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Noch eine Perspektive (III)

Die Tatsache, dass wir uns in einem Umbruch von Gesellschaft und Wirtschaft verfangen haben, sollte den meisten Menschen klar geworden sein. Wie wir das Problem lösen sollen oder wollen, ist angesichts der Komplexität der Zusammenhänge unklar.

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Der untauglichste Lösungsweg erscheint mir jener, die Maßnahmen weiter zu verstärken, die uns die Probleme geschaffen haben, in der Erwartung, dass diese Haltung eine Lösungsalternative böte.

Wir können die Gegenwart nicht verändern, aber wir können unsere Perspektiven verändern, wie wir mit dieser Realität umgehen wollen, um neue oder andere Lösungswege zu finden, die wir dann umzusetzen können.

Der thailändische Wirtschaftsfachmann P. A. Payutto hat 1998 auf einem Weltkongress folgende zusammenfassenden Ausführungen gemacht (eigene Übersetzung):

„Im Großen und Ganzen beruhen die Überzeugungen, die die moderne menschliche Zivilisation beherrscht haben, auf drei Wahrnehmungen:

1. Die Auffassung, dass der Mensch von der Natur getrennt ist und (der Mensch) die Natur nach seinen Wünschen kontrollieren, erobern oder manipulieren muss.

2. die Auffassung, dass die Mitmenschen keine „Mitmenschen“ sind; diese Auffassung konzentriert sich auf die Unterschiede zwischen den Menschen und nicht auf ihre Gemeinsamkeiten.

3. Die Auffassung, dass Glück nur durch Überfluss an materiellem Besitz gefunden werden kann.

Die erste Erkenntnis ist eine Haltung gegenüber der Natur, die zweite eine Haltung gegenüber den Mitmenschen und die dritte ein Verständnis über die Zielsetzung des Lebens1.“

Deutlich geht daraus hervor, dass die Probleme nach seiner Ansicht nicht aus der „ökonomischen Technik“ stammen, sondern sich ihre Herkunft aus Werten ableiten, die wir gemeinhin in der Ökonomie als nicht existent betrachten, weil in den Augen vieler Ökonomen die „Technik“ wertfrei sei. Das stimmt leider nicht.

Wir bewegen uns auf der Ebene der Motive, die unser Handeln bestimmen und über die wir uns regelmäßig keine Gedanken mehr machen. Wir handeln i.d.R. aus der Gewohnheit heraus. Wenn wir aber aus einer als Sackgasse erkannten Situation herauskommen wollen, müssen wir gerade diese Gewohnheiten hinterfragen. Wir müssen die (kognitiven) Motive unseres Handelns in Frage stellen.

Wenn wir in unseren westlichen Breiten bleiben wollen, so hat sich u.a. Christian Kreiß jüngst auf die Suche nach dem ‚Mephisto‘ in der Wirtschaft gemacht2. Er macht sieben ‚Axiome‘ in den Wirtschaftswissenschaften3 aus, die deutlich machen, wie stark ethische Gesichtspunkte durch die Ökonomie berührt werden. Da er die aktuellen ethischen Verhaltensweisen in der Wirtschaft eher negativ sieht, spricht er vom Mephisto-Prinzip. Dabei ist Mephisto die Verkörperung einer Idee des „Bösen“. „ Deshalb ist der allererste und wichtigste Ansatz von Mephisto, die Theorien, das Denken auf eine unheilvolle Bahn zu lenken. Angewendet auf unser Wirtschaftsleben heißt das, es müssen möglichst falsche und schädliche Grundannahmen oder Axiome eingeführt werden, die aber auf den ersten Blick plausibel, gut und vernünftig erscheinen.“4

J. W. Goethe legt dem Mephisto einen Satz in den Mund, der die Haltung des Mephisto beschreibt: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Er macht diese oft zitierte Aussage gegenüber Faust, um sein Handeln auf den Punkt zu bringen, aber ohne sich der Mühe zu unterziehen, diesen Widerspruch zu begründen. Wie schafft man das „Wunder“, das „Böse“ zu betreiben und das „Gute“ zu schaffen?. An anderer Stelle wird Mephisto deutlicher: „So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, mein eigentliches Element.“

Nun fragt man sich, was diese „alten“, aber grandios formulierten Sprüche der Literatur mit der modernen Ökonomie zu tun haben könnten? Adam Smith, der Vater der modernen Ökonomie, gibt dafür ein nahezu einmaliges Beispiel: Er beschreibt die „unsichtbare Hand“ der Ökonomie in der Weise, dass die Marktteilnehmer alle hochgradig egoistisch handeln sollen, um dadurch – so Smith – zum Wohle aller (nicht nur der Marktteilnehmer) zu wirken. Wie das konkret geschehen soll, bleibt das Geheimnis des Adam Smith. Ich hoffe, der Leser kann die Parallelität zu Mephistos Aussagen erkennen.5 Hier geschehen säkulare „Wunder“, die wir nur glauben dürfen, aber bitte nicht hinterfragen. Und das besondere bei diesen säkularen Wundern ist, dass sie das möglicherweise schlechte Gewissen des Ökonomen bei ihrer wenig gesellschaftsfähigen Werthaltung massiv entlasten: Je mehr Egoismus zur Anwendung kommt, desto mehr Gemeinwohl entsteht! Toll – das ist wie die wundersame Brotvermehrung, allein mir fehlt der Glaube!!

Kreiß führt weiter aus6: Mephisto erreicht „seine Ziele am besten, wenn er unehrlich, lügnerisch vorgeht, wenn zunächst einmal die Begriffe verwirrt werden, um uns Menschen den Kompass zu nehmen. (…) Wie wir heute denken, so wird in einer oder mehreren Generationen die Welt aussehen.“

Ich darf in Erinnerung bringen, dass die Mehrzahl der Verhaltensweisen, die wir heute im Rahmen der Ökonomie anwenden, schon zu Zeiten der alten Griechen als nicht gesellschaftsfähig verpönt waren. Die christliche Kirche hat während ihrer unumschränkten Herrschaft im Mittelalter diese verpönten Verhaltensweisen im Rahmen der sieben Todsünden7 als Verhaltensschranken aufgegriffen, indem diese „Sünden“ angeblich den Weg zum ewigen Heil als Ziel der Religion versperrten. Und dann setzt sich die Idee der Aufklärung mit der Folge durch, dass die Macht der Kirche berechtigt in Frage gestellt wird, aber die führenden Köpfe der damaligen Zeit übersahen, für das tägliche Leben, den Verhaltenskodex der Kirche durch vergleichbare, aber säkulare Regeln zu ersetzen. Dieses Vakuum schuf möglicherweise Platz für die ökonomische Sichtweise. Das Verhalten wurde Schritt für Schritt egoistisch am persönlichen Nutzen orientiert, weil der religiöse Druck der Vergangenheit sich auflöste und sich keine vergleichbaren säkularen Normen durchsetzen ließen.

Ein Großteil der Bevölkerung folgte jedoch unverändert den „alten“ (religiös motivierten) Verhaltensregeln. Wir können diese Entwicklung daran erkennen, dass z.B. der Begriff des „ehrbaren Kaufmanns8“ erst in den Nachkriegsjahren zum ersten Weltkrieg aus der „Mode“ kam. Der ehrbare Kaufmann verband ein Nützlichkeitsdenken mit dem, was man damals noch mit Thymos (Stolz, Ehre) verband.

Wir, die westlichen Vertreter der Menschheit, vertreten insbesondere auf Konferenzen hohe ethische Ziele und müssen leider oft feststellen, dass unser tägliches Handeln nicht durch diesen hohen ethischen Anspruch geprägt ist; in der Praxis lassen wir uns gewissermaßen durch deutlich banalere Prinzipien leiten, die im Wesentlichen einem reduzierten Utilitarismus des ökonomischen Systems entnommen sind. Kreiß macht zu den identifizierten Axiomen detaillierte Ausführungen9, die ich hier aus Platzgründen nicht wiederholen kann. Sie erscheinen mir umfassend und beachtenswert.

Wir betrachten die Ökonomie regelmäßig aus einer „technischen“ Perspektive, vergleichen die Ökonomie mit einer komplexen Maschine, die wir für unsere Zwecke verwenden. Ob der Nutzen und seine Folgen ethisch vertretbar sind, wird nur in ganz krassen Fällen als ein Einwand akzeptiert. Es ist einfacher, ein Projekt wegen mangelnder „Nützlichkeit“ in Frage zustellen denn aus ethischen Erwägungen.

Man kann zu dem Schluss kommen, dass das Individuum als solches in dem Getriebe der Ökonomie-‚Maschine‘ nur eine dienende Rolle spielt. Statt des komplizierten menschlichen Handelns wurden in der ‚Maschine‘ Rollen oder Stereotypen definiert, deren Handlungsweisen weitgehend vorstrukturiert und auf die Mehrung von Geld im Rahmen kurzfristige Rentabilität programmiert sind. Das ganze System oder die Institution der Ökonomie laufen über dieses stellvertretende Rollen- und/oder Stereotypenverständnis. Die an dem System beteiligten Menschen übernehmen temporär die fixierten Rollen und geben dem System eine menschliche Erscheinung, ohne aber wirklich menschliches Verhalten oder humane Werte zur Geltung bringen zu können. Wer sich dem Rollenverständnis verweigert, hat ein massives Problem.

Die Rollen sind viel zu dominant auf das alleinige Nutzenkalkül fixiert. Und Abweichungen werden sanktioniert. Und nur wenige Menschen haben das Glück, in dem System eine Rolle zu finden, die sie aus innerer Überzeugung und mit einem Gefühl der Zufriedenheit ausfüllen können. Deshalb verstehen wir Arbeit in unserem System primär auch als eine Last, die durch ein Einkommen kompensiert werden muss.

Wir glauben immer noch, dass Technik wertfrei sei. Sie treibt uns in Abhängigkeiten, die wir auf den ersten Blick gar nicht wahrnehmen. Da uns die Technik u.a. auch ein angenehmes Leben verspricht, kommt zum intellektuellen Anspruch auch noch die Bequemlichkeit. Ist die intellektuellen Verarbeitung schon schwierig, wird sie durch die Bequemlichkeit zusätzlich belastet. Günter Anders hat diese Technikkritik ausgearbeitet und Ivan Illich hat deutlich gemacht, wie ideologielastig Technik sein kann und wie schwer es ist, diese Abhängigkeit zu erkennen und auch zu durchbrechen. (vgl. mein Beitrag vom 31.8.2023: Noch ein Aspekt eines Perspektivwechsels)
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1Payutto, P. A., Buddhist Solutions for the twenty-first century, Bangkok, 1998, p. 66

2Kreiß, Christian, Das Mephisto-Prinzip in der Wirtschaft, Hamburg 2019

3Unversättlichkeit, Zinseszins, Eigentum, Gewinnmaximierung, homo oeconomicus, Konkurrenz, das Märchen von der unsichtbare Hand (vgl. Kreiß, aa.O., 2019, S. 13ff.)

4Kreiß, Ch. , a.a.O., S. 13

5Als Adam Smith (1723-1790) sein Werk schrieb, war Goethe vermutlich zehn Jahre alt.

6Kreiß, Ch., S. 13

7Zu Erinnerung: Überheblichkeit, Habgier, Ausschweifung, Zorn, Maßlosigkeit, Neid, Nachlässigkeit.

8Noch in den 1920er Jahren gab es noch ein dickes Handbuch mit dem Titel: Der ehrbare Kaufmann.

9Kreiß, Ch. a.a.O, S. 14 ff und S. 38 ff.

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Noch ein Aspekt eines Perspektivwechsels

Unser Vorstellungen über die Entwicklung von Wirtschaftssystemen folgen einer scheinbar einfachen Linie. Wir meinen, es beginnt alles mit einer Subsistenzwirtschaft (jeder macht alles). Besonders talentierte Subsistenzler waren auf unterschiedlichen Gebieten technisch versierter als andere. Kooperation führte dazu, dass man gemeinsam größere Projekte (Hausbau, Rodungen, Anbau von Pflanzen, Erfahrungsaustausch) in Angriff nahm. Kooperation erfolgte unentgeltlich und auf Gegenseitigkeit.

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Die besonderen Fähigkeiten – so wird angenommen – differenzierten die Gesellschaft schrittweise mit dem Ergebnis, dass über einen langen Zeitraum sich schwerpunktmäßig eine Handwerks- und Landwirtschaftsstruktur entwickelte. Diese Struktur war immer noch in der Fläche zu einem großen Anteil auf Subsistenz gegründet. Üblicherweise wird dann unterstellt, dass Tauschwirtschaft betrieben wurde, weil wir uns nur schwer vorstellen können, dass Subsistenzler keinen Überschuss erwirtschaftet haben, um damit regional Tauschgeschäfte zu betreiben. Wir denken dabei an die Thünen’schen Kreise. Geld spielt zu dieser Zeit noch keine Rolle.

Es bildeten sich Agglomerationen (Dörfer, kleine Städte), vielfach als Schutz- und Trutz-Gemeinschaften. Wir müssen uns aber auch klarmachen, dass wir von einer Bevölkerungsdichte ausgehen können, die jederzeit Raum bot, sich aus der einen bestehenden Gemeinschaft zurückzuziehen und fortzuziehen, um ‚Pionier‘ in der Erschließung neuer Regionen zu werden. Das Land stand anfänglich jedem offen, solange man nicht in Leibeigenschaft (durch Schuld- oder Lehensverhältnisse) abhängig und gebunden war.

Auf diesem alten Bild – so mein Eindruck – fußt die ökonomische Erzählung (das Narrativ) der Ökonomie. Und das lernen wir alle, indem uns vermittelt wird, dass der ‚Bedarf‘ im Sinne einer notwendiger Versorgung die jeweilige Produktion auslöst. Das ist die klassische Wahrnehmung von einer einfachen nachfrageorientierten Wirtschaft. Hier entstand vermutlich auch die Formulierung, „der Kunde sei König“ und nach dieser uralt Erzählung wird der Kunde heute noch dafür verantwortlich gemacht, was und wie mit welchen Nebenwirkungen produziert wird. Der Produzent gilt dabei nur als abhängiger, willfähriger ‚Erfüllungsgehilfe‘ von Kundenwünschen.

Aber das Bild, das mit dieser Erzählung vermittelt wird, stimmt schon lange nicht mehr. Mit der Entwicklung der Technologie in Kombination mit dem Kapitalismus haben sich schrittweise Skaleneffekte durch Massenproduktion und zunehmender Automation erzielen lassen. Der Auslöser von Produktion ist schon lange nicht mehr der Kunde, der etwas ‚braucht‘, sondern es ist die Notwendigkeit des Produzenten ‚Durchsatz‘ (Konsumption) für seine Produktionsmittel zu schaffen und zu sichern, um die angestrebten Skaleneffekte auch sinnvoll nutzen zu können.

Seit dieser Entwicklung gibt es keine nennenswerte nachfrageorientierte Wirtschaft mehr, weil die Struktur des Systems durch die angewandte Technologie komplett verändert wurde. Wir haben es jetzt mit einer angebotsorientierten Wirtschaftsweise zu tun und wie die funktioniert, hat Günther Anders1 in den 1980er Jahren in einem kurzen bissigen Essay durchleuchtet:

Der Mechanismus unseres Industriekosmos besteht nun aus der (durch Produkte, und zwar Produktionsmittel, bewerkstelligten) Herstellung von Produkten, die ihrerseits als Produktionsmittel auf die Herstellung von Produkten abzielen, die ihrerseits …u.s.f. – bis eine jeweils letzte Maschine Finalprodukte auswirft, die keine Produktionsmittel mehr sind, sondern Konsummittel, d.h. solche , die durch ihr Gebrauchtwerden verbraucht werden wollen, wie Brote oder Granaten.Nur am Anfang dieser Produktionsketten (als Erfinder oder Handwerker) und an deren Ende (als Verbraucher) stehen Menschen. Aber selbst von diesen Finalprodukten zu behaupten, dass sie ausschließlich Produkte, keine Produktionsmittel seien, ist unerlaubt. Denn auch diese letzten sollen ja – die Iteration kennt keine Unterbrechung – durch ihr Verbrauchtwerden wiederum etwas produzieren: nämlich Situationen, in denen eine, wiederum maschinelle Erzeugung weiterer Produkte erforderlich wird. In solchen Fällen sind es nicht eigentlich die Produkte selbst, die als Produktionsmittel figurieren, sondern unsere Konsumakte – eine wahrhaft beschämende Tatsache, da sich nun ja unsere, der Menschen, Rolle darauf beschränkt, durch den Produktekonsum (für den wir überdies noch bezahlen müssen) dafür zu sorgen, dass die Produktion in Gang bleibe.

Nicht: „Unser täglich Brot gib uns heute“, heißt es in einem mollussichen Aphorismus, würden wir, wenn wir ehrlich wären, heute beten, sondern: „Unseren täglichen Hunger gib uns heute“ – damit die Brotfabrikation täglich gesichert bleibe. Sofern das heute fällige Gebet überhaupt noch aus unserem menschlichen Munde kommt, da es ja eigentlich die Produkte sind, die beten. Nämlich: Unsere täglichen Esser gib uns heute.“

In der Tat trifft dieser molussische Aphorismus auf 99% aller Produkte durchaus zu. Denn die meisten Produkte – selbst kaum artifiziell zu nennende, wie Butter, die sich zu Butterbergen auftürmt und ihre Bekömmlichkeit beteuert – hungern nach Konsumiertwerden, da sie nicht ohne weiteres mit einem ihnen entgegenkommenden menschlichen Hunger rechnen können oder dürfen. Damit sie auf ihre Rechnung kommen, das heißt: damit die Produktion im Gang bleibe, muss ein weiteres Produkt (eines zweiten Grades) erzeugt und zwischen Produkt und Mensch gezwängt werden, und dieses Produkt heißt „Bedarf“. Aus unserer Perspektive formuliert: Um Produkte konsumieren zu können, habe wir es nötig, diese zu benötigen. Da uns aber dieses Benötigen nicht (wie Hunger) in den Schoß fällt, müssen wir es produzieren, und zwar mittels einer eigenen Industrie, mittels eigener zu diesem Zwecke maschinell produzierter Produktionsmittel, die nun Produkte dritten Grades sind. Diese Industrie, die den Hunger der Waren nach Konsumiertwerden und unseren Hunger nach diesen auf gleich bringen soll, heißt „Werbung“. Man produziert also Werbemittel, um das Bedürfnis nach Produkten, die unser bedürfen, zu produzieren; damit wir, diese Produkte liquidierend, den Weitergang der Produktion dieser Produkte zu gewährleisten.

Die Darstellung von Günther Anders unterstellt niemandem Böswilligkeit oder falsch verstandene Gier. Das Vorgehen ist technologie- und effizienzbezogen durchaus rational und auch nachvollziehbar. Deshalb ist dieser Zusammenhang so schwer zu durchschauen und es ist noch schwerer, hierfür eine Maßnahme zur Veränderung auszulösen, der diesen „rationalen Irrsinn“ aufhebt ohne das System zu zerstören.

Dabei verstehen wir uns als unabhängige Menschen und dienen dabei einem „System“ ohne den Sinn zu hinterfragen, weil das System aus sich heraus eine technische Rationalität entwickelt, der wir blind und kritiklos wie die Lemminge folgen und dabei unsere viel und oft beschworene Freiheit ohne Widerspruch aufgeben.
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1 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, 1980, S. 15 f.

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Ist ein wirtschaftlicher Perspektivwechsel denkbar?

Wir praktizieren kaum 250 Jahre Kapitalismus und müssen feststellen, dass dieses ‚System‘ (schon) an seine buchstäblichen Grenzen stößt. Manche suchen ihr Heil darin, dass sie die Erkenntnis über die Grenzen verdrängen, oder indem sie auf eine Geschichte der besseren Tage zurückblicken, die es nie gab. Wir werden den Kapitalismus in seiner Grundstruktur nicht los und es ist m.E. müßig, sich mit der Veränderung einzelner Institutionen zu befassen, solange sich die treibende Grundlage nicht ändert. In einem anderen Zusammenhang würde man sagen, „der Fisch stinkt vom Kopf her“.

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Ausgangspunkt bzw. Motivation für wirtschaftlichen Handels ist immer eine Form von Ethik. Dabei dürfen wir uns nicht bei der philosophisch ausformulierten Ethik aufhalten, sondern müssen uns jenen ethischen Fragen zuwenden, die unser tägliches Handeln leiten, sei es wirtschaftlicher oder privater Natur. Diese Gebrauchs-Ethik ist ein krauses Gemisch von kulturellen Werten, die über die Jahrhunderte nur wenig Veränderung erfahren.

Aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaften können die oben gemachte Aussagen nicht die Grundlage des wirtschaftliche Handelns treffen. Die wirtschaftliche Theorie geht heute immer noch davon aus, dass Wirtschaftsaktivitäten ähnlich wie manche naturwissenschaftlichen Vorgänge „wertfrei“ betrachtet werden können. Diese Frage hat die Wirtschaftswissenschaften jahrzehntelang beschäftigt und die orthodoxen Vertreter dieser Auffassung glauben m.E. auch heute noch daran.

Diese Vorstellungen auflösen zu wollen, ist argumentativ schwierig und wenig erfolgversprechend. Wir bewegen uns außerhalb einer empirischen Grundlage und befinden uns in einem intellektuellen Raum, in dem auch religiöse Momente durchaus wirksam werden können. Aus meiner Sicht ist der einfachere Weg, sich konkret zu fragen, wie andere Kulturen oder Denkweisen mit der Frage nach der Motivation zum wirtschaftlichen Handeln umgehen und wie deren Vorgehensweise mit der von uns praktizierten zu vergleichen wäre.

Um einen Vergleich ziehen zu können, wäre es hilfreich, zu versuchen, die Ethik des von uns praktizierten Kapitalismus im Kern kurz zu umreißen: Im Zentrum der wirtschaftswissenschaftlichen Vorstellung des handelnden Menschen steht das Modell des homo oeconomicus. Das Modell soll die Motivation und das Verhalten des Menschen in einer Wirtschaftsumgebung beschreiben bzw. letztlich auch normativ formen, um auf diese Weise sicherzustellen, dass Modell und Mensch so funktionieren, wie es sich die Wirtschaftswissenschaft vorstellt. Es gibt zudem massive Bestrebungen, diese reduzierte Ethik auch auf das gesellschaftliche Zusammenleben zu übertragen.

„Ausgangspunkt des Homo-Oeconomicus-Modells2 ist das einzelne Individuum und dessen Entscheidungen, auf die letztlich alle Marktergebnisse, oder allgemeiner, alle gesellschaftlichen Phänomene zurückgeführt werden können (methodischer Individualismus). Die eigennutzorientierten Individuen versuchen, ihre Ziele mit Hilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel bestmöglich zu erreichen; Interessen anderer finden dabei keine Berücksichtigung.1

Es wird unterstellt, dass das wirtschaftende Individuum ethisch ausschließlich nutzenorientiert agiert. Eine andere Handlungsmotivation lässt das Modell nicht zu. Und die Frage, ob das Handeln im Rahmen des Modells auch einer Verantwortlichkeit gegenüber Dritten folgt, wird als irrelevant betrachtet. Der Handelnde ist ausschließlich auf sich selbst zentriert.

Man kann das Verhalten statt als methodischen Individualismus auch als schlicht egoistisch bezeichnen. Das Modell des homo oeconomicus legt demnach ein im Prinzip verantwortungsloses Handeln nahe, auch dann, wenn es die geltenden Gesetze als Restriktionen versteht. Es ist ein Freibrief nach dem Motto: ‚erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist‘. Ziel des Verhaltens ist die Idee der Nutzenmaximierung. Da der Nutzen nicht gemessen werden kann, wird er bevorzugt in Geld ausgedrückt und damit ist Nutzenmaximierung i.a.R. mit Gewinnmaximierung gleichzusetzen. Andere Motive oder Zwecke lässt das Modell nicht zu.

Diese Sichtweise auf das Handeln ist auch in der Philosophie umstritten: Nützlichkeit versus Sittlichkeit. Nützlichkeit kennt im Gegensatz zur breiter gefächerten Sittlichkeit kaum moralisch-ethischen Grenzen des Handelns und damit fehlt diesem Ansatz auch jedes Verständnis für verantwortliches Handeln.

Ich möchte vermeiden, diese Handlungsweisen als Anwendung des Utilitarismus zu identifizieren, weil wir hier nicht philosophieren, sondern ganz konkrete Entscheidungen unter Akteuren diskutieren, denen in den meisten Fällen der Begriff des Utilitarismus und seine Konsequenzen fremd sind.

Das beschriebene Verhaltensmuster ist so einseitig, dass es m. E. an der Wirklichkeit vorbeiläuft. Aber es ist ein normativer Konstrukt, der das Verhalten der Menschen beeinflusst; je mehr Menschen die egoistische Verhaltensnormen für das Verständnis ihres Handeln künftig anwenden und sie zu ihrem Leitmotiv erklären, desto mehr gewinnt der Egoismus und das, was wir als Individualismus in der Ausprägung der gezielten Vereinzelung beschreiben, die Oberhand. Ein französischer Philosoph hat für diese merkwürdige Form des Individualismus den Begriff des „Massenindividualismus“ geprägt, der den logischen Widerspruch dieser Auffassung klar zum Ausdruck bringt.

Margret Thatcher brachte diese letztendlich neoliberale Haltung sinngemäß auf den Punkt: „Ich kenne keine Gesellschaft, nur Individuen.“ Aber im wirklichen Leben legen wir m.E. großen Wert auf „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“. Thatchers Verständnis von wirtschaftlichem Handeln setzt unweigerlich „Wettbewerb“ unter den Individuen voraus. Dabei wird übersehen, dass „Kooperation“ viele Dinge erst möglich macht. Dieses real zu beobachtende Verhalten kann aber weder der homo oeconomicus noch der Neoliberalismus beschreiben, geschweige denn erklären.

Zusammenfassend kann man die Ethik unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystem mit Paul A. Samuelson (Nobelpreisträger) wie folgt fassen: „Wir sind die Gesellschaft des Ich , Ich, Ich – und (des) Jetzt (also heute). Wir denken nicht an andere und auch nicht an morgen.“ Wirtschaften hatte in der Vergangenheit das Motiv, die Menschen ausreichend zu „versorgen“. Mit zunehmendem Wohlstand wird die Perspektive durch das Ziel „Geld aus Geld machen“ überlagert. Versorgen ist nur noch eine Nebenbedingung, deren Problematik nur dann aufstößt, wenn das System des „Geldmachens“ z.B. durch eine Pandemie. Lieferkettenprobleme oder geopolitische Einflüsse gestört wird.

Was unterscheidet dieses Modell von den Verhaltensmotiven und den Handlungsmaximen anderer Perspektiven? Wenn wir andere Kulturkreise zum Vergleich heranziehen wollen, müssen und sollten wir deren Perspektive oder Weltbild auch verstehen lernen. Das sprengt jedoch den Rahmen dieses Beitrags. Als Ersatz möchte ich Aussagen eines westlichen Vertreters von alternativen Perspektiven zu zentralen Wirtschaftsbegriffen in gekürzter Form heranziehen. Ernst F. Schumacher2 war bei seinen internationalen Aktivitäten auch in Birma tätig und berichtete damals wohl als erster über die Perspektiven einer buddhistischen Wirtschaftslehre.

Schumacher schreibt unter anderem im Kapitel ‚Buddhistische Wirtschaftslehre‘ (S. 65 ff.):

Es besteht wohl allgemeine Übereinstimmung darüber, dass die menschliche Arbeit eine grundlegende Quelle des Wohlstands ist. Der moderne Wirtschaftswissenschaftler hat jedoch gelernt, in „Arbeit“ nicht viel mehr als ein notwendiges Übel zu sehen. Vom Standpunkt des Arbeitgebers ist sie in jedem Fall einfach ein Kostenfaktor, der auf ein Minimum zu verringern ist, wenn er sich nicht beispielsweise durch Automation, völlig ausschalten lässt. Vom Standpunkt des Arbeiters ist sie eine „Last“ – arbeiten heißt, ein Opfer an Muße und Bequemlichkeit bringen. Dabei stellt der Lohn eine Art Entschädigung für die Opfer dar. Somit ist das Ideal vom Standpunkt des Arbeitgebers aus gesehen eine Produktion ohne Arbeitnehmer und vom Standpunkt des Arbeitnehmers aus gesehen ein Einkommen ohne Arbeitstätigkeit. Die Folgen dieser Haltungen sind theoretisch und praktisch überaus weitreichend. (…)

Vom buddhistischen Standpunkt aus gesehen, erfüllt Arbeit mindestens drei Aufgaben: Sie gibt dem Menschen die Möglichkeit, seine Fähigkeiten zu nutzen und zu entwickeln. Sie hilft ihm, aus seiner Ichbezogenheit herauszutreten, indem sie ihn mit anderen Menschen in einer gemeinsamen Aufgabe verbindet, und sie erzeugt die Güter und Dienstleistungen, die für ein menschenwürdiges Dasein erforderlich sind. Wiederum sind die Folgerungen nicht abzusehen, die sich aus dieser Sicht ergeben. Arbeit so zu organisieren, dass sie für den Arbeiter sinnlos, langweilig, verdummend oder nervenaufreibend sind, wäre ein Verbrechen.

Aus einer solchen Haltung ginge hervor, Güter seien wichtiger als Menschen. Das aber entspräche einem erschreckenden Mangel an Mitgefühl und der wesenszerstörenden Hingabe eines Lebens auf der primitivsten Stufe der Existenz. Wollte man nach Muße als einer Alternative zur Arbeit streben, würde das ebenfalls als völliges Missverständnis einer der Grundwahrheiten menschlichen Seins angesehen, dass nämlich Arbeit und Muße einander ergänzende Teile desselben Lebensvorgangs sind und nicht getrennt werden können, ohne dass Arbeitsfreude und der Segen der Muße zerstört werden.

Daher gibt es vom buddhistischen Standpunkt aus zwei Arten der Mechanisierung, die deutlich zu unterscheiden sind: eine, die das Geschick und die Kraft des Menschen steigert, und eine, die die Arbeit eines Menschen einem mechanischen Sklaven überträgt, wobei der Mensch dem Sklaven zu dienen hat. Wie lässt sich die eine von der anderen unterscheiden? „Der Handwerker“, sagt Ananda Coomaraswamy, ein Mann, der gleichermaßen befugt ist, über den modernen Westen wie den alten Osten zu sprechen, „kann stets selbst die feine Unterscheidung zwischen Maschine und Werkzeug machen, wenn man ihm das gestattet. Der Handwebstuhl ist ein Werkzeug, eine Vorrichtung, die die Kettfäden spannt, sodass die Finger des Handwerkers die Schussfäden um sie herumweben können. Der mechanische Webstuhl hingegen ist eine Maschine, und ihre Bedeutung als Zerstörerin der Kultur liegt darin, dass sie den zutiefst menschlichen Teil der Arbeit verrichtet.“ Mithin ist klar, dass eine buddhistische Wirtschaftslehre von der des modernen Materialismus stark unterscheiden muss, da sich nach dem Buddhisten das Wesen der Kultur nicht in einer Vervielfachung von Bedürfnissen findet, sondern in der Läuterung des menschlichen Wesens. Das Wesen aber wird zugleich vor allem durch die Arbeit des Menschen gestaltet. Bei einer sinnvoll unter Bedingungen der Menschenwürde und Freiheit getanen Arbeit ruht Segen auf denen, die sie tun und auf ihren Erzeugnissen. Der indische Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler J.C. Kumarappa fasst das so zusammen: „Wenn die Natur der Arbeit richtig eingeschätzt und angewandt wird, steht sie in derselben Beziehung zu den höheren Fähigkeiten des Menschen wie die Nahrung zum Leib. Sie nährt und belebt den höheren Menschen und drängt ihn, das Beste hervor zubringen, dessen er fähig ist. Sie gibt seinem freien Willen die angemessene Richtung und lenkt das Tier in ihm auf den richtigen Weg. Sie liefert einen ausgezeichneten Hintergrund, auf dem der Mensch seine Wertordnung zeigen und seine Persönlichkeit entwickeln kann.“

Ein Mensch ohne Aussicht auf Arbeit ist in einer verzweifelten Lage. (…) Ein moderner Wirtschaftswissenschaftler kann sich in kunstvollen Spekulationen darüber ergehen, ob Vollbeschäftigung sich „auszahlt“ oder ob es „wirtschaftlicher“ wäre, eine Volkswirtschaft unterhalb der Vollbeschäftigungsschwelle zu halten, sodass eine größere Beweglichkeit der Arbeitskräfte, stabilere Löhne und so weiter gesichert sind. (…) Wenn (…) wir uns im Interesse der Stabilität ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit leisten können – und das ist, nebenbei gesagt, eine Vorstellung mit untadelig konservativer Vergangenheit -, dann können wir auch den Arbeitslosen die Güter geben, mit denen sie ihren gewohnten Lebensstandard aufrechtzuerhalten vermögen“ (Galbraith3, 1959)

Vom buddhistischen Standpunkt aus wird damit die Wahrheit auf den Kopf gestellt, weil Güter wichtiger sind als Menschen und Konsum für wichtiger als schöpferisches Tun gehalten werden. Damit wird der Schwerpunkt vom Arbeiter auf das Ergebnis der Arbeit verlagert, d.h. vom Menschlichen zum Untermenschlichen. Das aber ist gleichbedeutend mit dem Eingeständnis der Niederlage gegenüber menschenverneinenden Kräften. Schon am Anfang einer buddhistischen Wirtschaftsplanung stünde der Wunsch nach Vollbeschäftigung (…).

Während es dem Materialisten in erster Linie um Güter geht, geht es dem Buddhisten hauptsächlich um Befreiung. Aber Buddhismus ist „der mittlere Weg“, daher ist er in keiner Weise körperlichem Wohlbefinden gegenüber feindlich eingestellt. Nicht Reichtum steht der Befreiung im Wege, sondern die Bindung an ihn, nicht die Freude an angenehmen Dingen, sondern das Verlangen nach ihnen. Der Grundgedanke buddhistischer Wirtschaftslehre heißt daher Einfachheit und Gewaltlosigkeit. Vom Standpunkt eines Wirtschaftswissenschaftlers aus gesehen, liegt das Wunder der buddhistischen Lebensweise in der äußerst Vernunftbezogenheit ihres Musters – erstaunlich geringe Mittel führen zu überaus zufriedenstellenden Ergebnissen.

Das ist für den modernen Wirtschaftswissenschaftler nur schwer verständlich. Er ist daran gewöhnt, den „Lebensstandard“ an der Menge des jährlichen Verbrauchs zu messen, wobei ständig angenommen wird, dass es jemandem, der mehr verbraucht, „besser geht“ als jemandem, der weniger verbraucht. Ein buddhistischer Wirtschaftswissenschaftler würde diese Betrachtungsweise als äußerst unvernünftig ansehen. (…)

Wenn also der Zweck der Kleidung ein gewisser Schutz vor dem Wetter und ein anziehendes Äußeres ist, besteht die Aufgabe darin, diesen Zweck mit dem geringstmöglichen Aufwand zu erreichen, das heißt mit der kleinsten jährlichen Zerstörung von Stoff und mit Hilfe von Entwürfen, die den geringstmöglichen Arbeitsaufwand bedingen. Je weniger Mühe aufgewendet wird, desto mehr Kraft bleibt für künstlerisches Schöpfertum. (…) Der Gipfel der Dummheit wäre es, Kleiderstoff so herzustellen, dass er rasch verschleißt, und ein Verbrechen, etwas Hässliches, Unansehnliches oder Dürftiges herzustellen. (…) Der Besitz und der Verbrauch von Gütern sind Mittel zu einem Ziel, und die buddhistische Wirtschaftslehre ist die systematische Untersuchung dessen, wie man diese vorgegebenen Ziele mit den geringsten Mitteln erreichen kann. (…)

Die buddhistische Wirtschaftsweise versucht, kurz gesagt, ein Höchstmaß an menschlicher Zufriedenheit durch das günstigste Verbrauchsmuster zu erzielen, während die moderne (Sicht) versucht, den Verbrauch mithilfe des günstigsten Muster von Produktionsanstrengungen auf ein Höchstmaß zu schrauben. Es ist leicht zu erkennen, dass der für die Aufrechterhaltung einer Lebensweise mit dem vernünftigsten Verbrauchsmuster benötigte Aufwand wahrscheinlich weit geringer ist als der für die Aufrechterhaltung eines Antriebs zum Höchstverbrauch erforderliche. (…)

Einfachheit und Gewaltlosigkeit stehen offenkundig in enger Beziehung. Das günstigste Verbrauchsmuster, das mithilfe einer vergleichsweise geringen Verbrauchsmenge ein hohes Maß an menschlicher Zufriedenheit erzeugt, gestattet es den Menschen, ohne großen Druck und große Spannung zu leben und die grundlegende Forderung der buddhistischen Lehre zu erfüllen: „Tue nichts Böses, versuche Gutes zu tun.“ (…).“

Offensichtlich sind neben dem alleinigen Aspekt eines Nutzens noch weitere sinnvolle und auch erfolgversprechende, aber eben „sittlich“ (oder besser ethisch) motivierte Perspektiven auf einen ökonomischen Sachverhalt denkbar und möglich. Das ist den Vertretern des Kapitalismus gegenwärtiger Prägung nicht zu vermitteln. Wenn wir gewohnt sind, das kapitalistisches System als „allein selig machend“ zu verstehen, so muss die dargestellte Perspektive zumindest zum Nachdenken anregen. Wer sich damit auseinandersetzen will, dem sei eine Reihe von Veröffentlichungen an die Hand gegeben:

  • Brodbeck, Karl – Heinz, Buddhistische Wirtschaftsethik – eine Einführung, Berlin 2011
  • Payutto, P. A., Buddhistische Ökonomie – mit der rechten Absicht zu Wohlstand und Glück, Bern 1999,
  • Dalai Lama u. Laurenz van den Muyzenberg, Führen, Gestalten, Bewegen – Werte und Weisheit für eine globalisierte Welt, Frankfurt, ohne Jahr.
  • Manfred Folkers, Niko Paech, All you need is less – eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht, München 2020
  • Schumacher, Ernst F., Small is beautiful – die Rückkehr zum menschlichen Maß, (ursprünglich 1977), München 2013, mit einer Einführung von Niko Paech
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1Johannes Wallacher, Abschied vom Homo Oeconomicus?, Freiburg 2003

2Schumacher, Ernst F., Small is beautiful – die Rückkehr zum menschlichen Maß, (ursprünglich 1977), München 2013, mit einer Einführung von Niko Paech. S. 65 ff

3Galbraith, John K., Gesellschaft im Überfluß, München , Zürich, 1959

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Bürgerräte – ist das ein Durchbruch?

Unsere repräsentative Demokratie, so wie wir sie gegenwärtig praktizieren, weist m.E. demokratische Lücken auf. Untersuchungen haben gezeigt, dass ein beachtlicher Teil der Bevölkerung – ca. 30% – 40% (je nach Anlass) – gar nicht zur Wahl gehen mit der häufigen Begründung, dass es auf ihre Stimme sowieso nicht ankomme. Daraus spricht auch ein gerüttelt Maß an bürgerschaftlicher Resignation.

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Politisch gesehen sind diese 30% – 40% (je nach Bedeutung der Wahl für das persönliche Umfeld) im Grunde eine ernstzunehmende Aussage. Manche Partei würde sich glücklich schätzen, wenn sie es schaffen könnte, zumindest temporär bis zu 40 % Zustimmung aus der Wählerschaft mobilisieren zu können.

Mein Eindruck ist, dass die etablierten Parteien wenig Anstalten machen, die Gruppe der notorischen Nichtwähler zu einem Engagement zu bewegen. Die Parteien sind ausreichend damit beschäftigt, ihre internen Auseinandersetzungen so zu gestalten, dass die jeweilige Partei ein gewisses Maß an Geschlossenheit darstellen kann. Da scheint wenig Platz zu sein, sich auch noch um „verlorene Schäfchen“ zu kümmern.

Erst seit deutlich wird, dass die Extremisten unserer politischen Landschaft offensiv versuchen, hier in populistischer Manier auf Stimmenfang zu gehen, kommt die Situation etwas in Bewegung. Dabei wurde mit dem gegenwärtig diskutierten und zu realisierenden ‚Bürgerrat‘ ein Gedanke aufgegriffen, der in den 1970er Jahren von Prof. Peter Dienel entwickelt und damals dem deutschen Politikbetrieb vorgestellt wurde1. Der Erfolg war gering: Eine gute Idee am falschen Ort zur falschen Zeit. Sein Sohn, Hans-Luitger Dienel, führt heute das Institut Nexus2 und hat sich u.a. auf die praktische Anwendung des sogenannten „deliberativen Beteiligungsmodell“ spezialisiert.

In den 1990er Jahren hat James Fishkin die Idee im englischsprachigen Raum wieder aufgegriffen und war mit seinem Ansatz in seinem politischen Umfeld deutlich erfolgreicher. Weltweit wurden inzwischen mehrere hundert Veranstaltungen (zahlenmäßig nach oben offen) zu diesem Ansatz durchgeführt. Das „deliberative Beteiligungsmodell“ gilt als sehr erfolgreich, um offensichtliche Defizite unseres Demokratiemodells zu ergänzen. Ohne den repräsentativen Demokratieansatz aufzulösen, wird über das Beteiligungsmodell erfolgreich ein Stück direkter Demokratie in das bestehende System eingefügt3.

Die meisten Gegenstimmen richten ihren Fokus auf das Auslosen der Beteiligten. Die Assoziation zum Glücksspiel drängt sich auf, ist aber grundfalsch. Der alte Platon hat einem wesentlichen Gesichtspunkt Ausdruck verliehen: Warum sollten Philosophen die Staatsführung übernehmen? Einerseits, weil sie als nachdenklicher und weiser gelten, andererseits aber ganz wesentlich, weil sie die einzigen sind, die zum Regieren kein Lust haben. Und das sei das Wichtigste!

Platon hat auch das Losverfahren, das schon seiner Zeit in Athen praktiziert wurde, positiv beurteilt: Er sieht den Hauptvorteil darin, dass das Gesetz des Zufalls gilt, in dem ein wesentliches Moment des Systems abgeschafft wird, nämlich dass jene an die Regierung kommen, die regieren wollen. Platon (Der Staat, 8. Buch) teilt die Idee, dass die schlechteste Regierung jene ist, bei der die, die herrschen wollen, es auch können. Man muss diese Meinung nicht unbedingt teilen, aber man kann erkennen, dass diese Ideen schon im alten Athen die Gemüter bewegte.

Wie ist die Reaktion der professionellen Politik zum Bürgerrat? Sehr zwiespältig!

Von der einen Seite kommt das Argument, der Bürgerrat sei undemokratisch, weil er nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgeht. Dieses Argument vernachlässigt die Tatsache, dass die gegenwärtige Zusammensetzung des Parlaments die Gesellschaft in keiner Weise widerspiegelt und dass eine Wahl, bei der mit zunehmender Tendenz die Wahlbeteiligung gegen 50% abzusinken droht, die Grundfesten unseres Systems in Frage stellen: Ist das Parlament für die Bürger dieses Landes noch repräsentativ? Wenn wir diese Voraussetzung verneinen müssten, bricht die Idee einer repräsentative Demokratie zusammen.

Das Losverfahren schafft über die Schichtung des Zufalls ein deutlich besseres Abbild unserer Gesellschaft wie das die gegenwärtigen Wahlen erreichen. Wenn je nach Bedeutung der Wahl zwischen 30 und 40% nicht zur Wahl gehen und die Parteien keine erkennbare Lösung dieses Problems verfolgen, so ist es nur sinnvoll und richtig, ein Verfahren zu etablieren, das gezielt und bewusst alle Schichten der Gesellschaft zum Diskurs einlädt.

Betrachten wir die gewählten Politiker und machen wir uns klar, welchem Druck diese Politiker durch den allumfassenden Lobbyismus ausgesetzt sind. Das Merkwürdige ist, dass ausgerechnet der Souverän (das Volk) über keinen einzigen Lobbyisten verfügt. Dem werden die gewählten Politiker entgegen halten, dass sie diese Funktion übernehmen. Das stimmt aber nicht und das ist auch an den politischen Entscheidungen der letzten 50 Jahre abzulesen. Die Mehrzahl der Gesetzesänderungen haben dem wohlhabenden Teil unserer Gesellschaft regelmäßig Vorteile zukommen lassen; der klassische „kleine Mann“ ist i.d.R. zu kurz gekommen. Mit anderen Worten: Wenn die offizielle Politik aktiv wird, dann regelmäßig zugunsten jenes Teils der Gesellschaft, der als hoch vernetzt, als aktiv, als finanziell potent und erfolgreich gilt.

Der Bürgerrat könnte sich von dieser Schiefe der Entscheidungen freimachen und die Aufgabe übernehmen, „Lobbyist“ des Bürgers zu werden. Die Ergebnisse der Tagungen des Bürgerrates sind problembezogen aufgrund der Fragestellung und gehen dem Parlament zu und werden im Parlament eine Reaktion auslösen müssen.

Der Bürgerrat arbeitet in erster Linie problembezogen und nicht macht-bezogen, wie ein Parlament. Die Macht des Parlamentes ist doch jene Komponente, die die Lobbyisten anzieht wie das Licht die Mücken; die Sachbezogenheit ist dabei nur Beiwerk. Der Bürgerrat, der als Institution relativ kurzfristig einberufen wird, seine Diskussionen führt und hoffentlich zu einem sachbezogenen Ergebnis kommt, löst sich danach wieder auf. Die Institution kommt nur zeitweise zum Leben und kann deshalb auch von den konkurrierenden Lobbyisten, gleich welcher Couleur, nicht wirksam beeinflusst werden. Dazu ist die Zeitspanne, für die der Bürgerrat sich jeweils ehrenamtlich mit Aufwandsentschädigung konstituiert, zu kurz.

Der Bürgerrat hat keine Entscheidungsmacht. Die liegt weiterhin beim Parlament. Aber die Rückkopplungen, die der Bürgerrat der Politik geben kann, sind aus dem ungefilterten realen Leben und keine Umfragen, Meinungen und parteipolitischen Aussagen, die durch unzählige Filter gelaufen sind.

Was mich jedoch irritiert, ist die Tatsache, dass man zum Bürgerrat kein Gesetz oder etwas Vergleichbares findet. Es gibt ein Portal zum Bürgerrat, aus dem erkennbar ist, dass die Idee eines Bürgerrates für alle Ebenen unseres politischen Systems (Bund, Land, Landkreis, Kommune) Anwendung finden soll, aber bei der Suche nach Regeln, die auch die Politik binden, suche ich vergebens. Aufgrund der Problemlösungskonkurrenz zwischen gewählten Politikern und dem Bürgerrat ist es nicht selbstverständlich, dass dem Bürgerrat ein längeres Leben beschieden ist.

Eine leichte Machtverschiebung im Parlament und ich bin ziemlich sicher, dass dem Bürgerrat der Geldhahn abgedreht wird. Wir sind ja i.d.R. der Auffassung, dass Wettbewerb das Geschäft belebt, aber nur solange, soweit die Macht nicht ausreicht, um ein Monopol aufzubauen. Dann läuft der Spruch leider ins Leere. So wird es im Bereich der Wirtschaft beschrieben, warum sollte es in der Politik anders laufen?

Immer dann, wenn die relativ geringe Wahlbeteiligung zur Sprache kommt, taucht früher oder später auch das Argument der Bildung auf. Durch mehr Bildung will man den Schritt schaffen, die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Ich halte das für Wunschdenken. Aber: Stellen Sie sich vor, dass bei uns jährlich auf den unterschiedlichen Ebenen des Gemeinwesens hunderte von Bürgerräten ihre Arbeit aufnehmen würden. Und jeder Bürgerrat würde 25 – 150 Personen zum Diskurs einladen und die Teilnehmer würden Teil einer konkreten Problemlösungsbeitrags werden: das wäre „Bildung“ aus einer Erfahrung heraus, die die Teilnehmer sicher so schnell nicht mehr vergessen werden. Sie treten aus der Anonymität heraus, kommen in Kleingruppen zu Wort und können feststellen, dass ihre (möglicherweise kleinen) Beiträge Teil eines Lösungsprozesses werden. Das ist eine Bildungs-Erfahrung, die kann kein Buch und kein Vortrag ersetzen. Ich kann da aus eigener Erfahrung sprechen.
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1Dienel, Peter, Planungszellen, 1978
2Vgl. https://nexusinstitut.de/
3Vgl. auch https://www.youtube.com/watch?v=H4j7RQ3uoJE (aufgerufen am 21.7.2023)

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Wasser – ein Gemeingut?

Die Dürre geistert wieder einmal durch den Medienwald. Der fehlende oder zu heftige Niederschlag führt den „Leuten“ vor Augen, dass wir hier in ein massives Problem laufen. Und es ist offensichtlich, dass diese wichtige Ressource auch in unseren Breiten in Europa endlich ist. Sie muss also sinnvoll bewirtschaftet werden.

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Als ich vor rd. 50 Jahren zum Studium von den Höhen des wasserdurchtränkten Nordschwarzwaldes nach Mannheim kam, fiel mir auf, dass das Leitungswasser in Mannheim gechlort war und für mich ekelhaft schmeckte. Ich war an weiches, wohlschmeckendes Wasser gewöhnt, während Mannheim zu jener Zeit schon im großen Stil Wasser technisch aufbereiten musste. Auf meine Fragen, wo denn das Wasser herkomme, habe ich erfahren, dass es eine Mixtur aus verschiedenen Wassern sei, weil der Grundwasserspiegel in den damaligen Jahren dramatisch (um mehrere Meter) gesunken war.

Wir hatten noch keine Ahnung von einem Klimawende oder gar Klimakrise. Es regnete im normalen Rahmen und im Rheingraben war schon in den 1970er Jahren die Sommerhitze (einschließlich der Mücken (‚Schnaken‘) aus den Altrheinarmen) für alle Einwohner eine ziemliche Belastung.

Heute stehen wir vor den gleichen Problemen, nur dass der ‚Wasserhunger‘ der Großstädte und der industriellen Großproduktionen inzwischen auf die Wasserversorgung des Umlandes zugreift und sich die Frage ergibt, wo soll das hinführen? Es gibt Medienbeiträge, aus denen erkennbar ist, dass der Wasserverbrauch nicht nur in den Großstädten überhand nimmt, sondern auch bis auf die Wasserwirtschaft von Gemeinen durchschlägt, die im Grunde ohne den abzugebenden Großstadtanteil ihre Bevölkerung ausreichend und nachhaltig versorgen könnte.

Wasser hat einen extrem langsamen Kreislauf. Wenn sich Zufluss und Abfluss im Wesentlichen ausgleichen, bleibt der Grundwasserspiegel ‚konstant‘. So die Theorie. Zumindest in den letzten 50 Jahren kann in den Metropolen von einem Ausgleich nicht mehr gesprochen werden. Der Wasserverbrauch ist schlicht zu hoch. Wir verschwenden diese Ressource.

Aber was ist Grundwasser? Wir leben heute von der Vorstellung, dass bei ausreichendem Regen das Regenwasser versickert und am Ende im Grundwasser gesammelt wird, damit wir es wieder nutzen können. Deswegen wollen wir die Grünflächen vergrößern, alle Arten der Versiegelung vermeiden oder rückgängig machen, damit dieser „Traum“ in Erfüllung geht. Aber kann das zielführend sein?

Gehen Sie nach einem ausgiebigen Regenguss nach einer Reihe heißer Tage in Ihren Garten und nehmen eine Spaten und prüfen Sie nach, wie tief das Regenwasser in das Erdreich eingedrungen ist? Wenn die Eindringtiefe 10 cm erreicht, war der Regenguss schon recht heftig. Von dem Regenwasser fällt in einer Bodentiefe von 10 cm i.d.R. der Boden trocken. Da kommt m.E. kein Tropfen bis ins Grundwasser! Der „Traum“ von der (kurzfristigen) Wiederauffüllung des Grundwassers durch Regenfall basiert möglicherweise auf einem Denkfehler. Vergessen Sie bitte nicht, dass der gefallene Regen nicht nur das Grundwasser „sucht“, sonder dass der Pflanzenbewuchs hier auch seinen ihm zustehenden Anteil einfordert, nicht zu vergessen, dass auch ein Teil der Regenmenge im Sommer schlicht verdunstet und bei Starkregen das Oberflächenwasser nur die Flüsse anschwellen lässt. Damit will ich nicht sagen, dass Regen nicht auch bis ins Grundwasser kommen kann, aber dass die Mengen vermutlich gering sind.

Was wäre eine alternative Begründung für das Vorhandensein von Grundwasser? In der Erdgeschichte hat es gewaltige klimatische Verwerfungen gegeben. Insbesondere während der Eiszeiten haben sich große Wassermengen in Form von Eis angesammelt, die dann bei der Klimaveränderung wieder in Wasser zurückgewandelt wurden und in riesigen Wasserströmen in den eisfrei werdenden Regionen zur Verfügung standen. Diese Wassermengen besaßen einen Umfang, der es möglich machte, die Grundwasserreservoire anzulegen und zu verfüllen. Zu diesem Zeitpunkt war auch in diesen Regionen kaum mit Pflanzen im größeren Umfang zu rechnen, von einem menschlichen Verbraucher ganz zu schweigen.

Wenn diese Sichtweise richtig ist, hätte das eine Reihe von harten Konsequenzen: Das Grundwasser wurde in der Vergangenheit nie maßgeblich durch Regenfälle aufgebaut. Der gegenwärtig sinkende Grundwasserspiegel folgt also keiner Vorstellung von einem dynamischen Gleichgewicht, sondern muss wohl als absolut endliches Reservoir angesehen werden, mit dem so sparsam als möglich umgegangen werden muss.

Die Vorstellung, dass das Grundwasser durch den Niederschlag aufgefüllt werden könnte, lässt mir keine Ruhe. Deshalb der Versuch einer Verprobung: Wir verbrauchen lt. Statistischem Bundesamt 20 Mrd. Kubikmeter Wasser. Diese 20 Mrd. Kubikmeter sollen durch Niederschlag wieder aufgefüllt werden. Die Fläche der Bundesrepublik beläuft sich nach Wikipedia auf 357.588 km². Welche Wassersäule jährlichen Regens müsste pro Quadratmeter fallen, um verlustfrei (ohne Berücksichtigung der Wasseranteile für Pflanzen, ohne Verdunstung durch Osmose, kein Oberflächenabfluss) die verbrauchte Grundwassermenge zu ersetzen? Nach meinen Berechnung ergibt sich hieraus ein notwendige Wassersäule von 55,93 Liter pro Quadratmeter und Jahr. (20 x 1012 Liter Verbrauchsmenge / 357,588 x 109 m² = 0,055930 x 103 oder 55,93 Liter/m2)

Der Niederschlag wird im Durchschnitt mit 770 – 790 Liter/m2 pro Jahr angegeben. Also ist meine Überlegung nicht zwangsläufig falsch, aber so offensichtlich, wie ich mir die Sache vorgestellt habe, ist es nicht. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge pro Jahr ist also grundsätzlich in der Lage, den gegenwärtigen Grundwasserverbrauch zu kompensieren. Man nennt so etwas ein Eigentor.

Aber warum sinken dann die Grundwasserspiegel aller Orten, wenn die jährliche Regenmenge unseren jährlichen Verbrauch statistisch um das Zehnfache übersteigt? Dafür habe ich keine plausible Antwort von ausreichendem Gewicht. Es muss zwischen dem Regenfall und dem Zufluss zum Grundwasser eine Reihe von Barrieren geben, die wir möglicherweise schon kennen, aber deren Auswirkungen völlig unterschätzt werden.

Wir müssen uns deshalb schweren Herzens daran gewöhnen, dass Wasser ein knappes Gut darstellt. Das ist die eine Nachricht. Die andere Nachricht ist die Erkenntnis, dass Wirtschaftsunternehmen vielfach für ihren Wasserbedarf (anders als die Normalbürger) keine Gebühren abführen müssen. Und nur in Ausnahmefällen ist ihre jährlicher Wasserentnahme mengenmäßig beschränkt. Wasser kostet die Wirtschaft nichts und ihr Verbrauch wird auch vielfach vertraglich weder mengenmäßig noch zeitlich eingeschränkt. Manche Lizenzen gelten für die Ewigkeit. Als Folge wird der Wasserverbrauch auch nur unzulänglich kontrolliert.

Die breite Bevölkerung beginnt zu begreifen, dass das Wasser knapp wird. Der Preis pro Kubikmeter wird für die Normalverbraucher in vielen Regionen steigen. Die industriellen Großverbraucher haben aber oftmals Verträge, die ihnen den Wasserverbrauch des Gemeingutes Wasser einfach ‚zur Verfügung stellen‘ oder einen Preis pro Einheit (qm3) verrechnen, der vernachlässigbar ist.

Unser Verhalten bezüglich des Wasserverbrauchs ist durch den geringen Preis pro Einheit und die langjährig gepflegte Haltung geprägt, dass die Ressource Wasser „ohne Ende“ zur Verfügung stehen würde. Unsere Maßlosigkeit führt nicht nur uns Verbraucher an neue Grenzen. Landwirtschaft und Biosphäre leiden gleichermaßen.

Das Bundesumweltamt hat 2022 eine Tabelle veröffentlicht2, die den Wasserverbrauch von insgesamt 20 Mrd. Kubikmetern in Deutschland nach folgenden Kategorien aufteilt:

Öffentliche Wasserversorgung 26,8%
Bergbau u. verarbeitendes Gewerbe 26,8%
Energieversorgung 44,2%
Landwirtschaftlich Beregnung 2,2%

Dabei wird angemerkt, dass die „von Deutschland veröffentlichten Wasserentnahmen der Landwirtschaft (2,2%) (…) gegenüber den Nachbarländern Dänemark (50%) und Frankreich (10%) als (zu) gering auf(fallen)“. Die EU-Kommission zweifelt diesbezüglich Deutschlands Angaben an.

Die oben angeführte ‚öffentliche Wasserversorgung‘ scheint in der Tabelle die vertrauenswürdigste Mengenangabe zu sein. Dort wird Wasser (und Abwasser) konkret bewirtschaftet. Bei den angegebenen Industriezweigen Bergbau, Gewerbe und Energieversorgung dürften große Informationslücken herrschen, weil Wirtschaftsunternehmen alle Ressourcen, die nichts oder nahezu nichts kosten, wenig Beachtung schenken. Es gibt auf der Ebene des Geldes bei Wasser nichts zu kalkulieren.

Der erste Schritt einer gesicherten Wasserversorgung ist eine ausreichende Informationsbasis. Solange es wesentliche Nutzer gibt, die über ihren Wasserverbrauch nicht rechenschaftspflichtig sind und/oder privatwirtschaftliche Wasserrechte für sich reklamieren können, sind die Zahlen in den Wind geschrieben, bestenfalls ein Anhaltspunkt, aber keine Grundlage, um begründete politische Leitlinien erlassen zu können.

Wasser ist ein Gemeingut. Wir können es weder schaffen noch herstellen. Ich darf in diesem Zusammenhang auf die „Tragödie der Allmende“ hinweisen, auf eine Erzählung aus der Ökonomie, bei der unterstellt wird, dass Allmenden (Gemeingüter) in ganz kurzer Zeit kaputt genutzt werden, wenn keine strikten allgemein gültigen Regeln (ohne die berühmten Ausnahmen) zum Gebrauch der Allmende bestehen3. Diese müssen als politischer Rahmen für alle gelten, die diese Allmende nutzen wollen. Da wir ohne Wasser nicht lebensfähig sind, betrifft es auch uns alle. Damit wird hoffentlich auch die Priorität des Problems offenkundig.

Bisher haben wir uns mit dem großen Bild befasst. Was bedeuten die Erkenntnisse für unser unmittelbares Verhalten? Lt. Statistischem Bundesamt4 (Daten von 2021) verbrauchen wir pro Tag und pro Person im Durchschnitt 127 Liter Trinkwasser. Das sind 46,3 Kubikmeter pro Person in einem Jahr. Sie können jetzt ihre letzte Wasserabrechnung holen und diese Zahl mit Ihrem aktuellen Verbrauch abstimmen. Der Verbrauch unseres Zweipersonenhaushaltes liegt mit 64,8 % deutlich unter dem Durchschnittsverbrauch. Da ist aber noch Luft nach unten.

Der durchschnittliche Tagesverbrauch lässt sich wie folgt aufteilen:

Körperpflege (Baden Duschen) 36% oder 45,7 Liter
Toilettenspülung 27% oder 34,3 Liter
Wäschewaschen 12% oder 15,2 Liter
Geschirrspülen 6% oder 7,6 Liter
Raumreinigung, Autopflege, Garten 6% oder 7,6 Liter
Essen, Trinken 4% oder 5,2 Liter
Anteil Kleingewerbe 9% oder 11,4 Liter

Wo liegen hier die Einsparpotenziale? Es ist immer zweckmäßig, nicht bei den ‚Kleinkram‘ anzufangen, sondern sich auf die großen Verbrauchszahlen zu stürzen. Die Körperpflege ist ein sehr individuelles Verhalten und hier dem einzelnen konkrete Vorgaben zu machen, ist nicht von Erfolg gekrönt. Was man aber machen kann, dass man technisch dafür sorgt, dass bei der Körperpflege nicht unnötig viel Wasser durch den Abfluss gejagt wird. Hierzu gibt es für die Duschen und Wasserhahnen sogenannte Reduzierstücke, die (angabegemäß) zwischen 20% und 40% des Wassers sparen, ohne dass man seine Körperpflegeroutine ändern müsste, was ja viele als einen Eingriff in ihre Privatsphäre empfinden könnten.

Bei einer 40%igen Durchlaufreduzierung würden statt 45,7 Liter nur 27,4 Liter verbraucht werden. Die Einsparung ergibt pro Kopf und Jahr rd. 6,68 Kubikmeter. Hochgerechnet auf rd. 80 Mio. Einwohner ergäbe diese kleine und billige Maßnahme eine Wasser-Einsparungsmenge von 534,4 Mio. Kubikmeter Trinkwasser.

Die anderen Punkte sind eher technischer Natur. Die Toilettenspülung kann nur bedingt reduziert werden, weil die Abwasserinfrastruktur darauf nicht eingerichtet ist. Hier werden wir wohl technisch ganz neue Wege gehen müssen. Ein Übergang könnte die Verwendung von Brauchwasser sein, setzt aber auch hier langfristig geplante Maßnahmen voraus.

Auch das Wäschewaschen erfolgt ja meistens automatisch. Bisher haben wir uns immer auf die Energieeffizienz konzentriert. Vielleicht müssen wir hier die Energieeffizienz mit einer Wassereffizienz koppeln, um dann über die Jahre diesen Wert um geschätzte 30% zu senken, was einer Wasserersparnis pro Person von 3,76 Kubikmetern pro Jahr entsprechen würde.

Auf der Grundlage heutiger Wasserpreise erscheint das vernachlässigbar zu sein. Gehen Sie davon aus, dass die Wasserpreise allgemein steigen werden. Wasser ist wie Land nicht vermehrbar, also wird die zunehmende Knappheit zu steigenden Preisen führen. Der Immobilienmarkt könnte hier ein gutes Beispiel liefern. Wasser könnte zum Spekulationsobjekt werden. Dem muss durch politische „Leitplanken“ vorgebaut werden. Wasser ist ein Gemeingut und kein Spekulationsobjekt.
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1 Die 62,4% können falsch sein, weil die Statistik sich auf das Trinkwasser bezieht und ich nicht beurteilen kann, ob die 20 Mrd. Wasserverbrauch nicht auch andere Wasserqualitäten einbezieht.

2 Zitiert nach DUHwelt, 2/2023

3 Vgl. hierzu auch Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen, München, 2011

4 Zitiert nach DUHwelt 2/2023, S. 17

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SDG-Ziele definieren – und dann?

Die Vereinten Nationen (UN) haben sich 2015 auf 17 Ziele (Sustainable Development Goals – SDG) für eine nachhaltige Entwicklung geeinigt (Einzelheiten hierzu siehe: https:\\sdg-portal.de). Man kann sich vorstellen, wie viel Verhandlungsgeschick und politisch unverbindliche Formulierungen eingesetzt werden mussten, um diese Gremien-Ziele verabschieden zu können.

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Dabei ist die Formulierung solcher Ziele nur der Anfang, weil zur Umsetzung keine oder nur sehr geringe Anforderungen formuliert wurden. In diesem Fall haben sich die Mitglieder der UN als einzige Begrenzung einen Realisierungszeitraum bis 2030 gegeben. Diese 15 Jahre sind angesichts der politischen und bürokratischen „Mühlen“ m.E. eine kaum einlösbare Herausforderung.

Ziele sind auf der politischen Ebene globale Absichtserklärungen. Die 17 Ziele der SDGs sind auf der UN-Ebene qualitative Umschreibungen von künftig wünschenswerten Zuständen. Die Bundesregierung hat erkannt, dass sie auf Bundesebene bestenfalls unterstützen kann, weil unser föderaler Verwaltungsaufbau viele Entscheidungen auf nachgeordnete Einrichtungen übertragen hat. Der zweite Gesichtspunkt liegt darin, dass durch die föderale Struktur auch das Handeln bei den Ländern, Landkreisen (Regionen) und Kommunen liegt. Der Bundeseinfluss beschränkt sich auf den „goldenen Zügel“ (auf die Finanzen). Je näher aber die Ziele der SDGs an die gesellschaftliche Realität heranrücken, umso abstrakter bleiben die Zielvorstellungen.

Es fällt dem unvoreingenommenen Leser auf, dass hier im Wesentlichen die Ziele aus der Perspektive des Menschen formuliert sind. Der Ansatz ist m.E. strikt anthropozentrisch aufgebaut. Alle geplanten Maßnahmen zur Nachhaltigkeit sind ausschließlich aus der Perspektive des Menschen begründet. Die selbstkritische Frage, ob unsere anthropozentrischen Erwartungen auch von unserer Lebensgrundlage, dem Planeten Erde, künftig erfüllt werden kann, kommt den Gestaltern der 17 Ziele offensichtlich nicht in den Sinn. Man könnte auch sagen, sie machen die Rechnung „ohne den Wirt“.

Man könnte dadurch irritiert sein, dass es sich bei den SDGs um sogenannte „nachhaltige“ Entwicklungsziele handelt. Was soll der Begriff ‚nachhaltig‘ in dem Zusammenhang? Die Nachhaltigkeit ist ein eigenständiges Basisziele des Klimawandels und – so mein Verständnis – Nachhaltigkeit ist eine Aussage zu einer Maßnahme (und nicht zu einem Ziel), die die Eigenschaft der Langfristigkeit. die Umweltverträglichkeit für die Biosphäre und damit eine gewisse Zukunftsfähigkeit der betreffenden Maßnahme beschreibt.

Mit dem SDG-Ziel Nr. 1 (keine Armut) als auch mit Nr. 2 (keinen Hunger) ist keine Maßnahme verbunden. Was soll da dann nachhaltig sein? Hier stimmt m. E. die Denk-Grammatik nicht. Wenn ‚nachhaltig keine Armut‘ als Ziel verfolgt wird, was drückt diese Aussage denn aus? Soll das heißen, dass wir künftig die Vermeidung von Armut und Hunger nicht nur sporadisch, gewissermaßen nach tagespolitischer Lage, sondern als Ziele kontinuierlich und ohne ‚Wenn und Aber‘ zur Grundlage des politischen Handelns machen? Das wäre vielleicht wünschenswert, aber ist das realistisch und umsetzbar? Es ist schon überaus schwierig, den Begriff der Nachhaltigkeit im Rahmen der Klimawende inhaltlich so zu fixieren, dass ihm eine Bedeutung zukommen kann und die drohende Bedeutungslosigkeit verhindert wird. Man täte gut daran, bei den „Sustainable Development Goals“ in der deutschen Übersetzung nicht von ‚nachhaltigen‘, sondern von ‚zukunftsfähigen‘ Entwicklungszielen zu sprechen. Das würde im Übrigen der Übersetzung des englischen Wortes ‚sustainable‘ auch nicht widersprechen.

Ein konkreter Austausch über die SDGs und über die Zielerreichung der ggfs. getroffenen Maßnahmen ist nur zu erreichen, wenn die aktuelle Ausgangssituation der Kommune, des Landkreises und des Landes und letztlich der ganzen Republik nach einheitlichen Kriterien beschrieben wird. um eine ausreichende Vergleichbarkeit auf den verschiedenen Ebenen sicherzustellen.

Das ‚Handwerkszeug‘ für die Beurteilung der Vergleichbarkeit wurde 2022 vorgestellt, nachdem von den ursprünglichen 15 Jahren Umsetzungsspielraum (bis 2030) also 7 Jahre vergangen waren. Die Bertelsmann-Stiftung hat in Zusammenarbeit mit einer großen Zahl von Wissenschaftlern Indikatoren zusammengestellt, die die Ziele inhaltlich füllen, systematisieren, um dann Aussagen über die Zielerreichung auf den einzelnen Ebenen zu ermöglichen. Ergänzt werden diese Indikatoren durch Hinweise auf die statistischen Quellen, aus denen sich die jeweiligen Indikatoren-Ausprägungen speisen lassen.

Die 17 Ziele sind jeweils für sich betrachtet und aus der menschlichen Perspektive ohne viel Erklärung einleuchtend. Aber in ihrer Vernetzung erfassen die Ziele, ohne Prioritäten zu setzen, ein etwas anderes „Weltbild“ als wir es noch heute pflegen. Wir sind daran gewöhnt, dass z.B. der einseitige Vorrang der Ökonomie oder die ökonomische Sichtweise in der Regel nicht in Frage gestellt wird. Die Auswirkungen dieser einseitigen Herangehensweise auf andere Ziele der Gesellschaft werden i.d.R. nicht weiter untersucht.

Die Operationalisierung der SDGs durch Indikatoren, die die relative „Unverbindlichkeit“ des groben Ziels auf verbindliche Kategorien herunterbricht, bildet den Netzcharakter der Folgeauswirkungen deutlich besser ab. Ehemals einseitig definierte Entscheidungen werden komplexer und anspruchsvoller definiert werden müssen, weil auch die ggfs. negativen Auswirkungen auf die anderen Ziele klarer gefasst und auch durch Veränderungen der Indikatorenwerte belegt werden können. Der Netzwerk- oder Systemgedanke könnte dadurch unterstützt werden.

Die Autoren der Studie haben bei ihrer Arbeit festgestellt, dass zu bestimmten Sachverhalten keine Daten verfügbar sind. Sie haben deshalb die Indikatoren in einen Typ I und einen Typ II unterschieden. Für den Indikator des Typ I gibt es (nach Ansicht der Bearbeiter) ausreichend aussagekräftige Daten. Für die Indikatoren vom Typ II kann diese Feststellung nicht getroffen werden. Offensichtlich hat hier die neue, erweiterte Sicht auf die Dinge aufzeigen können, dass wir auf einer Reihe von Aufgabenfeld (noch) ziemlich „blind“ sind.

Ein weiterer Aspekt der Studie könnte auch darin gesehen werden, dass es – zumindest mir – unwahrscheinlich vorkommt, dass alle Ziele ausschließlich monokausale Bezüge zu ihren Indikatoren unterhalten. Mit anderen Worten: es wird Indikatoren geben, die Beiträge für unterschiedliche Ziele liefern; im Rückschluss könnte dadurch deutlich werden, dass zwischen den isoliert dargestellten Zielen offensichtlich Verbindungen bestehen und diese Verbindungen Hinweise auf positive oder negative Rückkopplungen liefern können. Das Erkenntnisse um das Beziehungsnetz zwischen den Zielen und ihren Indikatoren könnte von großem Nutzen sein.

Das SDG-Portal bietet auf Basis der Indikatoren die Möglichkeit von Vergleichen zwischen den Kommunen, Landkreisen, (Regionen) und Ländern der Bundesrepublik, die aufgrund der Indikatoren sehr weit differenziert werden können. Solange man sicherstellen kann, dass man nicht „Äpfel mit Birnen“ vergleicht, sollte das ein Anreiz sein, regelmäßig die Defizite im Bereich der Zielerreichung zu identifizieren und zum politischen Thema zu machen.

Aufgrund der identifizierbaren Schwachstellen lassen sich die notwendige Maßnahmen gestalten, sofern der politische Wille dafür vorhanden ist. Faule Ausreden sind politisch schwieriger aufrecht zu erhalten, weil das öffentlich verfügbare Datenmaterial hoffentlich eine nachweislich ‚reale‘ Wirklichkeit abbilden kann und das Geraune im politischen Raum über „Hören-Sagen“, „Meinen“ und „Vermuten“ kann ein Stück weit durch Fakten zurückgedrängt werden.

Auf der anderen Seite werden die Daten natürlich auch dazu verwendet werden, um Partikularinteressen schärfer artikulieren und begründen zu können. Der Informationspool bietet dann die Möglichkeit, solchen Partikularinteressen erfolgreich zu kontern. Der Gewinn an „Realität“ wird hoffentlich nicht durch die steigende Komplexität der Argumente blockiert.

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Warum mäßigen?

Mit Freunden diskutierten wir die Frage der Mäßigung unserer Ansprüche angesichts der Klimaproblematik. Wir wurden über die gegenwärtige Auffassung verschiedener Maßnahmen in Politik und Gesellschaft nicht einig. Die Älteren unter uns hatten dabei mit einer Aufforderung zur Mäßigung weniger Probleme, während die Gesprächsteilnehmer der jüngeren Generation sich durch den Begriff offensichtlich viel stärker eingeschränkt fühlt. Deshalb kam aus ihren Reihen auch die provokante Frage: „Warum mäßigen?“

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Dabei gab es zwei unterschiedliche Ansichten: die einen beschrieben den Lösungsraum zur Klimapolitik aus der technologischen Perspektive und sind der Überzeugung, dass die anstehende Klimaproblematik mit künftiger Technologie beherrschbar sei. Die andere Ansicht gab zu bedenken, dass die heutige Problematik doch gerade durch eine fragwürdige Anwendung von Technologie entstanden sei und ein weiterhin blindes Vertrauen in die technologische Entwicklung die anstehenden Probleme nur verschärfe. Die „Technologen“ hoffen optimistisch auf einen zukünftigen Durchbruch in der Technik und die „Fraktion der Skeptiker“ ist der Auffassung, dass so etwas wie Mäßigung ein pragmatischer Ansatz ist, keinen unbegründeten Optimismus zur Voraussetzung hat und die Maßnahmen sofort verfügbar wären. Sie bietet zudem die Chance, den sich ständig aufbauenden Zeitdruck aus der Diskussion zu nehmen.

Als Problem bleibt, dass mit Mäßigung ein Zurücknehmen gewisser Ansprüche unvermeidlich erscheint, und diese Rücknahme vielen Menschen der ‚modernen‘ Gesellschaft als politisch unzumutbar gilt. Dabei ist Mäßigung ein uraltes Prinzip und hat sich weltweit im Zeitlauf schon tausendfach bewährt.

Dabei gibt es m.E. zwei Ansätze, sich mit dem Thema auseinander zu setzen: Einmal kann man die Mäßigung aus der Ideen-Geschichte heraus entwickeln und zum anderen kann man sich fragen, was den ‚modernen‘ Menschen von den Menschen unterscheidet, die bis in die jüngere Vergangenheit die Fähigkeit zur Mäßigung als Bestandteil einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung verstanden haben.

Was könnte mit Mäßigung denn gemeint sein? Als ‚Mäßigung‘ gilt die Fähigkeit, Maß zu halten. Es bedeutet Übertreibungen oder Extreme zu vermeiden, heißt Gier und Getriebensein, Emotionalität und Erregung als Ausdrucksformen mangelnder Selbstbeherrschung im Zaum zu halten. Mäßigung erfordert Zurückhaltung und Zügelung der eigenen Person1. Dabei sollten wir nicht übersehen, dass der ‚moderne‘ Mensch in der Mäßigung auch ein Moment des Verzichtes erkennen will. Und Verzicht gilt ihm als eine Zumutung.

Aber zuerst ein paar Überlegungen zur Ideen-Geschichte der Mäßigung. Die Mäßigung ist Teil aller mir bekannten Philosophie-und Religions-Systeme: Die Griechen, die Inder, die Chinesen und die Japaner kennen diesen Begriff und haben ihm in ihrem Denken eine große Bedeutung zugemessen, weil die Lebenspraxis über die Jahrtausende zeigte, dass es ein auskömmliches und friedvolles Zusammenleben nur dann geben kann, wenn sich alle Beteiligten ‚mäßigen‘, sich also ein Stück weit zurücknehmen und sich in Rücksicht üben können. Das fliegt den Menschen nicht zu, das muss man üben!

Die Griechen pflegten zu Platons Zeiten ihr Weltbild über die vier Kardinaltugenden: Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit (Mut) und Besonnenheit. Die Gerechtigkeit war der umfassendere Begriff, weil Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit ohne Gerechtigkeit wenig sinnvoll erscheinen. Mäßigung ist bei den alten Griechen Teil der Besonnenheit. Besonnen handeln kann man nur, wenn man sich auch zurücknehmen kann.

Die griechische Perspektive wurde dann in Europa von der römisch-katholischen Kirche weitgehend übernommen. Da man dort dem (heidnischen) griechischen Denken nicht unmittelbar Referenz erweisen wollte, hat die Kirche für ihre Gläubigen die sieben Todsünden geschaffen, deren Vermeidung einen Weg zur religiösen Glückseligkeit anbot. Diese Lebensregeln galten neben der griechischen Klassik und bestärkten sich wechselseitig und waren Jahrhunderte lang meist uneingeschränkt eine allgemein gültige moralische Leitlinie.

Erst die Aufklärung konnte die religiös-moralische Bevormundung abschütteln und durch eine deutlich individuellere Sicht ersetzt: „Handle so, dass die Maxime Deines Handelns Grundlage für ein allgemein gültiges Gesetz sein könnte“ (Immanuel Kant). Die Mäßigung liegt darin, dass egoistische Elemente wenig Chancen haben, weil sie so weit entschärft werden müssen, dass ein allgemein gültiges Gesetz darauf begründet werden kann. Neben dem darin enthaltenen Moment der Mäßigung wurde aber auch das Individuum darin bestärkt, seine jeweiligen Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. Es wird auch deutlich, dass Mäßigen einen nur individuell realisierbaren Wert darstellt. Dass sich eine Gesellschaft ‚mäßigt‘, erscheint als ein Widerspruch. Zur Mäßigung kann man zwar auffordern, aber mäßigen muss sich der Einzelne aus eigenem Antrieb heraus.

Dabei stellt sich die Frage, ob unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Umfeld, in dem wir uns heute bewegen, diese oben beschriebene Sichtweise (noch) unterstützt? Sehen wir uns als Teil eines Ganzen oder hat der sogenannte ‚Massenindividualismus2‘ eine Haltung hervorgebracht, in der Mäßigung nur dann denkbar ist, wenn wir durch machtvolle äußere Umstände dazu gezwungen werden (z.B. Katastrophen u.ä.). Das intrinsische Moment scheint eher zu verkümmern.

In der Nachkriegszeit sind wir dem Narrativ der Leistungsgesellschaft gefolgt. Heute hat sich das Narrativ verändert. Leistung bleibt notwendige Voraussetzung, aber wir haben den ‚Erfolg‘ als neue Zielgröße definiert. Nicht die Leistung zählt, sondern allein der Erfolg. Das ist heute der Ausdruck von Individualität und wir sind bereit, dem ‚Erfolgreichen‘ manche „Verrücktheit“ zu verzeihen. ‚Erfolg haben wollen‘ und ‚Mäßigung fordern‘ sind wohl eher Gegensätze als dass man Gemeinsamkeiten entdecken könnte.

Waren die „Alten“ einfach blind, den großen Vorteil des „Erfolges“ nicht zu erkennen? Erfolg haben stellt ein singuläres Geschehen dar, vergleichbar mit dem Glück, das einem Menschen widerfährt. Erfolg nutzt sich schnell ab. Erfolg ist so etwas wie ein Superlativ, der ständig übertroffen werden will. Wie lange hält der Mensch den Superlativ aus, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen?

Erfolg macht süchtig (oder abhängig) und einsam. Der Erfolg wird zwar gerne einem Individuum zugeschrieben, aber der Erfolg hat regelmäßig viele Väter, letztlich braucht er auch glückliche Umstände. Wer Erfolg hatte, sollte sich glücklich schätzen und sich dahin gehend mäßigen, als er erkennt, dass Erfolg nicht unbedingt wiederholbar ist. Die Umstände sind nicht immer günstig. Wer diese Ansicht für falsch hält, den darf ich an die ‚erfolgreichen‘ Manager erinnern, die zum Sprung an die Spitze angesetzt haben, das Unternehmen wechselten, dabei neue Umstände vorfinden und mit einer anderen ‚Kultur‘ konfrontiert werden, und sie müssen plötzlich für sich feststellen: „The Thrill is Gone“ (B. B. King).

Die Sinnhaftigkeit der Mäßigung kann man auch aus einer anderen Perspektive zu erfassen versuchen. Wir betreiben die Geschäfte heute auf unserem Planeten aus der anthropozentrischen Sicht. Diese Sichtweise kann man verkürzt mit der alt-testamentarischen Aufforderung: „Macht Euch die Erde untertan“ umschreiben. Dabei ist diese Aufforderung etwa vier- bis fünftausend Jahre alt und wird regelmäßig aufgrund der Zeitbezüge falsch interpretiert. Die nächstliegende Interpretation ist die kriegerische Intention einer Eroberung. Ich glaube, viele Herrscher haben die Aussage in diesem Sinne verstanden und haben auch so gehandelt. Als Folge zieht sich eine Blutspur durch die menschliche Geschichte. Aber man kann die Aussage auch anders interpretieren.

Die Aufforderung war in einer relativ „leeren“ Welt an eine Spezies der Biosphäre gerichtet, die sich zwar durch Intelligenz auszeichnete, aber zu jener Zeit über keine nennenswerten zivilen Technologien verfügte, um diese Aufforderung tatsächlich realisieren zu können. Wer es sich leisten konnte, verfügte über Sklaven, die erst dann als wirtschaftliches Mittel zur Herrschaft aufgegeben wurden, als man erkennen musste, dass die Produktivität von Technik und von (schlecht) bezahlten Arbeitskräften der Produktivität von Sklaven haushoch überlegen war. Dieser Vorgang entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert, als die Sklavenhaltung aus Renditegründen aufgegeben und dieser Entwicklung ein humanitäres Mäntelchen umgehängt wurde3, indem man die Sklaverei letztlich verbot als sie für die damalige Wirtschaft ihre Bedeutung längst verloren hatte.

Mit dem Niedergang der Sklavenhalterei entwickelte sich die Technologie rasant. Der ehemalig menschliche Sklave wurde durch effiziente und viel anspruchslosere „Energiesklaven“ (Maschinen) ersetzt. Der Energiebedarf nahm dabei gewaltig zu und wurde (nicht wie zuvor) durch die Verwendung von Holz, sondern glücklicherweise durch den wachsenden Einsatz von fossilen Brennstoffen (Steinkohle, Öl, Gas) befriedigt. Diese eher zufällige Veränderung hat der Abholzung der Wälder glücklicherweise Einhalt geboten, sonst wäre die technologische Entwicklung aufgrund offensichtlich werdender großer Umweltschäden in dieser Form wohl kaum möglich gewesen.

Mit anderen Worten: Die fragwürdige Realisierung der alt-testamentarischen Forderung , sich „die Erde untertan machen“ zu wollen, wird in seinen zivilen Voraussetzungen mit der Entwicklung der erforderlichen Technologie erst seit etwa 200 Jahren erfüllt, gepaart mit einem parallel entstehenden kapitalistischen Wirtschaftssystem, deren Wachstumsideologie den Prozessen die notwendige Dynamik vermittelt.

Die Wachstumsideologie gepaart mit den Erfolgen der technischen Industrialisierung führte u.a. dazu, dass vieles, was in der Vergangenheit als unmöglich galt, realisiert werden konnte. Waren die unkalkulierbaren Einflüsse der Biosphäre in den Jahrhunderten zuvor der große Unsicherheitsfaktor, so hat die Technologie diese Abhängigkeit des Menschen auf vielen Gebieten scheinbar stark reduzieren können. Als Folge haben wir die notwendige Verbindung zu unseren Lebensgrundlagen Schritt für Schritt verloren und die Konsequenzen des Bindungsverlustes werden in der Gegenwart im Rahmen der „Klimakrise“ realisiert und beschrieben.

Es wird deutlich, dass unser technikverliebter Ansatz ohne Frage eine Reihe von Vorteilen vermitteln konnte. Er macht aber auch deutlich, dass unser Narrativ zur Technologie wesentliche Defizite bzw. blinde Flecken aufweist, und uns einen Schein von Sicherheit vermittelt, die unseren dominanten Technikansatz für die Zukunft in Frage stellen.

Seit etwa 70 Jahren hat sich m.E. ein neuer Denk-Ansatz schrittweise durchgesetzt, der unter dem Namen ‚Systemtheorie‘ läuft und eine Metatheorie bereit hält, die in der Lage ist, die Detailversessenheit des klassischen Ursache-Wirkungs-Ansatzes zu reduzieren und einen eher ganzheitlichen Blick auf die handlungsrelevanten Zusammenhänge zulässt.

Der Systemansatz unterscheidet sich grundlegend von dem gegenwärtig gepflegten anthropozentrischen Ansatz. Letzterer ist eine Realisierung der Aufforderung: „Macht Euch die Erde untertan, denn ihr seid die Krone der Schöpfung“. Das klingt religiös und das ist es wohl auch von seiner monotheistischen Grundlage her. Aber das zu beobachtende Verhalten hat vielleicht seinen Auslöser im religiösen Raum, aber der Umsetzung fehlt jedes religiöse Moment – hier herrscht schlicht Machtausübung: Was dem Menschen nutzt und als Ertrag Geld generiert, gilt zunehmend in den letzten 200 Jahren als gut und richtig. Die möglichen Gesichtspunkte anderer Beteiligter, die unter der Bezeichnung Umwelt oder Mitwelt oder externe Effekte laufen, gelten für den ‚Erfolg‘ als weitgehend irrelevant.

Der Systemansatz stellt das Leben (oder Überleben) eines Systems (z.B. die Biosphäre) in den Mittelpunkt der Betrachtung. Der Mensch und seine Mitwelten (als sogenannte Subsysteme) werden als gleichberechtigte Elemente des Systems der Biosphäre verstanden. Und für sie gilt es, das System der Biosphäre funktionsfähig zu halten. Die Funktion dieses ‚Makrosystems‘ liegt darin, das ‚Überleben‘ (die Erhaltung) des Systems und seiner Elemente sicherzustellen und seine weitere Entwicklung (Entfaltung) zu fördern. Allein die Tatsache, dass dieser Ansatz den Menschen (bisher die ‚Krone der Schöpfung‘) und seine Mitwelten auf eine Ebene stellt, ist aus der Sicht des alten Verständnisses der Rolle des Menschen in der Welt eine herbe Zurücksetzung. Es geht nicht mehr darum, dass der Mensch einen Ausgleich nur unter seinesgleichen finden muss; er muss sich auf Augenhöhe auch noch mit den Ansprüchen seiner Mitwelt auseinander setzen. Das wäre m.E. ein noch nie dagewesener Akt der Mäßigung, zumindest für die westliche Sicht auf die Welt. Dabei muss das System der Biosphäre erhalten bleiben und sollte sich auch entfalten können.

Das besondere Problem liegt dabei in der Verantwortung. Keine Spezies der Biosphäre ist technisch und mental in der Lage, so massiv auf die Biosphäre Einfluss zu nehmen wie der Mensch. Mit seiner Einflussfähigkeit wächst auch seine Verantwortung. Einige sprechen hierbei auch von Solidarität, die der Mensch im eigenen Interesse für die anderen Spezien der Biosphäre aufzubringen habe.

Wir haben die Ausführungen mit der Frage begonnen: Warum sollten wir Mäßigung üben? Wir haben auch recht plausible Antworten gefunden, einmal aus der Lebenspraxis und zum anderen Mal aus einer eher theoretischen vorausschauenden Sicht heraus. Die Lebenspraxis steht uns näher und spricht vermutlich mehr Menschen an, als der Versuch, Mäßigung aus einer theoretischen Sicht unter dem Primat der Verantwortung als notwendig zu erachten. In unserer gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umgebung erscheint mir der emotionale Affekt stärker verbreitet zu sein als das rationale Moment. Mäßigung hat objektiv einen Bezug zum freiwilligen Verzicht. Mäßigung stellt sowohl aus der Erfahrung heraus als auch aus einer eher theoretischen Perspektive langfristig eine hinreichend sichere Strategie zur Lösung der anstehenden Probleme dar. Wir gewönnen Zeit zur schrittweisen Abwägung unserer jeweils getroffenen Maßnahmen. Wir wären dann in der Lage, „Technologieoffenheit4“ nicht nur zu verbalisieren, sondern auch ggfs. zu konkretisieren. Wenden wir die Mäßigung als Grundsatz heute an, bevor uns die künftig absehbaren Umstände zur Unzeit zwingen werden, Einschnitte unseres Lebensstandards hin nehmen zu müssen.
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1Vgl. https://wiki.yoga-vidya.de/Mäßigung
2Dieser Begriff ist ein Widerspruch in sich selbst (Individualität vs. Masse). Er ist möglicherweise Ausdruck einer polarisierten Gesellschaft.
3Vgl. ausführlicher: Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, Teil II, München 2020
4Ein m.E. politisch sehr fragwürdiger Begriff – er klingt in den Ohren der Wähler gut, vernachlässigt aber die Tatsache, dass Technologie noch nie offen war: sie folgte stets dem großen Geld. Eine Invention, auf die die Welt gewartet hat, die aber keine private Rendite verspricht, oder die Rentabilität der gegenwärtig benutzten Geschäftsmodelle schmälert, wird sich kaum durchsetzen lassen. Dann ist die geforderte Offenheit doch ein „heiße Luftblase“.

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Warum tun wir uns so schwer…?

Wir blicken auf eine rund 75 Jahre umfassende Periode zurück, in der offensichtlich die westliche Wirtschaftsentwicklung, insbesondere in Europa, enorm zugenommen hat. Darin haben wir uns in der Erwartung einer vergleichbaren zukünftigen Entwicklung bequem eingerichtet. Aber schon seit 50 Jahren warnt die Wissenschaft (außerhalb der Ökonomie) vor der einseitigen (man könnte auch sagen: ideologischen) Wahrnehmung des Narrativs dieser Entwicklung.

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Der zunehmende Wohlstand begann in den 1970er Jahren sich von den wirtschaftlichen Erfolgs- und Wachstumsmeldungen abzukoppeln. Das statistisch gemessene Bruttoinlandsprodukt (BiP) nahm weiter zu, während der „Wohlstand“ als ein etwas komplexerer Zusammenhang stagniert bzw. sinkt.

Die Erfolgsseite stellt uns die Ökonomie regelmäßig in den schönsten Farben dar. Über die Schäden, die dieser Erfolg weltweit auslöst und ausgelöst hat, kann die Ökonomie gar nicht berichten, weil ihr dafür die notwendigen Instrumente fehlen. Die Ökonomie behandelt diese schädlichen Sachverhalte pauschal als „externe Effekte“ und kann darüber keine hinreichend konkreten Aussagen treffen. Die Ökonomie hat sich aus der konstruktiven Diskussion um eine tragfähige Lösung leider selbst eliminiert.

Als Folge kommen die Einwände gegen die unveränderte Fortführung unserer Wirtschaftsweise auch eher aus der Physik, der Biologie, der Ökologie und aus den Sozialwissenschaften. Die Herausforderung liegt nun darin, dass die relativ geschlossene (‚enge‘) und bis dato anerkannte Denkstruktur der Ökonomie einer interdisziplinär zusammengesetzten, empirisch basierten Wissensbasis gegenübersteht, das zahllose Einzelaussagen betroffen hat, denen aber ein offizielles und anerkanntes (relativ homogenes) „Weltbild“ fehlt. Die Zusammenhänge müssen m.E. dabei komplexer erfasst werden als jene der Ökonomie und erfordern, weil neu, einen relativ hohen Informationsstand nicht nur in einer Wissensdisziplin, sondern in verschiedenen Wissensbereichen, was oft den Eindruck vermittelt, dass die vielen Wissensinseln in einem „Meer des Nichtwissens“ ohne inneren Zusammenhang schwimmen.

Wir haben in der Schule und an den weiterbildenden Einrichtungen regelmäßig gelernt, dass die ‚Welt‘ in Kästchen verpackt werden kann und dass die Kästchen durchaus auch unabhängig von einander existieren können. Nun hat die Wissenschaft festgestellt, das diese Erwartung nicht erfüllt werden kann – alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Damit benötigen wir dringend ein neues umfassendes ökologisches „Weltbild“ oder Narrativ des Geschehens, jenseits der linearen ökonomischen Modelle, auch um die Sorge, Angst und Ablehnung gegenüber den „Neuen Erkenntnissen“ abbauen zu können.

Wir sprechen gerne von Individualismus, wenn wir im Grunde den Egoismus meinen – es klingt einfach verbindlicher. Wenn wir von Nützlichkeit oder vom ökonomischen Nutzen sprechen, so ist i.d.R. der anthropozentrische Aspekt der Sache gemeint, die Sache nutzt in erster Linie dem Akteur und in seltenen Fällen den Menschen seiner unmittelbaren Umgebung. Den Schaden an anderer Stelle übersehen wir in unserer Bequemlichkeit und egoistischen Selbstbezogenheit gerne.

Wenn wir uns von der egoistisch-ökonomischen Perspektive frei machen wollen, so müssen wir den einseitigen Aspekt des Nutzens zu einer Funktion erweitern, die der Erwartung über den persönlichen Nutzen hinaus einen allgemeinen systemischen Sinn gibt. Der anthropozentrische Aspekt muss einem systemischen Zweck weichen, der nicht allein durch ‚meine‘ individuellen Wünsche, sondern durch eine Funktionserfüllung im Rahmen des Systems der Biosphäre bestimmt wird.

Da Nutzen regelmäßig im Rahmen der Ökonomie in Geld ausgedrückt wird, verliert diese Denomination im Rahmen des systemischen Ansatzes seine grundlegende Bedeutung. Funktion (oder auch ‚Sinn‘) lässt sich nur in Ausnahmefällen durch Geld ‚substituieren‘ (ersetzen).

Auf der Suche nach einem Ersatz der Dominanz unseres einseitigen ökonomischen Denkens muss man sich fragen, ob es Ausführungen oder Darstellungen hinsichtlich der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungsperspektiven gibt, die qualitativ gut aufbereitet sind, die über eine ausreichende ‚prognostische Relevanz‘ verfügen und die auf den üblichen ökonomischen Begriffsapparat weitgehend verzichten und trotzdem relativ treffsichere Aussagen machen können. Die Treffsicherheit der meist kurzfristigen ökonomischen Prognosen lässt regelmäßig viele Wünschen offen; langfristige Prognosen erscheinen aufgrund des eingeschränkt kurzfristigen Perspektive der Ökonomie gar nicht möglich.

Als langfristige und relativ genaue Prognose fällt die Studie über „Die Grenzen des Wachstums“ aus dem Jahr 1972 auf. Die dort getroffenen Feststellungen sind in ihrer Treffsicherheit jeder ökonomischen Prognose um Längen voraus, trotz des ungeheuren langen Zeitraums, den diese Studie abzudecken vorgibt. Es wäre also sinnvoll, sich zu fragen, was diese Studie auszeichnet.

Bei der Suche nach deren Grundlagen stößt man auf Ausführungen von Hartmut Bossel, einem Professor (em.) für Umweltsystemanalyse der Universität Kassel. Er war Mitglied des ‚Club of Rome‘ und hat an der oben genannten Studie offenbar mitgewirkt. Seine Erkenntnisse hat er in einem Buch1 niedergelegt. Ergänzt werden seine Ausführungen durch eine Veröffentlichung „Umweltwissen2“ (zuletzt 2013), in der die faktischen Zusammenhänge in zahllosen Schaubildern und Zahlen eindringlich präsentiert und kommentiert werden.

Worin bestehen die wesentlichen Unterschiede der Vorgehensweise des Club of Rome von derjenigen der herrschenden Ökonomie? Es beginnt schon bei dem Ziel oder dem Zweck, der die Betrachtung auf das Untersuchungsobjekt lenkt. M.E. ist der Zweck unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems (anders als es die Politik oft vorträgt) im Grunde auf eine individuelle Vermögensmehrung (andere sprechen von Kapitalakkumulation) beschränkt. Der eigentliche Sinn (oder die Funktion) des Wirtschaftens, der sich als ‚Versorgung‘ verstehen ließe, ist dabei nur Mittel zum Zweck. Die Versorgungsfunktion ist ein Beiprodukt (auch Kuppelprodukt), um nicht die Vermögensmehrung (als Ausdruck einer schlichten Gier) als ausschließliches Ziel der wirtschaftlichen Aktivitäten nennen zu müssen.

Schaut man sich die Vermögensverteilung an, so wird deutlich, dass dieses Ziel der Vermögensmehrung seit Jahrzehnten etwa die Hälfte unserer Bevölkerung wirklich erreicht. Die andere Hälfte trägt wahrscheinlich nicht weniger zur Wirtschaftsleistung bei, aber die individuelle Vermögensmehrung kommt bei ihnen nicht an.

Mit dem Ziel der individuellen Vermögensmehrung wird auch deutlich, dass Wirtschaften in unserem heute verwendeten Sinne die Biosphäre mit keinem Wort erfasst noch versteht. Die Biosphäre ist ausschließlich Ressource, also Mittel zum Zweck der Vermögensmehrung. Die vornehmlich rücksichtslose Vernutzung der Biosphäre ist vergleichbar mit einem Sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen.

Das gegenwärtige Wirtschaftssystem ist nicht nur anthropozentrisch ausgelegt, es wurde, ausgelöst durch das vermeintlich unbegrenzte Wirtschaftswachstum, auch von der Idee getrieben, man könne alles „Schneller, höher und weiter“ machen, wobei der Ressourcenverbrauch völlig aus dem Blick geriet, weil man mit dem Begriff der Substitution und des technologischen Fortschritts glaubte, immer einen Ausweg finden zu können. Das Postulat unbegrenzten Wachstums wäre bei einer Anerkennung begrenzter globaler Ressourcen ein offensichtlicher Widerspruch in sich.

Damit genug des Versuchs, das bestehende Wirtschaftssystem auf sein Ziel hin zu beschreiben. Unser Wirtschaftssystem verfügt über keinen allgemeinen Sinn oder eine Funktion, da selbst die Wohlstandsschaffung aufgrund der Vermögensverteilung und der Wohlstandstatistik mit dem Wirtschaftswachstum nicht mehr korreliert. Deshalb wurde oben festgestellt: Unser Wirtschaftssystem dient ausschließlich der individuellen Vermögensmehrung unter der falschen Annahme grenzenlosen Wachstums und unter wissentlicher Inkaufnahme der Zerstörung unserer künftigen Lebensgrundlagen.

Was wäre die Alternative? Hartmut Bossel hat in seinem Buch „Umweltwissen“ versucht einen Handlungsrahmen zu beschreiben. Der Rahmen wird durch die Biosphäre und ihre Rückkopplungen bestimmt und es besteht die Erwartung, dass der Mensch sich mit seinem wirtschaftlichen Handeln an den Vorgaben und Einschränkungen der Biosphäre auszurichten hat. Das Wirtschaften hat nur in diesem Rahmen seinen nachhaltigen Platz. Dem Biosphären-Ansatz fehlt folglich die ausschließliche Anthropozentrik unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems.

Ausgangspunkt des vorgeschlagenen Ansatzes ist das Handelns in einem Rahmen von „Erhaltung und Entfaltung“ (vgl. Umweltwissen, I3.5, S. 10). „Aus der Grundforderung der nachhaltigen Entfaltungsfähigkeit lassen sich recht präzise die Bewertungskriterien und ihre Gewichtung angeben und abgrenzen (…). Sie sind also nicht beliebig und lassen sich nicht als ‚Ideologie‘ fortschieben. (…) Dagegen zeigt sich bei einer solchen Betrachtung die ganze ideologische Fragwürdigkeit von Kriterien wie ‚Wirtschaftlichkeit‘, ‚Kostenminimierung‘, ‚technische Höchstleistung’, ‚Konkurrenzfähigkeit‘ usw., die nur im gewichteten Zusammenspiel mit anderen Kriterien eine gewisse Existenzberechtigung haben.3“ Durch diese Verschiebung der Prioritäten könnte die Dominanz der Wirtschaftsdenkens aufgehoben oder doch stark relativiert werden.

Die Realisierung eines solchen Handlungsrahmens wird uns Menschen zwangsläufig eine umfassendere Verantwortlichkeit auferlegen. Es kann nicht mehr nur darum gehen, dass wir als Spezies einseitig unser ganz persönliches „Wohl“ ausleben. Wir müssen uns verpflichtet fühlen, wenn nicht die gesamte Biosphäre im Blick zu behalten, so doch die Situation unserer künftigen Generationen lebenswert zu gestalten. „Unsere Handlungen haben beträchtliche Wirkungen auf die ferne Zukunft und die dann existierenden Organismen und Systeme. Da wir bewusst handeln und viele dieser Wirkungen kennen, erhebt sich die Frage, inwieweit wir absehbare künftige Folgen bei unseren heutigen Handlungen berücksichtigen müssen.4“ Sie muss durch eine bewusste Wertentscheidung zur Übernahme von Verantwortung durch den Menschen beantwortet werden.

Unser bestehendes Wirtschaftssystem glaubt immer noch große Teile der Verantwortung an den „Markt“ abgeben zu können, in der Erwartung, dass dieser Mechanismus diese Aufgabenstellung nach der Devise übernimmt, was der Markt macht, ist ‚richtig‘, ‚gerecht‘ und ‚vernünftig‘. Das ist ein gewaltiger Trugschluss – der Markt ist wie ein Algorithmus: was nicht in ihn hinein programmiert wird, kann er auch nicht leisten. Und das Programm schreiben hoffentlich weiterhin wir Menschen und keine anonyme künstliche Intelligenz.

Was heißt nun Erhaltung und Entfaltung im Einzelnen? Bossel folgt dabei einer systemischen Sichtweise und führt aus, dass Mindestanforderungen für folgende fünf Leitwerte gegeben sein müssen, um das System Biosphäre zu erhalten und zu entfalten:

  • Physische Existenz und Reproduktion
  • Handlungsfreiheit
  • Sicherheit
  • Wirksamkeit
  • Wandlungsfähigkeit

„Diese Leitwerte ergeben sich aus aus der folgenden Fragestellung: Was sind die elementaren Erfordernisse eines selbstorganisierenden Systems, dessen Überleben und Entfaltung von verstreuten Ressourcen in einer sich zufällig verändernden und teilweise feindlichen Umwelt abhängen.5

Dabei verkörpert ‚Existenz‘ den Umstand, dass das Überleben eines offenen Systems vom freien Austausch von vorhandenen Stoffen, Energie und Information mit seiner Umwelt abhängt.

Mit ‚Handlungsfreiheit‘ ist die Fähigkeit gemeint, Bedrohungen des Systems durch alternatives Handeln vermeiden oder abwenden zu können. ‚Sicherheit‘ erfordert eine gewisse Kontinuität, Stabilität und Regelmäßigkeit, um eine Vorhersehbarkeit von Überlebenschancen entwickeln zu können. Die ‚Wirksamkeit‘ stellt sicher, dass die Beschaffung von Stoffen aus der Umwelt i.d.R. zu angemessenen Erträgen führt. Die ‚Wandlungsfähigkeit‘ versetzt das System in die Lage, auf Veränderungen der Umwelt durch eine Veränderung seiner Struktur und/oder seines grundsätzlichen Verhaltens (Selbstorganisation) zu reagieren.6

Nochmals zurück zur Ausgangsfrage: Warum tun wir uns so schwer, auf breiter Basis einen Wandel herbeizuführen? Wir sind diesbezüglich in den letzten 200 Jahren vom Schicksal verwöhnt worden. Die aufkommende Technologie, gepaart mit dem Kapitalismus, haben uns schrittweise in eine Situation geführt, die man zumindest seit den letzten 50 Jahren mit Überfluss7 beschreiben könnte. Unser System hat sich von der Notwendigkeit des Broterwerbs schrittweise in einen Zustand gewandelt, indem nicht mehr die Versorgung im Zentrum steht, sondern wir gezwungen sind, durch überproportionalen kurzfristigen Konsum das im wesentlichen Geld generierende System am Laufen zu halten. Es wäre ein Perpetuum mobile, wenn nicht gleichzeitig die Abfallberge gewaltig wachsen und die Lebensgrundlagen durch dieses Verhalten zunehmend reduziert würden. Die ständig wachsenden künstlich stimulierten Bedürfnisse einerseits und das überbordende Angebot lassen das Leben für viele als ganz einfach erscheinen – aber das ist ein Tanz auf dem Vulkan oder alternativ: es ist ein Stühlerücken auf dem Deck der ‚Titanic‘.

Nun kommt die Wissenschaft, die erst in den letzten Jahrzehnten in ihre heutige Bedeutung für Politik und Gesellschaft hineingewachsen ist, und kann anhand weitgehend unbestreitbarer Erkenntnisse darstellen, dass der ‚Tanz‘ absehbar sein Ende finden wird. Nicht weil der Wohlstand nicht tragfähig sein könnte, sondern weil die verwendeten Erfolgsfaktoren der Wirtschaft in einer endlichen Welt uns bisher nur die positive Seite des Prozesses dargestellt haben. So gesehen ist die Wissenschaft der Überbringer einer ‚schlechten‘ Nachricht und in der Bequemlichkeit des Status quo wirkt diese Aussage für das breite Publikum einfach störend oder lästig, weil man sich der aufkommenden Verantwortlichkeit des Menschen, die im systemischen Ansatz angesprochen wird, überhaupt nicht bewusst ist. Die ‚Leute‘ neigen dazu, den unangenehmen Fakten auszuweichen, auch weil natürlich unser Wirtschaftssystem bis dato durch Erfolgsmeldungen eine optimistische Erwartungshaltung verbreitet hat, die jeder Grundlage entbehrt. Man hat die negative Seite des Prozesses systematisch ausgeblendet und so lange als möglich unterdrückt. Und das funktioniert nun nicht mehr!

Die von der Wissenschaft dargestellten Aussichten sind nicht schlecht, aber sie erfordern ein radikales Umdenken und die globale Sorglosigkeit hat ein Ende, weil einer großen Minderheit klargeworden ist, dass die Welt endlich ist und in einer endlichen Welt kein fortwährendes Wachstum möglich ist. Damit wurde die Ikone des Kapitalismus ‚geköpft‘ und das einfach gestrickte Narrativ vom Glück auf der Basis von Wachstum funktioniert so nicht mehr. Es wäre wünschenswert, wenn die Wirtschaftswissenschaften in der Lage wären, Ökonomie auch mal kreativ anders zu denken als nur in den eingefahrenen kapitalistischen Strukturen und Verfahrensweisen. Und dabei nicht nach hinten schauen, sondern das Leben voraus schauend gestalten. Die Begriffe Innovation und Kreativität werden von den Wirtschaftswissenschaften ständig strapaziert, aber eine Anwendung der Begriffsinhalte auf die eigene Sache ist m.E. nicht erkennbar.

Wenn wir jetzt im gesellschaftlichen Rahmen proaktiv handeln könnten, so hätten wir noch beachtliche Handlungsfreiheiten. Je länger wir warten müssen (bis die Erkenntnis durchgesickert ist), desto weniger Freiheitsgrade verbleiben für ein künftiges Handeln. Am Ende des Prozesses besteht vermutlich keinerlei Freiheitsgrad mehr und wir müssen uns dann dem schmalen Korridor anvertrauen, den uns die Situation hoffentlich noch lässt. Wir werden dann Gefangene unserer Unfähigkeit sein, als richtig Erkanntes rechtzeitig und positiv zu akzeptieren und der Vernunft Priorität gegenüber der scheinbaren Bequemlichkeit eines „Weiter so“ einzuräumen.

1Bossel, Hartmut, Globale Wende, Wege zu einem gesellschaftlichen und ökologischen Strukturwandel, München 1998

2Bossel, Hartmut, Umweltwissen, Daten, Fakten, Zusammenhänge, Springer Verlag, 1994

3Bossel, H., a.a.O. Seite 10

4Bossel, H., a.a.O. Seite 146

5Bossel, H., a.a.O. S. 146

6Vgl. ausführlicher Bossel, a.a.O. S. 146 f.

7Vgl. J. K. Galbraith, Die Überflussgesellschaft, 1962

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Das Rechtssystem und das politische Handeln

Der Politik ist es gelungen, dem Klima-Protest einen ‚Dreh‘ zu geben, der von den Kernproblemen ablenkt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser ‚Dreh‘ auch durch Kommunikationsfehler der Protestbewegung selber unterstützt wurde: Die radikalen Aktionen der Teilnehmer der „Letzten Generation“ (aber nicht ihr Grundanliegen) haben soviel Unmut in die Bevölkerung getragen, dass der Zusammenhang von den Aktionen und dem Klimawandel für viele Bürger nicht mehr hergestellt werden kann. Und das ist Wasser auf die Mühlen einer verhängnisvollen Politik.

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Wo liegt das Kernproblem? In 2011 wurde die damalige Bundesregierung von Seiten ihres Wissenschaftlichen Beirates in Sachen Globale Umwelt (WBGU) dringend darauf hingewiesen, im Rahmen eines neuen gesellschaftlichen Sozialvertrages die praktizierte politische Moderation durch eine politische Gestaltung zu ersetzen1. Danach ist wenig geschehen, aber die einen oder anderen Grenzwerte wurden aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse gesenkt. Es wurde aber (offensichtlich) vergessen, dafür zu sorgen, dass es eine unabhängige Instanz gibt, die auf die Einhaltung der Grenzwerte achtet und es wurde auch vergessen, entsprechend klare Sanktionsmechanismen bei Nichterfüllung zu bestimmen. Ob hierbei wirklich von einem Vergessen gesprochen werden kann, erscheint mir zweifelhaft, weil es sich um so simple handwerkliche Mängel handelt, die wohl mit System vorgenommen wurden.

Die NGO ‚Deutsche Umwelthilfe e.V.‘ (DUH) hat an diesen Gesichtspunkt angesetzt und hat eigene Messungen durchgeführt bzw. gerichtlich veranlasst. Die Ergebnisse sind vielfach erschreckend schlecht. Die DUH hat als Folge verschiedene Organe der Exekutive und der Wirtschaft (Städte, Landkreise, Wirtschaftsunternehmen) hinsichtlich dieser „Nachlässigkeit“ vor Gericht verklagt, um öffentlich deutlich zu machen: Hier gibt es eindeutige Regeln für unser Gemeinwesen und ihr kümmert euch einen „feuchten Kehricht“ um deren Einhaltung. In vielen Fällen war dieses Vorgehen vor Gericht erfolgreich, aber geändert hat sich in der politischen Praxis wenig. Die Regeln sind scheinbar nicht das Papier wert, auf dem sie fixiert werden.

Diese Beschreibung erfasst die täglichen kommunalen oder regionalen Unzulänglichkeiten. Bei der Automobilindustrie waren es dann die gefälschten oder sagen wir „geschönten“ Abgaswerte, die zusammen mit wesentlicher Unterstützung durch Ergebnisse der amerikanischen Umweltbehörde letztlich dazu geführt haben, dass Teile dieses „ehrenwerten“ Gewerbes öffentlich juristisch als „kriminelle Vereinigung“ klassifiziert wurde. Dieser Sachverhalt wurde zwar auf kleiner Flamme gehalten, aber es ist schon ein Hammer, dass ausgerechnet jene Branche, von der viele glaubten, sie sei technisch weltweit führend, zu Mitteln und Maßnahmen gegriffen hat, die jenen der Mafia nicht unähnlich sind.

Steigen wir noch eine Stufe die Hierarchie hinauf: „Das Klimaabkommen von Paris (…) ist nach einer Ratifizierung durch den Bundestag gemäß Art. 59 des Grundgesetzes unmittelbar geltendes Bundesrecht. Und die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts haben der Bundesregierung, die dies nicht genug ernst zu nehmen schien, in ihrem Klimabeschluss vom März 2021 die Lage noch einmal deutlich auseinandergesetzt. (…) Das Abkommen ist verbindlich, dagegen zu verstoßen, ist verboten. Die Bundesregierung, die sogar laut ihrem eigenen Expertenrat für Klimafragen ihre bescheidenen, selbstgesteckten Ziele laufend verfehlt, bricht (damit geltendes -VF) Recht.2

Und das sind m. E. jene Punkte, die bei den Aktionen der „Letzten Generation“ nicht ausreichend kommuniziert und hervorgehoben werden. Es richten sich alle Blicken auf das Spektakuläre der Aktion ohne lautstark den Bezug zu der Tatsache herzustellen, dass die Bundesregierung laufend ihren gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachkommt.

Was ist zu tun, wenn die Spitze der Exekutive geltendes Recht bricht und dabei versucht, so zu tun, als ob das ‚common sense‘ wäre? Die „Letzte Generation“ hat daraus ein „Recht“ zu außergewöhnlichen Maßnahmen abgeleitet, gewissermaßen aus Notwehr „der Regierung mit einem „empfindlichen Übel“ zu drohen, wie es im Nötigungsparagraphen 240 des Strafgesetzbuches formuliert ist (…). Das Ungewöhnliche daran ist: Die Täter verlangen nichts, was die Regierung nicht ohnehin längst zu tun verpflichtet wäre. (…) Dass man jemanden nötigt, die Regeln einzuhalten – das ist ‚ziviler Ungehorsam‘ von der wirklich bravsten Sorte3.“

Dadurch entsteht aber eine komplizierte Situation, „die jeden Strafrichter erst einmal perplex machen muss4.“ Laut Steinke ist die Aktion der „Letzten Generation“ trotzdem illegal. Steinke begründet diese Auffassung, dass – vereinfacht gesagt – das Rechtssystem in Gefahr sei.

„Wenn etwas so Wichtiges auf dem Spiel steht wie die Erhaltung der Lebensgrundlagen der Spezies Mensch, dann übersteigt das locker alles andere. Den Straßenverkehr, das Hausrecht, das Eigentum, alles. (…) Die juristische Billigung des ‚zivilen Ungehorsams‘ wäre, wie es der Augsburger Strafrechtler Michael Kubiciel kürzlich auf den Punkt gebracht hat, ‚systemsprengend‘5.“

Je länger die Bundesregierung als oberstes Exekutivorgan nicht bereit ist, sich den selbstgegebenen Regeln zu unterwerfen, desto fragwürdiger wird die Diskussion über zivilen Ungehorsam. „Die Dinge sind in Bewegung“, meint Steinke.

Die Deutsche Umwelthilfe e.V. ist schon länger recht erfolgreich auf dem Weg durch die Instanzen. Es ist den „Brüdern und Schwestern im Geiste“ neben ihren öffentlichen Aktivitäten anzuraten, sich mit einem Bein auch diesem Marsch durch die Instanzen anzuschließen. Er erscheint mir langfristig als der nachhaltig Erfolgversprechendere, weil die Justiz begriffen hat, dass sich hier ein Wandel vollzieht, der nicht mehr aufzuhalten ist. Denken Sie daran, dass noch vor wenigen Jahren es fast nicht möglich war, großen Wirtschaftsunternehmen erfolgreich Grenzen oder rote Linien aufzuzeigen. Inzwischen sind zahllose Verfahren anhängig, die die Betroffenen Zeit, Geld, Reputation und Aufmerksamkeit kosten und zunehmend lästig werden.

Wenn der Eindruck entsteht, dass sich die öffentlichen Körperschaften (insbesondere Staat, Land und Kommunen) um die Einhaltung ihrer eigenen Regeln drücken (können), welche Auswirkungen müssen wir dann für die Zivilgesellschaft befürchten? Ein Rechtssystem ist nur so gut, als sich eine überwältigende Mehrheit an die dort fixierten Regeln hält. Hier haben die öffentlichen Körperschaften eine klare Vorbildfunktion, die nicht zu unterschätzen ist.

Gegenwärtig wird bezüglich des Strafmaßes für einige hochrangige Automanager „verhandelt“ und man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass hier wieder mit zweierlei Maß gearbeitet wird. Wenn ich mir die Schadenhöhe ansehe und dann das diskutierte Strafmaß, kommen mir Zweifel, ob diese Zusammenhänge wirklich angemessen bewertet werden. Diese Entscheidungen werden ja auch öffentliche Folgen nach dem Motto haben: „die kleinen hängt man und die großen lässt man laufen“. Die angewandten juristischen Taschenspielertricks sind dem Normalbürger kaum zu vermitteln.

Weiterhin ist zu beobachten6, das die Strukturen der Justiz aus der Zeit fallen. Man glaubt beobachten zu können, dass die Aspekte Zeit, Kosten und notwendige Aufmerksamkeit von juristischen Verfahren viele Unternehmen dazu bewegt, Meinungsverschiedenheiten statt über langwieriges „Recht sprechen“ (und ev. „Recht bekommen“) durch Geld geregelt wird. Offenbar rechnet sich diese Vorgehensweise, wenn man Kosten und Nutzen gegeneinander verrechnet. Was dabei zu kurz kommt, ist das, was man „Recht“ nennt und was bisher einen relativ hohen gesellschaftlichen Stellenwert inne hat. Es sollte „Dinge geben, die man für Geld nicht kaufen kann“ (Michael J. Sandel).

Haben Sie sich schon einmal in einer modernen digital ausgestatteten Rechtsanwaltskanzlei umgesehen und haben Sie dann die Gelegenheit gehabt, bei Gericht die Abläufe zu beobachten? Dann können Sie vielleicht verstehen, warum es junge Spitzenanwälte unabhängig vom Geld nicht ins Richteramt drängt.

Unabhängige Rechtsprechung ist aber eine infrastrukturelle Dienstleistung, die nur solange in Anspruch genommen wird, als sich Nutzen und Kosten in etwa ausgleichen. Kann man dieses Gleichgewicht nicht mehr bereitstellen, ist auf Dauer die Rechtsstaatlichkeit unseres Handelns gefährdet.

In diesem Blog habe ich an vielen Stellen darauf hingewiesen, dass wir in einem Transformationsprozess befinden, dessen Verlauf noch in keiner Weise absehbar ist. Viele uns als selbstverständlich vertrauten Zusammenhänge sind in Auflösung begriffen. Viele scheinbare Sicherheiten müssen einer Risikobetrachtung weichen. Man könnte aus den bisherigen Ausführungen auch den Schluss ziehen, dass auch unser (ziemlich ausgeklügeltes) Rechtssystem Teil des Transformationsprozesses ist oder sogar sein muss.
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1German Advisory Coucil on Gloabl Change (dt.: WBGU), A Social Contract for Sustainability (Flagship Report), Berlin 2011 (die deutsche Fassung ist leider vergriffen), Kap. 5

2Steinke, Ronen: Alles, was Recht ist, in: SZ Nr. 92 vom 21. April 2023 (Feuilleton)

3Steinke, R., a.a.O.

4Steinke, R. a.a.O.

5Steinke, R. a.a.O.

6Vgl. SZ vom 26.04.2023, S. 5 (Rätselhafter Klageschwund, Wolfgang Janisch)

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