter keiner ungewöhnlich hohen Arbeitslosigkeit leiden, stellt sich doch die Frage, was die Gründe für diese Entwicklung sind oder sein könnten. Es gibt mit Sicherheit eine ganze Reihe von strukturellen Gründen, die angeführt werden können; wie z.B. der Niedriglohnsektor, der eingeführt wurde, um die Arbeitslosenstatistik zu schönen und gleichzeitig das Potenzial zu erhöhen, Personal für „einfache“, körperlich anstrengende  Arbeiten zu gewinnen. Weiter müssen wir dem vermögenslosen Bevölkerungsteil (Dezil 1-5) auch Teile der 13 Mio. Jugendlichen zuschlagen, die Angabe gemäß in der Statistik gar nicht erfasst sind, so dass deutlich wird, dass der eher vermögenslose Teil unserer Bürger die 50% recht deutlich übersteigt. Politisch betrachtet repräsentiert der Bevölkerungsanteil ein Volumen, das Einfluss gewinnen könnte, jedoch durch den lebensnotwendigen Broterwerb so in Atem und unter Stress gehalten wird, dass die Politik diese Entwicklung glaubt vernachlässigen zu können.

War das immer schon so? Mit leichten Schwankungen ist die Vermögensverteilung seit Jahrzehnten unverändert. Ähnliches gilt für Österreich und auch mit leichten Schwankungen für die gesamte Europäische Union. Damit ist die Vermögensungleichheit kein typisches Problem der deutschen Strukturen. Es könnte also sein, dass dieses Phänomen eine Folge des etablierten Wirtschaftssystems ist, das in der westlichen Welt zu vergleichbaren Wirkungen führt.

Dabei erscheint es sinnvoll, sich die Frage zu stellen, warum rd. 50% der Bevölkerung der westlichen Welt von den Erträgen des Systems tendenziell ausgeschlossen ist. Bisher wurde von konservativer Seite bevorzugt der Gedanke des Leistungsprinzip ins Feld geführt: diesen 50% mangle es eben an der notwendigen Leistungsbereitschaft. Dieses Argument könnte man in Erwägung ziehen, wenn der Prozentsatz bei einem Zehntel (= 5%) und darunter läge, aber die Vorstellung, dass sich in einem prosperierenden Teil der westlichen Welt 50% der Bevölkerung als „Underperformer“ abgetan werden können, sprengt jede Vernunft. Also sollte man sich fragen, ob hier nicht andere Gründe eine Rolle spielen.

Immerhin können wir darauf zurückblicken, dass wir seit etwa zehntausend Jahren so etwas wie ein ‚Wirtschaftssystem‘ betreiben. Unsere heutige Sichtweise auf das Wirtschaften ist eine Entwicklung der letzten 250 Jahre. Unter der Führung der technologischen Entwicklung gepaart mit den Gedanken einer kapitalorientierten Wirtschaftsweise haben sich normative Grundzüge unseres heutigen Wirtschaftssystems wie Wachstum, Effizienz, Wettbewerb und Individualismus in Form des Egoismus als handlungsleitend durchgesetzt.

Was hat sich gegenüber der Zeit davor verändert? Wir können dabei auf Ausführungen von Aristoteles[2] zurückgreifen, der – anders als in unserem gegenwärtigen Wirtschaftssystem üblich – das Wirtschaftsgeschehen zu seiner Zeit (vor ca. 2.500 Jahren) beschreibt und interpretiert. Andri W. Stahel[3] von der Universität Barcelona hat auf dieser Grundlage einige interessante Ideen zusammengefasst. Für unser Thema hier kann man Aristoteles m.E. dahingehend zusammenfassen, dass er das Wirtschaften zur Zeit Athens auf zwei grundsätzlich verschiedene Formen reduziert: einmal geht es um das kluge Haushalten und zum anderen um die Chrematistik. Stahel führt diese unterschiedlichen Ansatzpunkte des Wirtschaftens detailliert aus, wobei er dabei besonders darauf hinweist, dass Aristoteles sich weniger mit Tauschwerten als mit Gebrauchswerten befasst hat.

Konkret bedeutet das, dass der Wert eines Gutes einmal danach bemessen werden kann, wieviel Gewinn sich durch den Kauf und künftigen Verkauf erzielen lässt (Tauschwertbetrachtung). Im anderen Fall geht es um den Gebrauchswert, den das Gut dem Erwerber vermitteln kann[4]. Diese etwas kompliziert anmutende Beschreibung lässt sich vereinfachend als ein Wirtschaften im Sinne von „Versorgung“ (Gebrauchswert) und als ein Wirtschaften im Sinne von Handel mit systematischer Gewinnerzielungsabsicht (auf der Basis von Tauschwerten) darstellen. Die „Versorgung“ basiert auf einer Vorstellung von maßvoller Lebenskunst mit dem Schwerpunkt eines „Guten Lebens“ und unterliegt natürlichen Grenzen, die das ‚menschliche Maß‘ zieht. Der Handel dagegen ist die wesentliche Grundlage der Chrematistik, der „Kunst des Reichwerdens“ oder wie Stahel es profaner ausdrückt: Es ist die Kunst des Geldmachens! (the art of money-making)[5]. Diese Unterscheidung existiert auch heute noch unter anderen Namen: Das eine nennen wir heute „Realwirtschaft“ und die Chrematistik wird heute hauptsächlich im Rahmen des „Finanzmarktes“ wahrgenommen.

Zwar erscheint der Finanzmarkt vielen als grenzenlos. Aber auch das „Geldmachen“ hat letztlich seine Grenzen, denn die wundersame Geldvermehrung verlangt als unerbittliche Gegenleistung die Übernahme des Risikos, dass das Vertrauen in das im Grunde „wertlose“ FIAT-Geld[6] verloren gehen könnte. Nur ist die Frage, wer trägt am Ende dieses reale Risiko des Finanzmarktes – die Akteure der Chrematistik oder der „kleine Mann“, der es mit seinen Steuergroschen über die Jahre wieder richten soll? Wenn die Blase platzt, muss die Finanzwirtschaft gewöhnlich – weil angeblich „too big to fail“ – durch Aufnahme eines riesigen Schuldenberges durch die Staatsregierungen oder die Zentralbanken („what ever it takes“, – Draghi 2008) gerettet werden, um ein größeres Chaos zu verhindern. Da diese Schulden zumindest vorerst nicht getilgt werden (können), verbleibt das damit geschöpfte Geld im Umlauf und befeuert den Beginn der nächsten Blase des Finanzmarktes.

Aus der Darstellung kann man schließen, dass (mindestens) zwei Ausprägungen gibt von dem, was wir „Wirtschaften“ nennen: Einmal gibt es eine Realwirtschaft, deren Schwerpunktziel in der Versorgung mit Gebrauchswerten und notwendigen Dienstleistungen liegt. Und es gibt offensichtlich eine Finanzwirtschaft, die sich zu einem geringen Teil um die ungeliebte (weil gering verzinsliche und personalintensive) Finanzierung der Realwirtschaft kümmert und im Wesentlichen den Finanzmarkt als ihr eigentliches hoch rentables Betätigungsfeld versteht, das die wesentliche Grundlage der aristotelischen Chrematistik darstellt.

Aber wie hängen diese beiden Seiten des Wirtschaftens zusammen? In die Realwirtschaft steigt man üblicherweise ein, indem man seine Arbeitskraft erfolgreich verkauft. Mit dem Erfolg gewinnt man im ersten Schritt die Möglichkeit Rücklagen und Kreditwürdigkeit zu bilden. Erbschaften verkürzen diesen Weg. Mit zunehmenden Rücklagen eröffnet sich einigen Interessierten der Finanzmarkt und bietet die Möglichkeit, neben dem Verkauf seiner Arbeitskraft ein weitgehend leistungsloses Einkommen zu generieren. Es ist deshalb leistungslos, weil das eingesetzte Geld ohne nennenswerten eigenen Leistungsbeitrag bei überschaubarem Risiko seinerseits Geld (Rendite) produziert. So läuft die Theorie.

In der Praxis muss aber der Verkauf der Arbeitskraft nach Abzug der persönlichen Aufwendungen die Möglichkeit bieten, ausreichende Rücklagen zu bilden. Wenn das nicht gelingt und auch das Erben keine Zuflüsse generiert, ist der Weg zu einem leistungslosen Einkommen m. E. in den meisten Fällen verschlossen. Damit lässt sich ein (so scheint es mir) beachtlicher Teil der erheblich schiefen Verteilung von Vermögen erklären. Ab einer bestimmten Höhe des Vermögens verliert auch das Einkommen aus dem Verkauf von Arbeitskraft seine Bedeutung für den Vermögensaufbau. Vermögen kann dann zum Selbstläufer werden. Diese Entwicklung wird auch dadurch unterstützt, dass wir das Arbeitseinkommen, insbesondere in den oberen Einkommensregionen ordentlich besteuern, aber für das Einkommen aus Finanzvermögen ist nur eine Pauschalbesteuerung auf relativ niedrigem Niveau vorgesehen.

Wenn sich das so „einfach“ darstellt, warum gibt es dann noch eine Realwirtschaft? Wir als auch die Finanzwirtschaft leben von der Realwirtschaft, sie stellt unsere tägliche Versorgung sicher. Aber um eine Versorgung darstellen zu können, benötigt auch die Realwirtschaft finanzielle Mittel, die wiederum im Rahmen der Finanzwirtschaft bereitgestellt werden. Das ist der normale Zusammenhang im täglichen Geschäft. Chrematistisch wird die Finanzwirtschaft in dem Moment, indem sie Möglichkeiten bereitstellt, spekulativ (ohne strikt realwirtschaftliche Geschäftsgrundlage) und ohne nennenswerten persönlichen Arbeitseinsatz Geld aus Geld zu machen. Damit entstehen in immer kürzeren Zeiträumen unseriöse „Blasen“, die sowohl die Realwirtschaft als auch die Finanzwirtschaft in Gefahr bringen zu kollabieren. Man darf sich nicht der Vorstellung hingeben, dass mit der Realwirtschaft nicht auch ein Vermögensaufbau möglich ist, aber er erscheint mühsamer und arbeitsintensiver, bildet dafür aber nur selten „Blasen“. Idealerweise kombinieren jene, die es sich leisten können, den realen Vermögensaufbau zusätzlich durch ein vorsichtiges Ausnutzen der Möglichkeiten der Chrematistik.

Ein Gesichtspunkt bleibt oft unbeachtet: Wenn es um Vermögen geht, ist die Erziehung und die Kenntnis der Zusammenhänge von großer Bedeutung. Hier versagt m.E. unser Bildungssystem. Erst wenn ich in groben Zügen verstanden habe, wie Wirtschaften läuft und was Wirtschaften für meine eigene Vermögensbildung beitragen kann, bin ich in der Lage, mir frühzeitig Gedanken darüber zu machen, welchen Stellenwert ich dem Aufbau von Vermögen geben möchte.

Wir sollten es tunlichst vermeiden, alle zu Chrematistikern zu machen, aber wir alle müssen wissen, was das für den einzelnen bedeutet. Aus meiner persönlichen Beobachtung heraus gibt es Menschen, die werden mit einem chrematistischen „Gen“ geboren und bauen dieses oft gezielt aus. Ich nenne sie gerne die „Dealer & Wheeler“. Andere Menschen haben einen komplett anderen Fokus, z.B. viele Menschen, die sich für soziale Berufe entscheiden, sich für andere Menschen einsetzen und dort große Zustimmung erfahren, können mit einer chrematistischen Lebenseinstellung gar nichts anfangen. Das ist nicht ihr Ding und das ist zu tolerieren!

Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir in einer Umgebung leben und arbeiten, die von einer hohen Dominanz wirtschaftlichen und chrematistischen Denkens geprägt ist. Die Dominanz ist so heftig, dass wir auch erkennen müssen, dass dieses Denken uns künftig in ernste ökologische Schwierigkeiten bringt. Dabei ist nicht das grundsätzlich wirtschaftliche Denken das Problem. Wir wirtschaften historisch gesehen seit etwa zehntausend Jahren und daran kann nichts grundsätzlich Falsches sein. Aber wir haben zunehmend Wirtschaften mit Chrematistik verwechselt und dabei fallen insbesondere jene hinten runter, denen das „chrematistische Gen“ (das Geld machen um seiner selbst) nicht vermittelbar ist.

Wir stehen an der Wende zu einem anderen Verständnis von Wirtschaften und werden uns wohl mehr auf die historische Entwicklung berufen müssen als auf unser eher chrematistisch dominiertes Verhalten, das wir in den letzten 250 Jahren entwickelt haben.


[1]  Bilder in den Text einzufügen, funktioniert hier technisch leider nicht. Deshalb der Hinweis auf eine Darstellung im Internet:  https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61781/vermoegensverteilung/  Sie ist auch Grundlage der weiteren Ausführungen.

[2]  Aristoteles, Hauptwerke, S. 285 ff. (Politik) , Taschenbuchausgabe Stuttgart 1977

[3] Stahel, A. W., Oiconomics: towards a new paradigm in economics, Aus: Real-World Economics Review, 2021, No. 96, S. 234 ff.

[4] Stahel, A. W.; Why the rich getting richer while the poor stay poor? Aus: Real-World Economics, 2020, No. 93, S. 2ff.

[5] Stahel, A. W., Oiconomics…, S. 235

[6] Unter FIAT-Geld versteht man eine Funktion des Geldes, dessen Wert ausschließlich auf dem Vertrauen der wechselseitigen Prozessbeteiligten beruht. Eine Bindung an Edelmetall oder ähnliche Garantien gibt es seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht mehr.

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