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Eine ‚volle‘ Welt und ihre Konsequenzen

Letzte Woche bestand die Gelegenheit an einem Umwelt-Puzzle1 teilzunehmen. Das Umwelt-Puzzle ist eine Veranstaltung, bei der in Gruppenarbeit mit Moderatoren auf wissenschaftlicher Basis Fragen zu unserer Umweltsituation gestellt werden, für die die Teilnehmergruppen Ursache-Wirkungs-Ketten zusammenzustellen hatten.

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Die Teilnehmer waren nach drei Stunden gemeinsamer Diskussion überrascht über die hohe Komplexität der Problemstellung. Es wurde den Teilnehmern auch klar, einfache Lösungen wie das Narrativ des ‚Weiter so‘ oder ‚der Markt wird es schon richten‘ sind keine vernünftigen Optionen.

Ein Aspekt hat mich dann besonders herausgefordert. Es wurden in den Diskussionen die menschliche Aktivitäten aufgegriffen und deren Wirkungen auf die Umwelt diskutiert. Aber der Mensch als Spezies und wesentliche Ursache all der Probleme stand nicht zur Diskussion. Mein Eindruck war, dass diese Selbstreflektion über die Rolle des Menschen in der Umwelt-Problematik möglicherweise die Teilnehmer überfordert hätte.

Um diese Fragestellung auf einer relativ einfachen Ebene zu verdeutlichen, kann man auf die Unterscheidung von einer ‚vollen‘ und einer ‚leeren‘ Welt zurückgreifen. Ich habe diese Begriffe erstmals bei Hermann Daly kennengelernt. Das ‚Leer‘ und ‚Voll‘ bezieht sich bei mir auf die menschliche Besiedlungsdichte und der Begriff unterstellt nach meiner Interpretation, dass wir seit 200 Jahren in einer zunehmend ‚vollen‘ Welt leben und wirtschaften. Mit anderen Worten, die heutige Umwelt-Problematik ist in erster Linie eine Frage der Siedlungsdichte des Menschen, die sich weltweit von ca. einer halben Milliarde Menschen im ausgehenden Mittelalter inzwischen auf ca. acht Milliarden Menschen (2024) angewachsen ist2. Und das hat natürlich Folgen für unser gegenwärtiges und zukünftiges Handeln!

Wer die Entwicklungskurve der Weltbevölkerung auf Wikipedia (siehe unten Fußnote 2) auf sich wirken lässt, wird erkennen können, dass diese Entwicklung in den letzten 200 Jahren den Betrachter sehr stark an eine Exponentialfunktion erinnert. Die Zuwächse wachsen dabei funktionsbedingt ihrerseits überproportional. Eine Exponentialfunktion in einem geschlossenen System Erde ist eine höchst problematische Entwicklung, weil das Systemelement ‚Mensch‘ in einem überproportionalen Maße zunimmt und alle anderen (notwendigen und wichtigen ) Elemente des Systems überwuchert und ihnen ihre Existenz streitig macht.

Wissenschaftliche Szenarien gehen davon aus, dass bei einer friedliche Entwicklung die Zunahme der Menschheit etwa bei 10 – 12 Milliarden Menschen deshalb endet, weil die Erde mehr Menschen nicht ernähren kann. Da nützt auch der Einsatz von Chemie nichts mehr, weil diese Zahl von Menschen soviel Lebensraum benötigt, dass kein ausreichender Platz für die notwendige Ernährung dieser Menschenmassen zur Verfügung stehen wird. Dabei ist die Voraussetzung der Friedfertigkeit schon eine sehr optimistische Annahme.

Nehmen wir die wissenschaftlichen Aussagen zur Klimakrise ernst, so wird unsere Ernährungsgrundlage künftig durch Hitze (Dürren), Starkregen und heftige Unwetter stärker in Frage gestellt als in den Jahrzehnten zuvor. Damit schrumpft auch die bewohnbare und landwirtschaftlich nutzbare Landfläche. Mit anderen Worten, der Mensch ist der Kern des Problems und nicht die Um- oder Mitwelt, die nur auf die Entwicklungen der Menschheit mit ihren evolutionär (seit Jahrtausenden) erprobten Strategien reagiert. Damit rückt die Frage, wie wir die exponentielle Entwicklung der Menschheit stoppen oder wenigstens bremsen können, in den Mittelpunkt des Geschehens.

Wie kann man sich eine Lösung vorstellen? Paul Raskin et al.3 haben 2002 versucht, für die ‚Große Transformation‘ sechs Szenarien zu entwickeln, wie sich die Veränderung vollziehen kann oder könnte. Die ‚konventionelle‘ Strategie („Weiter so“) folgt entweder dem marktorientierten Gedanken („der Markt wird es schon richten“) oder alternativ dem Weg, den Keynes vorgeschlagen hat („Markt kombiniert mit politischer Steuerung“) und letzterem sind wir zumindest nach den ersten Nachkriegsjahren unter dem Namen ‚Keynesianismus‘ ein Stück weit gefolgt. Das andere Ende der denkbaren Szenarien wird als ‚Verfall und Barbarei‘ umschrieben und umfasst die Alternativen einer ‚Welt als Festung‘ oder als kompletter ‚Zusammenbruch der Zivilisation‘. Der dritte Weg ist die Transformation und das ist der Weg, den Raskin und seine Kollegen anstreben, ausarbeiten und für realisierbar halten.

Die häufig anzutreffende Auffassung, dass die „Marktkräfte“ das Problem lösen werden, wird als ein Trugschluss beschrieben: „Die Zukunft der Marktkräfte würde unseren Nachfahren unter Umständen eine riskante Hinterlassenschaft bescheren. Das Szenario ist weder nachhaltig noch wünschenswert, denn auf diesem Entwicklungspfad liegen erhebliche ökologische und soziale Hindernisse. Bevölkerungswachstum, Wirtschaftswachstum und der Raubbau an den Ressourcen erhöhen den Druck auf die Natur.

Die Umweltzerstörung würde fortschreiten, statt eingedämmt zu werden, und die Gefahr würde wachsen, dass kritische Schwellenwerte überschritten und Ereignisse ausgelöst werden, die das Klima und die Ökosysteme der Erde radikal verändern. Der wachsende Druck auf die Ressourcen wird sehr wahrscheinlich zu Verteilungskämpfen führen. Die Erdölförderung lässt irgendwann in den nächsten Jahrzehnten nach, die Preise für Rohöl werden dann in astronomische Höhen klettern und die Energiefrage ins Zentrum der Weltpolitik rücken. In manchen Regionen ist jetzt schon absehbar, dass um Süßwasserreserven innerhalb und zwischen Staaten Kriege geführt werden könnten.“4

Raskin et al. sprechen bei ihrem Thema einer großen Transformation auch das Bevölkerungswachstum und seine eventuellen Begrenzungsmöglichkeiten oder -notwendigkeiten an. „Die Bevölkerung wächst, die Besiedlungsdichte steigt, auch das Durchschnittsalter verschiebt sich. Nicht wenige Prognosen nehmen bis 2050 (aus der Perspektive von 2002 – VF) einen Anstieg der Weltbevölkerung um 50 Prozent an. Dann würden sich 3 Milliarden Menschen mehr als derzeit auf der Erde drängen, überwiegend in den Entwicklungsländern. Wenn der Trend zur Verstädterung anhält, werden 4 Milliarden Neubürger in die Ballungsräume ziehen und Infrastruktur, Umwelt und sozialen Frieden auf eine harte Probe stellen. Die sinkende Fruchtbarkeit lässt das Durchschnittsalter in den Industriestaaten wachsen. Die Transferleistungen an die Älteren werden die Erwerbstätigen massiv unter Druck setzen. Great Transition würde das Bevölkerungswachstum bremsen, die Landflucht abschwächen und nachhaltigere Siedlungsformen bevorzugen.“5

Sie greifen auch das Phänomen der Migration auf, das eine Folge des Bevölkerungswachstums darstellt und erhebliche Wirkungen auf den Prozess der Transformation haben wird. Konservative Kreise neigen dazu, die nationalen oder europäischen ‚Mauern‘ hochzuziehen und rutschen damit sehr rasch in die Folgen des Szenarios einer ‚Welt als Festung‘. Dieses Szenario fällt in die Kategorie ‚Verfall und Barbarei‘ und scheidet m.E. als Lösungsansatz aus:

„Bildet sich jedoch die Welt als Festung heraus, haben es einige Akteure verstanden, die unheilvollen Entwicklungen für einzelne Enklaven abzuwenden. Sie können ihre eigenen Interessen verteidigen und bilden Allianzen. In der Anwendung von Gewalt sehen sie ein notwendiges Mittel, um den Wohlstand, die Rohstoffquellen und die Regierbarkeit der jeweiligen politischen Einheit zu sichern. Die Eliten ziehen sich in schützende Enklaven zurück, meist in den Industriestaaten, vereinzelt aber auch in den Entwicklungsländern. Einzelheiten sind in der Erzählung Die Welt als Festung nachzulesen.“6

Die Begrenzung des künftigen Bevölkerungswachstums wird uns neben dem Umbau unserer Gesellschaften zur Nachhaltigkeit eine nahezu übermenschliche Anstrengung abverlangen. Wir haben uns humanitäre Regeln auferlegt, die es verlangen, alle Teile der menschlichen Spezies gleichberechtigt in die Entwicklung des Planeten mit einzubeziehen. Die Würde des Menschen ist nicht teilbar. Wir haben mehr als 200 Jahre einen Teil der Menschheit die Würde vorenthalten, um unseren Wohlstand zu schaffen. In einer vollen Welt rächt sich dieses Verhalten. Dieser vernachlässigte Teil der Weltbevölkerung schlägt uns (vermutlich unbewusst) mit der einzigen „Waffe“, über die sie verfügen: über Bevölkerungswachstum und damit wachsender Migration – sie treffen uns an unserem wunden Punkt. Die Erhaltung des Wohlstands könnte zur Debatte stehen.

Wenn die Infrastruktur einer Gesellschaft nicht sicherstellen kann, dass für Krankheit, Alter und soziale Probleme der Menschen gesorgt ist, bleibt als Alternative nur die Vergrößerung der individuellen Familie als Überlebensstrategie. Um die soziale Last auf möglichst viele Schultern zu verteilen, muss die Familie groß sein. (Die Ökonomie erfasst das Phänomen unter dem Begriff der Skaleneffekte.) Werden die Familien zu groß, wird die familiäre Ernährungslage kritisch, weil das Vermögen der Familien aus ökonomischen Gründen oft nicht mit gewachsen ist. Also werden die jüngeren Familienmitglieder versuchen, neue Wege zu gehen. Sie suchen eine ertragbare Alternative und übernehmen dabei ein sehr hohes Risiko. Diesen Sachverhalt nehmen die Industriestaaten dann als Migrationsdruck wahr ohne nach den Gründen für dieser Herausforderung zu fragen.

Um diesen Druck abzubauen, macht es wenig Sinn, eine ‚Festung‘ auszubauen. Wir müssen dafür sorgen, dass der Grund für die Migration reduziert wird. Das kostet Investitionen, die wir initiieren müssen, um das Problem menschenwürdig zu lösen. Es könnte sehr gut sein, dass die Gelder, die wir hier einsetzen müssen, bei der ‚Großen Transformation‘ im eigenen Lande fehlen. Die Alternative ist die ‚Festung‘, die uns auch extra Kosten für Aufbau, Erhaltung und Verteidigung unserer ‚Festung‘ aufbürden werden, aber das Problem in keiner Weise löst.

„Die Veränderung von Werten und Gesellschaftspolitik im Zuge der Great Transition könnte den Bevölkerungszuwachs bis 2050 um 1 Milliarde Menschen verringern. Dafür wäre einerseits der Bedarf an Verhütungsmitteln zu decken und andererseits ein Umfeld zu schaffen, in dem die Menschen später eine Familie gründen und vor allem weniger Kinder haben wollen. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Geburtenkontrolle und Ausbildung, insbesondere der Mädchen, sowie der Chance auf einen Arbeitsplatz. Um den Bevölkerungsanstieg wirksam zu dämpfen, muss sich das Schulsystem in den Entwicklungsländern verbessern.“7

Ob dieser verringerte Bevölkerungszuwachs ausreicht, um den Migrationsdruck zu reduzieren, ist abzuwarten. Wir haben auf diesem Gebiet m.E. keine wirklichen Erfahrungen. Ich würde den Schwerpunkt auf die Bildung, insbesondere der Frauen und Mädchen, legen, weil mit wachsender Bildung sich die Frage nach Verhütung automatisch ergibt. Aber – wie oben ausgeführt – muss darauf geachtet werden, dass eine ausreichende, gesellschaftlich akzeptierte Infrastruktur geschaffen wird, die den Druck zur Bildung großer Familien aufhebt und damit auch den Migrationsdruck auflöst, um zu versuchen, in anderen Teilen der Welt „sein Glück zu machen“.

Der größte Bevölkerungsdruck entsteht auf der Südhalbkugel. Aber auch in den Industriestaaten führt die Siedlungsdichte zu einer Reihe von nahezu unvermeidlichen Problemen. Einerseits wäschst der Raumbedarf des Individuum in Bezug auf Wohnraum, Parkraum für Pkw, Freizeitaktivitäten u. ä.. Die Versiegelung der Böden schreitet im Eiltempo voran. Die Städte fressen sich in ihr Umland und zerstören landwirtschaftlich notwendige Flächen und die Menschenzusammenballungen produzieren Lärm, Hektik und letztlich Stress, die der Gesundheit abträglich sind und die emotionale Reizschwelle vieler Menschen senken. Das Zusammenleben wird dadurch schwieriger, weil komplizierter. Und die Politik pflegt teilweise noch Werte und Ziele, die aus einer Zeit stammen, als die Welt nach deutlich „leerer“ war.
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1Vgl. germany@climatefresk.org oder www.climatefresk.org

2Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Weltbev%C3%B6lkerung (aufgerufen am 9.3.2024)

3Paul Raskin et al., Great Transition – Umbrüche und Übergänge auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft, (dt. Übersetzung), 2002 (http://www.isoe-publikationen.de/publikationen/publikation-detail/?tx_refman_(März 2024))

4Paul Raskin et al., S.36

5Paul Raskin et al., S. 31

6Paul Raskin et al., S. 37 (dieses Narrativ ist lesenswert und öffnet eine erschreckende Perspektive, deren Eintrittswahrscheinlichkeit nicht von der Hand zu weisen ist.)

7Paul Raskin et al., S.68

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Wo stehen wir? Wohin gehen wir?

Ein Buch von Maja Göpel aus 2016, als PDF unter dem Titel ‚The Great Mindshift‘ veröffentlicht, ist mir wieder mal in die Hände gefallen und beim ‚Herumlesen‘ bin ich auf die Studie „The Great Transition – the Lure and the Promise of the Times Ahead“ aus dem Jahr 2002 des Stockholm Environment Institute, Boston und dem Tellus Institute gestoßen, auf der Göpel ihre weiteren Ausführungen aufbaut. Sie fasst den Inhalt für ihre Zwecke zusammen.

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Dabei entstand bei mir der Wunsch, diese Studie im Original zu lesen. Sie steht als kostenloses PDF im Internet zur Verfügung. Es gibt sogar eine autorisierte Übersetzung ins Deutsche.

https://greattransition.org/documents/gt_deutsch.pdf

Der deutsche Bericht umfasst 108 Seiten. Das ist mehr als sich hier sinnvoll verarbeiten lässt. Aber es lohnt sich, diesen Bericht herunterzuladen. Selten habe ich eine Studie gelesen, die mich mehr in ihren Bann zog.

Die Studie versucht Antwort zu geben auf die folgenden großen Fragen:

1. Wo stehen wir? (Was ist der aktuelle Stand 2002? Soviel weiter sind wir nicht gekommen)
2. Wohin gehen wir? (Wohin treiben wir?)
3. Wohin wollen wir? (Was wollen wir erreichen? Was sind unsere Ziele?)
4. Wie kommen wir ans Ziel? (Wie kommen wir dorthin?)
5. Die Geschichte der Zukunft
6. Formen des Übergangs

Dabei wird das anstehende Problem von der nationalen Ebene auf eine „planetarische“ Ebene gehoben und der Zeitbezug ausgeweitet: Die anstehenden Veränderungen werden nicht aus dem Handeln der letzten paar Generationen erklärbar. Es geht nicht um die nationale Befindlichkeit, sondern es wird deutlich, dass die „Great Transition“ ein Menschheitsproblem darstellt. Dabei werden viele Alternativen, die gewöhnlich auf der Ebene der ökonomischen Substitution oder mit der scheinbaren grenzenlosen Größe des Planeten beantwortet werden, plötzlich zu Fragen eines Nullsummenspiels innerhalb planetarischer Grenzen: was der eine zu viel in Anspruch nimmt, fehlt dem anderen, die ‚planetarische‘ Summe ist vom Grundsatz her immer Null.

Ein weiterer Gesichtspunkt der Studie ist unsere Auffassung von Wirtschaft. Damit diese von uns geschaffene Institution funktioniert, müssen wir auf vieles verzichten (ohne es als Verzicht wahrzunehmen) und erhalten dafür ein beachtliches Maß an Wohlstand, der wiederum auf Kosten anderer Menschen auf diesem Planeten erzielt wird (Nullsummenspiel). Das Ziel der Wirtschaft als Anhäufung materieller Dinge sollte durch ein humanitäres Ziel der menschlichen Entwicklung ersetzt werden, dem die Wirtschaftsaktivitäten zu dienen haben.

Die wechselseitigen Abhängigkeiten werden m.E. erstmalig in einem so umfassenden Zusammenhang dargestellt. Trotz der Komplexität wird versucht, sinnvolle Lösungsansätze zu finden. Der planetarische Ansatz macht aber auch deutlich, wie wenig Urteilsfähigkeit am rechten und linken Rand unserer Gesellschaft versammelt ist. Dort herrscht nicht der Verstand, dort herrscht m.E. die Angst vor der Veränderung. Dabei ist Veränderung ein wesentlicher und unverzichtbarer Teil unseres Lebens.

Da man davon ausgehen kann, dass wir mehr oder weniger wissen, wo wir stehen, erscheint die Frage wichtig, in welche Richtung entwickeln wir uns? Um eine realistische Antwort auf diese Frage zu finden, nutzen die Autoren die Szenario-Methode, indem sie drei Szenarien unter dem Begriff der „Weltsicht“ entwickeln. Für jeden dieser drei ‘Archetypischen Weltsichten’ lassen sich zwei Varianten entwickeln (vgl. Great Transition – Umbrüche und Übergänge auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft, 2002, S. 28 f.). Die drei Grundszenarien werden unter der Bezeichnung ‚Konventionelle Welten‘, ‚Barbarei und Verfall‘ und ‚Große Übergänge‘ geführt. „Für die erste Variante ist das Fortschreiben des Bestehenden charakteristisch, die zweite geht von einem grundlegenden, aber unerwünschten sozialen Umbruch aus und die dritte von einem ebenso grundlegenden, aber erwünschten sozialen Wandel.“(S. 26)

„Die Weltsicht der „Konventionelle Welten behauptet, dass sich die Welt im 21. Jahrhundert in derselben Richtung wie bisher weiterentwickelt, ohne große Überraschungen, ohne Brüche, ohne eine grundsätzliche Erneuerung der Zivilisation. Dieselben Kräfte und Werte, die derzeit die (ökonomische) Globalisierung vorantreiben, würden demzufolge auch die Zukunft prägen. Kleinere Anpassungen in Wirtschaft und Politik würden genügen, um soziale, ökonomische und ökologische Probleme in den Griff zu bekommen.“ (S. 26)

„Die Perspektive „Verfall und Barbarei beschwört die Möglichkeit, dass diese Probleme nicht bewältigt werden, sondern sich in einer Abwärtsspirale dramatisch steigern und damit das Krisenmanagement der bestehenden Institutionen überfordern. Am Ende stünden dann Anarchie oder Diktatur.“ (S.27)

„Das Szenario der Großen Übergänge, das im Zentrum dieses Essays steht, nimmt eine grundlegende, historisch einmalige Veränderung der Lebenseinstellung und der Gesellschaftsordnung in den Blick. Neue Werte und ein neues Leitbild der Entwicklung würden diesem Szenario zufolge die Lebensqualität und eine Grundversorgung aller Menschen, Solidarität und globale Gerechtigkeit sowie die Nähe zur Natur und ökologische Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt rücken.“ (S. 27)

„Für jedes der drei Szenarien definieren wir zwei Varianten und erhalten so insgesamt sechs Szenarien. Indem wir die Konventionelle Welten in Marktkräfte und Politische Reformen unterteilen, legen wir den Finger auf einen in der zeitgenössischen Debatte zentralen Punkt. In dem marktwirtschaftlichen Szenario treibt der offene Wettbewerb auf dem Weltmarkt die Entwicklung voran. Soziale und ökologische Aspekte gelten als sekundär. Im Gegensatz dazu geht das Szenario Politische Reformen von umfassenden, aufeinander abgestimmten staatlichen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und zum Erhalt der natürlichen Umwelt aus.

Auch das pessimistische Szenario Verfall und Barbarei unterteilt sich in zwei Varianten, den totalen Zusammenbruch und die Welt als Festung. Der Zusammenbruch tritt nach einer immer weitere Kreise ziehenden Spirale von Konflikten und Krisen ein, die schließlich außer Kontrolle geraten und sämtliche Institutionen unter sich begraben. Die Welt als Festung wäre die autoritäre Antwort auf den drohenden Zusammenbruch, bei der sich eine privilegierte Minderheit in einer Art globaler Apartheid durch einen Verbund abgeschotteter Enklaven gegen die Zumutungen der verarmten Mehrheit schützt.

Die beiden Varianten der Großen Übergänge heißen Öko-Kommunalismus und Neues Nachhaltigkeits-Paradigma. Der Öko-Kommunalismus kämpft für den Umweltschutz vor Ort, direkte Demokratie und wirtschaftliche Autarkie. Er ist zwar bei einigen Umweltgruppen und in anarchistischen Subkulturen beliebt, aber es ist nicht recht erkennbar, wie er sich trotz der derzeitigen Globalisierungstendenzen behaupten will, ohne die eine oder andere Form der Barbarei in Kauf zu nehmen. Das vorliegende Buch identifiziert Great Transition mit dem Neuen Nachhaltigkeits-Paradigma. Dieses könnte den Charakter der Zivilisation weltweit verändern, ohne in eine moderne Version der „Kleinstaaterei“ zurückzufallen. Die Hinwendung zur Nachhaltigkeit soll weltweite Solidarität, den Austausch unter den Kulturen und die wirtschaftliche Verflechtung fördern und gleichzeitig einen freiheitlichen, menschenwürdigen und ökologischen Übergang gewährleisten.“ (S.27)

„Die Szenarien unterscheiden sich in ihrer Reaktion auf die gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen. Marktkräfte verlassen sich auf die Selbstheilungskräfte des Wettbewerbs. Politische Reformen hängen davon ab, dass sich die überwältigende Mehrheit der Regierungen auf eine nachhaltige Zukunft einigt. Die Welt als Festung muss sich auf bewaffnete Kräfte verlassen, um für Ordnung zu sorgen, die Umwelt zu schützen und das Abgleiten in den Zusammenbruch zu verhindern. Das Szenario der Großen Übergänge strebt eine nachhaltige, lebenswerte Zukunft an und entwickelt dafür neue Werte, ein neues Entwicklungsmodell und hofft auf das Engagement von Bürgern und Bürgerinnen aus der ganzen Welt.“

„Die für die genannten Visionen jeweils charakteristischen Annahmen, Werte und Mythen haben ideengeschichtliche Wurzeln. (…) Das Szenario der Marktkräfte hängt einem merkantilen Optimismus an und glaubt an eine verborgene Hand, die für gut funktionierende Märkte sorgt und so alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme löst. Der wichtigste

Vordenker ist Adam Smith (1776), zu den aktuellen Vertretern gehören viele neoliberale Wirtschaftstheoretiker. ‚Politische Reformen‘ beruht hingegen auf der Überzeugung, dass die Märkte staatlicher Kontrolle bedürfen, um ihren immanenten Hang zu Wirtschaftskrisen, sozialen Unruhen sowie zur Umweltverschmutzung auszugleichen. John Maynard Keynes wurde unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise zum „Vater“ der Theorie, die den Kapitalismus mit seinen zerstörerischen Kräften in verträgliche Bahnen lenken will (Keynes 1936).

Hinter der These vom Zusammenbruch steht die trostlose Überzeugung, dass Bevölkerungsexplosion und hemmungsloses Wirtschaftswachstum direkt in den ökologischen Kollaps führen und heftige Verteilungskämpfe sowie den Niedergang der Institutionen auslösen werden. Thomas Robert Malthus hat in seinem „Versuch über das Bevölkerungsgesetz“ 1798 die These aufgestellt, die einer arithmetischen Reihe folgende Nahrungsmittelproduktion könne keinesfalls mit dem der geometrischen Progression gehorchenden Bevölkerungswachstum Schritt halten und gehört damit zu den einflussreichsten Vorreitern.

Eine erste Ausprägung der ‚Welt als Festung‘ beschrieb Thomas Hobbes 1651 mit seinem „Leviathan“. Der Mensch sei des Menschen Wolf, behauptete er, und müsse daher mit starker Hand geführt werden. Zwar bekennen sich nur wenige heute offen zu derart autoritären Auffassungen, aber viele Menschen sehen eine solche Entwicklung in ihrer Ratlosigkeit als logische Folge der unkontrollierten gesellschaftlichen Polarisierung und der Umweltzerstörung, die sie allenthalben beobachten.

Ahnherren des ‚Öko-Kommunalismus‘ sind William Morris und die Sozialreformer des 19. Jahrhunderts (Thompson 1993), die von Ernst Schumacher geforderte Rückkehr zum menschlichen Maß (1981) oder der Traditionalismus eines Mahatma Gandhi (1993). (…)

Das ‚Neue Nachhaltigkeits-Paradigma‘ muss sich mangels historischer Vorbilder seinen eigenen Weg bahnen; genau genommen wagt das vorliegende Buch den ersten Versuch, das Paradigma zu erläutern. Immerhin hat John Stuart Mill schon Mitte des 19. Jahrhunderts mit großem Weitblick die Vorstellung von einer post-industriellen Gesellschaft entwickelt, die nicht primär nach materiellen Reichtümern strebt, sondern nach menschlicher Entwicklung (Mill 1848)“. (S. 30)

„Eine recht geläufige Weltsicht – oder eher die Negation einer Weltsicht – wurde bisher noch gar nicht erwähnt. Viele, wenn nicht die meisten Menschen schwören jeglichen Spekulationen und Philosophien ab und entscheiden sich für ein „Durchwursteln“ (Lindblom 1959). Es ist die große Masse der Nicht-Bewussten, Unbesorgten und Uninteressierten, die schweigende Mehrheit, der nichts ferner liegt, als nach einer Antwort auf die großen Fragen der Zukunft zu suchen.“ (Great Transistion, 2002, S.30)

Hier muss man m. E. ein Missverständnis aufklären: Lindblom hat das „Muddling through“ (das Durchwursteln) als Handlungsstrategie weder vertreten noch propagiert. Zu seiner Zeit (1960er Jahre) war die Euphorie in Bezug auf den Erfolg von Plänen weit verbreitet, und die Systemtheorie stand noch in ihren Anfängen. Lindblom war ein scharfer Beobachter und Kritiker dieser Euphorie, weil er feststellen musste, dass sich die meisten hochfliegenden und ‚eleganten‘ Planungen aufgrund der komplexen Bezüge in der Praxis auf ein chaotisches „Durchwursteln“ reduzierten. Diese Hybris besteht auch heute noch, wenn man glaubt, dass eine wünschbare Vorstellung sich über eine allzu schlichte Plansetzung wirksam umsetzen lässt. Es sollte eigentlich klar geworden sein, dass erfolgreiche Interventionen in komplexen sozialen Systemen (als Prozess gestaltet) mit zu den schwierigsten Aufgaben gehören, die man sich vorstellen kann.

An dieser Stelle möchte ich enden. Die hier in Ausschnitten dargestellten Grundlagen werden in der Studie ausgebaut, erläutert, verknüpft, teilweise mit interessanten Narrativen versehen und soweit möglich, konsequent zu Ende gedacht. Ich kann dem Leser nur einen Eindruck vermitteln und hoffe, das ich diesem Anspruch in Teilen gerecht werde. Es wäre aber vermessen, zu erwarten, dass diese Studie mehr ist als ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der schwierigen Lage, aus der wir gemeinsam nach einem sinnvollen Ausweg suchen. Man kann auch erkennen, dass sich seit der Studie aus dem Jahr 2002 in den vergangenen 22 Jahren wenig zum Besseren verändert hat und die jüngsten geopolitischen Randbedingungen sich eher einer Verschlechterung zu neigen. Die Studie bleibt politisch unerwartet aktuell.

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„Wachstum“ und die andere Perspektive

Wachstum ist heute die alles beherrschende ökonomische Metapher. Wachstum galt lange Zeit als der große Heilsbringer. Aber bei näherer Betrachtung ergeben sich Ungereimtheiten, ideologische Eigenschaften und Defizite, die zu dem „Zaubermittel“ so gar nicht passen wollen. Einige Gesichtspunkte sollen im folgenden aufgegriffen werden.

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Wachstum ist gewöhnlich eine einfache Kennzahl, die den Betrag des Bundesinlandsprodukts (BiP) des Vorjahres mit dem BiP des laufenden Jahr vergleicht. Ist der Quotient größer als im Vorjahr, spricht man von Wachstum (und das ist heutzutage die Erwartung). Ist der Quotient kleiner als im Vorjahr suchen die Kommentatoren i.d.R. einen Schuldigen. Die hier gewählte Definition zeigt auch gleich die unterschiedliche Wahrnehmung des Wachstums.

Solange die Kennzahl einen momentanen Zustand beschreibt (und mehr kann diese Kennzahl nicht), kennzeichnet Wachstum gegebenenfalls eine Tatsache. Erst die Interpretationen machen aus der schlichten Beschreibung vielfach eine Sollvorschrift (eine normative Forderung). Die Erwartungen liegen darin, dass behauptet wird, Wachstum sei ein eindeutiges Indiz für unseren Wohlstand und unser Wohlergehen. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass dieser Zusammenhang schon seit den 1970er Jahren nicht mehr besteht. Eine Korrelation gab es nur in den Jahren des Aufbaus.

Was ist Wachstum dann? Was ist der Inhalt der Wachstumserzählung und wie könnte sie entstanden sein? Peter Radford1 macht hierzu einen Vorschlag, der zu erklären versucht, warum Wachstum eine zentrale ökonomische Deutungsmacht darstellt und wie sie sich seit 1870 schrittweise entwickelt hat. „Es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass im Jahr 2008 (in der Finanzkrise) eine Ära zu Ende ging, als der schäumende Wahnsinn und die umfassende Korruption des amerikanischen Finanzsystems zu einem erbärmlichen Haufen zusammenbrachen und die Weltwirtschaft mit sich rissen. Seitdem kämpfen wir darum, die diskreditierten Ideen zu ersetzen, die diese Ära hervorgebracht haben. Das ist uns noch nicht gelungen. Das liegt zum Teil an der natürlichen Langlebigkeit der Torheit, solange eine Generation von Menschen (hier der Ökonomen), deren Ruf von ihrem hervorragenden Verständnis dieser Torheit abhängt, an der Macht bleibt2.“ Die Ära, die 2008 in sich zusammenbrach, war die Ideologie des Neoliberalismus. Unter den ‚diskreditierten Ideen‘ finden wir dann (siehe unten) auch die Vorstellung von der scheinbaren Unvermeidbarkeit von wirtschaftlichem Wachstum, die es zu ersetzen gilt.

„Die noch vorhandenen Konzepte, die sich nun als leere Fehlschläge entlarvt haben, zwingen uns dazu, unsere Energie eher auf die Vergangenheit als auf die Zukunft zu verwenden. Wir müssen die Wende in der Geschichte erklären, die einen Großteil des Nachkriegssiegs umkehrte oder vielmehr einfach beendete. Es war ein großer Fehler, den wir rückgängig machen müssen.3

Radford geht bei seiner Argumentation zum Thema Wachstum bis auf die 1870er Jahre zurück und sieht dort den Ausgangspunkt, indem ab diesem Zeitpunkt sich schrittweise ein grundsätzlicher Wechsel in den Eliten (die er „notables“ nennt) vollzieht. Die traditionellen Eliten wie die Monarchie, die Aristokratie, die Kirchen, das Militär erhielten durch das Wachstum, das durch die neuen Technologien ausgelöst wurde, neue Optionen, Anreize und Raum, ihre Privilegien anders zu nutzen.

Diese neuen Optionen haben aber einen stillen Wandel ausgelöst, bei dem die alten Eliten abgelöst wurden: „Es gab eine Revolution. Ein intellektuelles Erdbeben, das einen stillen politischen Putsch ermöglichte. Im Mittelpunkt standen Ökonomen. Doch die meisten ignorierten den zunehmenden Schaden.“

Diese stille Revolution verschob die Gewichte der Eliten. 1941 beschrieb James Burnham4 den Wandel von den alten Eliten zu einer neuen Struktur, die aus Business Executives, Technokraten, Bürokraten und Soldaten bestünde. „ Darin beschrieb er den Untergang des Kapitalismus und seine Ablösung, nicht durch Sozialismus, was damals in der westlichen Welt große Befürchtungen auslöste, sondern durch das, was er ‚Managerialismus‘ nannte. Er sagte voraus, dass die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt in die Hände einer Klasse von Managern fallen, die sie in ihrem eigenen Interesse verwalten würden. Sie würden sowohl die alte herrschende Kapitalistenklasse als auch die kürzlich ermächtigte Arbeiterklasse unterwerfen.5

Diese neue Elite brauchte ein Leitbild, eine Vision, an der sich ihre Strukturen ausrichten konnten. Diese neue Leitidee war – nach meiner Interpretation von Radfords Ausführungen – der Begriff des ökonomischen Wachstums, der dadurch eine politische Wendung und Bedeutung erhielt.

„Dieses schnelle Wachstum – üblicherweise in Begriffen ausgedrückt, zu denen uns Ökonomen überredet haben – ist das Fundament, auf dem die gesamte Moderne heute ruht. Dieses Wachstum wird durch die ständige Entdeckung und Anwendung von Technologien vorangetrieben (…). Innovation wurde zu unserem Motto. Wir gehen davon aus, dass unsere Ära als eine Ära der Innovation definiert werden kann und dass diese Innovation bessere Gesundheit, längeres Leben, breitere kulturelle Präsenz und eine bessere tägliche Existenzsicherheit bietet – wenn auch auf Kosten von Disruptionen. (…) Diese zentrale Bedeutung des anhaltenden schnellen Wachstums für unser modernes Leben ist der Kern unseres aktuellen Interesses. Es brachte den großen Nachteil der Umweltzerstörung und löste Zukunftskosten aus, die einen Großteil der seit 1870 kumulierten ‚Gewinne‘ absorbieren könnten. (…) Und doch machen wir unvermindert weiter. Wir sind dazu gezwungen: nicht zu wachsen, bedroht die Moderne in ihrer Gesamtheit. Die Selbsterhaltung der kapitalistischen Maschinerie, die das Füllhorn hervorgebracht hat, kann nicht aufhören. Sonst stürzt das gesamte Gebäude ein. Ökonomen akzeptieren diese Unvermeidlichkeit im Großen und Ganzen.“6

Diese Aussage ist nachvollziehbar, aber nur richtig, solange wir uns den üblichen Denkregeln unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems unterwerfen. Insbesondere, weil die von Redford getroffene Aussage im Grunde eine intellektuelle Kapitulation darstellt. Wenn ich Redford als Amerikaner richtig verstehe, will er „die Schuldigen“ zur Rechenschaft ziehen. Das ist m.E. nicht zielführend. Schlimmer erscheint mir die Tatsache, dass weder die Ökonomen noch andere Wissenschaftszweige in der Lage zu sein scheinen, kreativ Ideen zu entwickeln, wie wir mit den geringst möglichen Schäden aus der Sackgasse herauskommen können. Deshalb würde ich jede noch so kleine Idee begrüßen, die neue Horizonte eröffnet. Es gibt diese Inseln in einem Meer der intellektuellen Lethargie. Aber die Inseln müssen mehr werden, um über Alternativen zu verfügen. Um die Wahl zu haben!

Um die Ideen Redfords für Deutschland ein wenig konkreter werden zu lassen, soll an eine Veröffentlichung von Ludwig Erhard aus 1957 mit dem Titel „Wohlstand für alle“ erinnert werden. Das war ein Bestseller und so etwas wie ein politisches Versprechen in der damaligen Zeit. In der Nachkriegszeit konnte das Versprechen eingehalten werden, aber schon ab den 1970er Jahren korrelieren die Wachstumszahlen und der allgemeine Wohlstand nicht mehr. Mit Beginn der 1980er Jahre und mit dem Aufkommen des Neoliberalismus blieb das Wachstum weitgehend erhalten, aber die Reallöhne stagnierten bzw. fielen. Eine ‚Schere‘ zwischen jenen, die vom Wachstum profitieren und jenen, die dabei verlieren, wird immer deutlicher erkennbar. Es droht eine Spaltung der Gesellschaft. Das ehemalige Versprechen „Wohlstand für alle“ wurde offensichtlich gebrochen. Wachstum war ein Synonym für zunehmenden Wohlstand: wenn nicht heute, so doch in naher Zukunft. Viele politischen Argumentationen liefen darauf hinaus, den Druck der Straße mit dem Hinweis auf eine rosige Zukunft abzuschmettern.

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Mit dem Wachstum und der erwarteten Prosperität wurde aber auch vielfach die politische Systemfrage verknüpft. Solange einer rosigen Zukunft das Wort geredet werden konnte, stand unser demokratisches System nie ernsthaft in Frage. Wenn aber offensichtlich wird, dass durch das weitere Wachstum nur noch eine relativ kleine Geldelite den Rahm abschöpft, kommt verständlicherweise Frust auf. Das Erfolgsmodell unserer Demokratie rückt auf den Prüfstand.

Und nun erscheinen 1972 auch noch die „Grenzen des Wachstums“ (Meadows) mit der inzwischen anerkannten Aussage, dass die Ikone unserer Prosperität – das Wachstum – keinen Ewigkeitswert darstellt. Das Buch wurde zunächst belächelt, dann heftig bekämpft, aber letztlich mussten nach dreißig Jahren die Gegner die Waffen strecken, weil sich die Welt im Wesentlichen so entwickelte wie 1972 vorhergesagt. Neben der inzwischen akzeptierten Tatsache, dass weiterem Wachstum enge Grenzen gezogen sind, trat ergänzend der Klimawandel auf, der sich mit jedem Jahr, das ungenutzt verstreicht, zu einer Klimakrise erweitert. Die Erkenntnis, dass wir mit unserer Wirtschaftsweise diesen Planeten zu Grunde richten, erfahren viele Menschen als eine zusätzliche Demütigung. Aber der Zustand des Planeten lässt uns keine Zeit, unsere Wunden zu lecken und unsere Gemütslage zu pflegen. Wir werden handeln müssen. Und für einen Erfolg dieses Handelns sind die Voraussetzungen gegenwärtig denkbar schlecht.

Für viele unserer Bürger galt in den letzten 75 Jahren das Glaubensbekenntnis vom fortwährenden Wachstum. Dieser Glaube wurde durch die Entwicklung der Realität gründlich zerstört. Manche wollen es nicht begreifen, weil sie mit einer solchen Unsicherheit nicht leben können oder wollen. Sie wehren sich, weil ihnen ihre Vorstellung von der Welt zusammenzubrechen droht. Gibt es etwas, was ihnen die Wissenschaften, die Politik oder die Ökonomie stattdessen anbieten könnten? Das Wachstumsnarrativ muss durch eine gleich gute oder sogar bessere Alternative ersetzt werden. Je schneller wir hier etwas auf die Beine stellen, desto einfacher würde sich der notwendige Wandel darstellen lassen und breite Unterstützung finden können.

James Burnhams neue „technokratische“ Elite – sofern sie als solche wirksam wurde – erscheint mir dabei nicht das Problem. Gleiches gilt für die sogenannte Geldelite. Diese Kreise stehen bei Veränderungen natürlich erst mal auf der Bremse, aber sie sind rational genug eingestellt, um zu begreifen, wann sie ihre Einstellung ändern müssen, um ihren Status und insbesondere ihre Privilegien als ‚Elite‘ nicht zu verlieren. Ich sehe das Problem eher in der Emotionalität der Vielen, die man mit rationalen Argumenten nur schwer erreicht. Sie brauchen ein neues „Glaubensbekenntnis“, ein großes Versprechen, das so formuliert ist, dass es eine interessante Perspektive vermittelt, deren Einlösung aber variabel hält.

Stattdessen müssen wir die Beobachtung machen, dass mangels einer sinnvollen neuen Perspektive die ganz alten und verstaubten Glaubensbekenntnisse eines Nationalismus, eines Rassismus und anderer emotionaler Dummheiten aus der Mottenkiste der Geschichte hervorgekramt werden. Das erhöht den Entscheidungsdruck noch einmal massiv.

Lösen wir uns also gedanklich von der Fokussierung auf das Wachstum. Es bleibt fraglos ein Problem, aber wir können es für den Moment offensichtlich nicht lösen. Was wäre eine Alternative? Wir beobachten Spaltungstendenzen in der Gesellschaft. Wir glauben Frust identifizieren zu können. Welche Möglichkeiten haben wir, um diesen „Frust“ zu adressieren und aufzufangen? Wir können Maßnahmen ergreifen, die einer weiteren Spaltung entgegenwirken. Wir müssen Maßnahmen entwickeln, die die Spreizung der Gesellschaft für jeden nachvollziehbar reduzieren. „Die da oben“ aus der Perspektive großer Bevölkerungsteile müssen wir dadurch einfangen und sie wieder Teil der Gesellschaft werden lassen, indem für die Entwicklung dieser kleinen Schicht künftig erkennbare Einschränkungen realisiert werden. Levermann7 hat die Idee aufgebracht, die Einkommensspreizung z. B. auf 2 Mio. Euro p.a. einzuschränken, große Vermögenscluster im Rahmen der Vererbung aufzulösen (zu diversifizieren) und in einem ersten Schritt das Größenwachstum von großen Unternehmen deutlich zu begrenzen. Hier wird nicht von Enteignung gesprochen, sondern von Entflechtung, gegebenenfalls auch von Entbürokratisierung und Flexibilisierung. Niemandem wird ernsthaft etwas genommen, sondern es wird versucht, einen grundlegenden Strukturwandel zur Vielfalt einzuleiten, der uns möglicherweise dann eine Chance bietet, das Wachstumsproblem sinnvoll und erfolgversprechend anzugehen. Dabei wurde die Idee Levermanns hier einfach umgedreht: erst die Spaltung der Gesellschaft abbauen und dann absolute Grenzen der weiteren Entwicklung setzen, um ggfs. einen Wandel durch Faltung auszulösen.

Unbegrenztes Wachstum bedeutet stetes „Mehr, Höher und Größer“, aber nichts in unserer konkreten Lebenserfahrung ist in der Lage, ständig mehr zu werden ohne eine tiefe Spur der Zerstörung zu hinterlassen. Hinzukommt, dass das Wachstum noch fokussiert wird, indem in der Ökonomie einer Maximierung das Wort gesprochen wird als Ausdruck der Linearisierung unseres Denkens und als Ausdruck singulärer Exzellenz. Maximierung kann schon vom Begriff her nicht für alle oder eine Mehrheit gelten, es ist der Ausdruck einer Spitze, einer Singularität. Wer immer an der Singularität arbeitet, arbeitet auf eine Monopolisierung in der Gesellschaft hin. Das Argument, dass der Wettbewerb diese Monopolisierung verhindern könnte, ist sehr theoretisch, wenn man sich die schon konkret bestehenden globalen Unternehmenskonstruktionen und deren gewaltigen Einfluss auf Politik und Gesellschaft anschaut. Monopolisierung ist aber das Gegenteil von Vielfalt: also Einfalt! Und Vielfältigkeit war und ist in unserer planetarischen Entwicklungsgeschichte der letzten paar tausend Jahre der herausragende Erfolgsfaktor8. Ausgerechnet in der Ökonomie glauben die politischen Akteuren diesen evolutionären Erfolgsfaktor außer Kraft setzen zu können.
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1Peter Radford, In Praise of Rebellion? In: Real-World-Economics Review, No. 105, 2023, S. 2 ff.

2Radford, a.a.O., S.2 (eigene Übersetzung)

3Radford, ebenda, S. 2 (eigene Übersetzung)

4James Burnham, What is happening in the World – The Managerial Revolution, 1941

5Radford, S. 6 (eigene Übersetzung)

6Radford, S. 3 (eigene Übersetzung)

7Anders Levermann, Die Faltung der Welt, Berlin 2023, S.211 ff.

8Vgl. Johannes Krause, Thomas Trappe, Hybris – Die Reise der Menschheit, Berlin 2021

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Klimawandel braucht Wachstum??

Anlass für diese Fragestellung ist ein relativ kurzes Interview, das Lisa Nienhaus mit Mariana Mazzucato, (Ökonomieprofessorin) führte und in der Süddeutschen Zeitung vom Wochenende 20./21. Januar 2024 veröffentlichte. Mazzucato äußert sich zu einer Reihe von Wirtschaftsproblemen, zu denen ich keinen Widerspruch vorzubringen wüsste, aber sie führt dann aus:

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„Natürlich wollen wir Wachstum. (…) Wenn es kein Wachstum gibt, gibt es keine Beschäftigung, es fehlen die Innovationen, die wir brauchen (..). Wir brauchen Wachstum, um soziale und ökologische Probleme zu lösen. Wachstum ist nicht das Ziel, das Ziel ist es, diese Probleme zu lösen. (…)“ Hier hätte ich mir gewünscht, dass Lisa Nienhaus eingehakt hätte, um Mariana Mazzucato zu einer detaillierteren Erläuterung zu veranlassen.

So wie sich Mazzucato äußert, folgt sie der Argumentation der Mainstream-Ökonomie. Es kommt ihr gar nicht die Idee, dass sich hier ein eklatanter Widerspruch aufbaut. Die Wachstumsideologie hat zu mindesten zwei Problemen geführt: einmal zu Überproduktionen, damit das System überhaupt funktioniert (am Laufen gehalten werden kann) und zum anderen ist sie damit auch wesentlich Ursache für den Klimawandel. Es ist nun ein kurzer Weg von mehr Wachstum zu noch mehr Klimaproblemen – das ist m.E. kein Lösungsbeitrag!

Da Wachstum in der Vergangenheit scheinbar viele Probleme lösen konnte, hat sich die Ökonomie immer mehr auf dieses ‚Wundermittel‘ gestützt und hat nie ernsthaft überlegt, ob es hierzu nicht auch (komplexere) Alternativen geben könnte. Die Problemlösungen durch Wachstum haben immer mehr externe Effekte entstehen lassen, die zu Beginn vernachlässigbar erschienen, aber inzwischen bestimmen diese externen Effekte akkumuliert den Klimawandel und viele unserer sozialen und gesellschaftlichen Problemstellungen. Und die Ökonomie hat dazu keine Meinung, weil sie meint, dass sei nicht ihr Aktionsfeld, weil sie diese Effekte aus ihrem Weltbild bewusst ausgeklammert hat. Oder besser, sie kann es nicht, weil sie sich seit vielen Jahrzehnten nie über das Konzept der ‚externen Effekte‘ wirklich Rechenschaft abgelegt hat und deshalb die zunehmende Problematik gar nicht erkannte oder erkennen wollte.

Wachstum ist, so wie wir das Phänomen heute definieren, eine Exponentialfunktion, die in einem begrenzten bzw. endlichen System Erde keinen Platz hat. Sie explodiert relativ schnell ins Unendliche und kommt dadurch physikalisch absehbar mit der Endlichkeit des Planeten in einen ernst zunehmenden Konflikt. Die Wachstumsdefinition ist zudem ein völlig unzureichende Kennzahl, weil sie alles als Zuwachs erfasst, was ohne qualitativen Unterschied als Mehr, Höher, Schneller und in Geld dargestellt werden kann. Wenn das Ahrtal ‚absäuft‘, fließen die Aufwendungen zur Wiederherstellung der Zerstörungen als ‚Wachstum‘ in die Kennzahl ein. Nach der Logik werden wir bei zunehmenden Schäden durch Klimawandel bis zum bitteren Ende immer mehr Wachstum generieren.

Mazzucatos Ausführungen sind dahingehend zu interpretieren, dass sie die Lösung des Klimawandels im Wachstum sieht. Die Aussage impliziert m. E., die Lösung des Klimawandels auf (rein) technologischem Wege finden zu wollen. Ein alternativer Ansatz, der sich aus einer Ziel- und Verhaltensänderung und einer in Grenzen denkbaren technologischen Unterstützung ergeben könnte, schließt sie offensichtlich als aussichtslos aus. Mazzucato würde sich sonst vermutlich vorsichtiger ausdrücken.

Dabei tritt die Ökonomie auf wie eine naturgegebene Kaufmanns-‘Physik’. Ökonomie ist keine Naturwissenschaft, d.h. das gegenwärtig gültige „Geschäftsmodel“ der Ökonomie ist eine soziale, menschengemachte, komplexe Struktur, die in der Vergangenheit zweifelsohne ihre Vorteile ausspielen konnte. Es ist aber ein Geschäftsmodell, das unsere Gesellschaft aus heutiger Sicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit langfristig ‚an die Wand fährt‘. Es sei denn, wir ändern das Geschäftsmodell. Das wird im Allgemeinen unter dem Begriff der Transformation erfasst.

Über die fälligen Änderungen gibt es gegenwärtig noch keinen Konsens, weil niemand so recht weiß, wo denn was geändert werden soll. In einer solchen Situation verfügt man über kein Ziel, aber man kann als Ersatzstrategie alle Aktivitäten unterlassen, deren Schädlichkeit erkannt wurden. In dem bestehenden Modell gilt als ein großer Treiber das, was man so allgemein als ‚Wachstum‘ bezeichnet. Das sogenannte Wachstum in einem räumlichen Bereich ist der Quotient (in Prozent) aus BiP des laufendes Jahres abzüglich des BiP vom Vorjahr (im Zähler) bezogen auf das BiP des Vorjahres (im Nenner). Ist die Prozentzahl positiv, sind die Gazetten voll des Lobes und sprühen vor rosigen Zukunftsprognosen. Im anderen Fall richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Regierung mit dem Hinweis, macht mal was! So ganz genau weiß man nicht, was zu machen ist, weil es viele Alternativen gibt und der schlichte Quotient wenig wegweisende Informationen bereithält. Er beschreibt einfach einen meist vorübergehenden Zustand, aber macht über den Prozess, wie die Zahl zustande kommt, keinerlei ergänzende Angaben.

Mazzucato glaubt in dem Zuwachs des Wachstumsquotienten einen Ausdruck für Innovationen sehen zu können. Das ist vermutlich nur die halbe Wahrheit. Das BiP (Bruttoinlandsprodukt) ist ein fortlaufender Prozess, der kann eine Kernleistung (vergleichbar wie im Vorjahr), einen Zuwachs an Leistungen und einen Abgang an Leistungen aufweisen. Wie man leicht erkennt, kann die Kernleistung zunehmen, weil z.B. die Bevölkerungszahl durch Zuwanderung gestiegen ist und der Grundbedarf steigt, weil sich die Gesundheitsvorsorge wandelt, weil die Transportleistung wächst (u.ä.). Im Falle von Inflation kann BiP auch rein monetär wachsen. Darin drückt sich in aller Regel die quantitative Veränderung der Leistungserstellung aus. Die Innovationen, von denen Mazzucato spricht, sind qualitativ neue Leistungen, die es im Vorjahr als Innovation des Berichtjahres noch nicht gegeben hat. Sie werden vielleicht verstehen, dass ich hierin nur einen prozentual recht begrenzten Beitrag zum Wachstum erkennen kann, weil Kernleistung plus Zuwachs abzüglich Abgang in Summe und Durchschnitt etwa bei 1 – 1,5% liegen.

Was in der Diskussion regelmäßig nicht aufscheint, sind die Abgänge. Sie werden als Ausdruck der Schwäche gerne übergangen. Das sind aber jene Leistungen, die von Unternehmen im Vorjahr noch erbracht wurden, die aber aus unterschiedlichen Gründen im laufenden Jahr nicht mehr im Markt vertreten sind. Sie wären interessante Indikatoren für anstehende Veränderungen. Wenn der Wachstumsquotient nicht den Vorjahresquotienten erreicht, gibt es eine Vielzahl von Gründen (geringer Zuwachs, großer Abgang, Strukturveränderungen in der Kernleistung, u.a.m.). Wenn man nun die Gründe für die Erhöhung des Abgangs kennen würde, wüsste man ggfs., was zu tun ist. Das wissen wir aber i.d.R. nicht und es wird uns auch medial nicht vermittelt. Es wäre deshalb wünschenswert, nicht nur die Zugänge in ihren Qualitäten dargestellt zu bekommen, sondern auch die Qualität des Abgangs. Dann gewönne der Leser hinsichtlich dessen, was Wachstums sein könnte, eine gewisse Urteilsfähigkeit und das Wachstum verlöre durch diese Analytik etwas von seinem Fetischcharakter.

Eine wachsende Bevölkerung, egal ob durch Geburtenzahl oder durch Zuwanderung, wird immer wirtschaftliches Wachstum auslösen. Innovationen können u.a. auch ein Grund für Wachstum sein. Wenn aber durch große Veränderungen der Produktionsstruktur sich viele Unternehmen vom Markt zurückziehen und viele neue hinzukommen, so ist auch das kein Grund für Unruhe. Aber Wachstum um seiner selbst willen, ist Unsinn, weil das steigende Produktionsvolumen auch seine Konsumenten finden muss.

Da liegt m.E. ein wesentlicher Knackpunkt: Wir glauben, dass unser Wirtschaftssystem nur dann bestehen kann, wenn ständig „mehr“ produziert wird und das überbordende Produktvolumen nur durch ein subtiles und perfides Marketing in Konsum umgewandelt werden kann. Dabei wird vergessen, dass Kaufen um seiner selbst willen völlig sinnleer ist. Es ist nur dann sinnvoll, wenn ich das erworbene Gut benötige und/oder mich über den Erwerb freuen und ihn genießen kann. Das ist aber nicht das Ziel des Verkäufers. Nach seiner Vorstellung und getrieben durch die angebliche Notwendigkeit, Wachstum zu generieren, soll ich mich nach dem Erwerb blitzartig einem neuen Erwerbsvorgang widmen, um den vorgeblichen ‚Einkaufskick‘ nicht zu verlieren. Bei diesem schwachsinnigen Verhalten steigen immer mehr Menschen aus. Es gibt also auch von dieser Seite für Wachstum ganz reale Grenzen.

Der Tag hat immer nur 24 Stunden. Je mehr Kaufakte ich in diesem 24 Stunden absolvieren soll, um das System am Laufen zu halten, desto weniger Zeit bleibt für produktive Arbeit als Voraussetzung für den Konsum, zum Schlafen und Entspannen, für Kommunikation mit Freunden und Familie, für Kultur, fürs Essen und zum Genießen. Vorausgesetzt, ich verfüge über das notwendige Geld. Wenn ich mich darauf einlasse, komme ich mir vor, wie ein gehetztes Tier. Dieses System macht in letzter Konsequenz verrückt. Übrigens, der Umsatz der Psychopharmaka ist in den letzten 15 Jahren gewaltig angestiegen. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass wir in unserer Konsumentenrolle inzwischen komplett überfordert sind.

Also mehr Wachstum, d.h. noch mehr Konsum erscheint mir in einer Vernunft gesteuerten Umgebung schwer vermittelbar. Was soll denn mit Wachstum unter diesen Bedingungen erreicht werden? Die Erwartung, das System am Laufen zu erhalten, scheint mir kein ausreichender Grund zu sein, um Wachstum weiterhin als die Lösung unserer anstehenden Probleme zu erkennen.

Die Wachstumskritik aus der Sicht des Individuums tangiert den Ökonomen natürlich nicht. Dort herrscht nicht der Mensch, sondern der ‚homo oeconomicus‘: Ein egoistisches Konstrukt, das den Begriff der Überforderung gar nicht kennt. Dort, wo der leibhaftige Mensch schon lange von Psychopharmaka abhängig ist, handelt dieser Homukulus immer noch angeblich ‚rational‘ und damit ökonomisch richtig.

Wachstum wird in der ‚Alltagsökonomie‘ gerne als eine Voraussetzung für ausreichende Beschäftigung gesehen. Diese Auffassung kann bei wachsender Bevölkerung durchaus richtig sein, aber was bedeutet Wachstum bei stagnierenden Bevölkerungszahlen und insbesondere bei sogenannten ‚alternden Gesellschaften‘. Ich denke dabei an die Mehrzahl der europäischen Länder. Haben wir nicht gegenwärtig und auf absehbare Zeit eine eklatante Unterversorgung mit Arbeitskräften? Es fehlen in Deutschland gegenwärtig hunderttausende von Arbeitskräften. Man spricht von jährlich notwendiger Zuwanderung von 400.000 Menschen. Unabhängig, ob die Zahl realistisch ist: Kehrt sich da nicht die Frage um? Es steht doch gegenwärtig nicht die Beschäftigung in Frage, sondern das anzustrebende Wachstum, sofern hier eine reziproke Verbindung besteht.

Wenn wir – rein theoretisch als Gedankenspiel – unser Produktionsvolumen an den Beschäftigtenstand anpassen könnten, würden wir zwar ein unbefriedigendes Wachstum ausweisen, aber die Beschäftigung würde dadurch nicht zwangsläufig berührt. Der ‚Workforce‘ wäre es absolut egal, wie sich die Wachstumskennzahl entwickelt, solange ihre Beschäftigung konkret nicht in Frage steht. Es geht mir darum, deutlich zu machen, dass wir dem Begriff des Wachstums endlich die Rolle zumessen müssen, die ihm realiter auch zukommt. Wenn das Wachstum in Deutschland unbefriedigend wäre, dann würde damit heftig Politik gemacht, aber der konkrete Arbeitnehmer einer florierenden Firma sind dadurch nicht tangiert. Für ihn ist ‚Wachstum‘ nur eine Zahl für die Berichterstattung in den Zeitungen.

Die Klimakrise verlangt Reaktionen von uns, die wir nicht mit der einfachen Formel des „Weiter so“ erledigen können. Die Politik pflegt eine große Zurückhaltung für Maßnahmen, die Auswirkungen auf das haben könnte, was wir so in der Alltagsökonomie unter Wachstum verstehen. Wir müssen dem Begriff des Wachstums seine Totschlag-Argumentation nehmen, indem wir Wachstum besser analysieren und differenzierter damit umgehen. So wie wir heute Wachstum verwenden, laufen Wachstum und Klimakrise parallel: mehr Wachstum führen zu mehr Krise, mehr Krise zu mehr Schäden, deren Beseitigung wieder zu mehr Wachstum führen, u.s.f. – das ist – so gesehen – ein sich selbst verstärkender Prozess und absolut kontraproduktiv.

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Klimakrise und der Frust

In den letzten Monaten (vielleicht sind es auch schon Jahre) suche ich immer wieder nach Lösungsvorschlägen oder doch wenigstens Lösungsansätzen zur Klimakrise, wobei ich mich nicht auf Lösungen in einer Wissenssparte z.B. den Naturwissenschaften, der Ökonomie, der Systemtheorie oder den Sozialwissenschaften beschränken will, sondern versuche, die Breite der krisenhaften Herausforderungen im Blick zu behalten. Dabei muss ich darauf hinweisen, dass ich in den meisten Wissenssparten über den Status eines interessierten Laien nicht hinaus komme. Ich leiste es mir aber, Fragen zu stellen und die mir zugänglichen Antworten frustrieren mich.

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Nachdem ich zahllose Beiträge gelesen, überflogen, verarbeitet oder über das Internet aufgenommen habe, bleibt bei mir das Gefühl: wir wissen das meiste, aber wir handeln nicht danach! Ein klassischer Fall: wir besitzen (inzwischen) auf den meisten Problemfeldern die Urteilsfähigkeit, es fehlt uns aber an der Urteilskraft, das Erkannte auch umzusetzen (frei nach Immanuel Kant). In meinem Frust kam ich auf die Idee, zwischen meinen eigenen Erfahrungen aus vergangenen Tagen als Wirtschaftsprüfer und Sanierungsberater und der gegenwärtigen globalen Klimakrise Vergleiche zu ziehen. Um es vorweg zu sagen, Sanieren von Unternehmen ist eine punktuelle Maßnahme in einem weitgehend bekannten Umfeld mit anerkannten Methoden. Die Klimakrise hat da eine deutlich komplexere Qualität. Der Vergleich hinkt also, aber das nehme ich in Kauf.

Unternehmenssanierungen sind wiederholte Einzelfälle, die Klimakrise ist ein globales Problem. Und das für mich erschreckende Moment ist die Erkenntnis, dass meine Profession (der Ökonomen) überhaupt keinen Beitrag zu leisten in der Lage ist. Alles ist dort auf Wachstum und Wettbewerb aufgebaut. Die Ökonomen kommen aus ihrer „ideologischen Schablone“ nicht heraus. Unsere globale Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass genau jene Treiber unseres Wirtschaftssystems (Wachstum und Wettbewerb) von den Naturwissenschaften als künftige „No-Go-Area“ identifiziert wurden und das nicht erst seit gestern, nein – seit über 50 Jahren!

Im Falle der Unternehmenssanierung treten die Probleme für den Fachmann meist offen zu Tage und alle Beteiligten haben gewöhnlich erkannt, dass wir es mit einem Problem zu tun haben. Mit der Feststellung einer Sanierung ist auch allen klar, dass es jetzt „ans Eingemachte“ geht. Alle Beteiligten ziehen mehr oder weniger „am gleichen Strang“.

Für die ‚Sanierung‘ des Klimas liegen die Probleme zeitlich völlig anders: die Problem-Ursachen bauen sich oft über Jahre in der Vergangenheit auf und die Wirkungen ‚tropfen‘ so unregelmäßig in die Gegenwart und absehbare Zukunft, dass die meisten den Zusammenhang überhaupt nicht sehen und gegebenenfalls auch nicht verstehen (wollen). Und wenn sie sich der Realität dann wirklich stellen, dann kommt das Erschrecken, dass wir möglicherweise viele liebgewonnene und bequeme Verhaltensweisen werden aufgeben müssen. Und die „Leute“ sind verständlicherweise frustriert, weil sie die Not-wendigkeit aus eigener Anschauung nicht erkennen können.

Sanierungen umfassen gewöhnlich einen kleinen Bereich im ökonomischen Ganzen. Selbst wenn das Unternehmen die „Kur“ nicht übersteht, ist es bitter für die Betroffenen, aber für das Wirtschaftssystem keinesfalls existenzbedrohend. Die Klimakrise ist ein globales (und höchst komplexes) Phänomen und die Problemtreiber sind sehr heterogen verteilt. Vielfach wird oft zur psychologischen Entlastung vorgebracht, dass die Bundesrepublik nur mit einer einstelligen Prozentzahl an dem globalen Problem beteiligt sei. Konsequenterweise meinen deshalb einige, dass es völlig unwesentlich sei, wie wir uns verhalten. Das ist ein grandioser Trugschluss, der dann offensichtlich wird, wenn wir das Problem auf den Beitrag pro Kopf (per capita) umrechnen, dann erschrecken wir und es wird jedem klar, wir müssen in der Lösung vorangehen und können uns nicht auf die klein gerechnete Zahl unseres globalen Anteils zurückziehen.

Sanierungen lösen in einem Unternehmen regelmäßig große Hektik aus, weil – wie es so schön heißt – alles auf den Prüfstand muss. Alle eingefahrenen Routinen werden hinterfragt, jeder Leistungsbeitrag und jede Kostenkategorie wird (hoffentlich neutral) im Licht der Sanierungsaufgabe neu bewertet. Dabei ist das Ziel klar – Rückgewinnung der Profitabilität des Unternehmens! Also Rückgewinnung einer Chance auf Zukunft in einem weitgehend als bekannt geltenden wirtschaftlichen Umfeld!

Wie sieht die Zielvorstellung für eine „Sanierung“ im Rahmen der Klimaproblematik aus? Ich wüsste hier keine vernünftige Antwort, die ins ‚Schwarze‘ träfe. Klar ist, dass es keinen Weg im Sinne von „zurück zur Natur“ gibt. Es gibt auch keinen Weg zurück zu einer landwirtschaftlich geprägten Handwerkerstruktur, die vor dem Beginn der Industrialisierung für eine Reihe von vergangenen Jahrhunderten auch kein Wachstum und keinen ausgeprägten Wettbewerb kannte. Wenn uns nun die Naturwissenschaft und die Regeln der Mathematik klar machen, dass Wachstum auf einem endlichen Planeten sehr rasch sein Ende finden wird, dann fehlen mir Kategorien und Begriffe, mit denen ich auch nur im Umriss eine Zukunft beschreiben könnte.

Das heißt nicht, dass es keine Zukunft gibt, es heißt nur, dass mir die Begriffe fehlen, um mir eine hinreichend solide Beschreibung des künftigen Zustands vorstellen zu können. Ich sehe mich in der Lage, eine negative Abgrenzung zu formulieren (siehe oben), aber ich sehe mich nicht in der Lage, ein positives Bild der konkreten Struktur einer wünschenswerten Zukunft zu umreißen. Und ich glaube, da bin ich nicht allein.

Das macht das Problem der Ökonomen erklärbar. Alle Geschäftsmodelle, die mir geläufig sind, bauen direkt oder indirekt auf dem noch allgegenwärtigen Wachstum auf. Dort gibt es keine Grenzen und wenn ja, dann erfand die „Nationalökonomie“ (wie sie früher hieß) den Weg der Substitution: Wenn eine Ressource wegfällt, dann nehmen wir eben einen Ersatz! Dass es dann keinen Ersatz mehr geben könnte, wird erst bei einer globalen Betrachtung deutlich. Was machen wir dann? Wir ändern die Technologie, bis dann auch die neue Ressource endet? Das ist ein Wettlauf zwischen „Igel und Hase“. Das ist schlicht eine ideologische Sackgasse.

Also behaupte ich, wir kennen das Problem, aber wir sehen uns nicht in der Lage, ein ‚Geschäftsmodell‘ für eine neue Gesellschafts- oder Wirtschaftsstruktur zu formulieren, in der Wachstum keine wesentliche Rolle mehr spielen kann.

In der Unternehmenssanierung gibt es solche Fälle ganz selten, aber sie sind denkbar, wenn die Phantasie der Unternehmensführung nicht ausreicht, sich zu entscheiden oder die Geschäftsführung in der Entscheidung wie der Esel zwischen zwei Heuhaufen schwankt . (Am Ende ist der Esel verhungert). Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen. Gibt es im Rahmen eines Unternehmens dann noch einen dritten Weg? Prinzipiell ja, aber er gilt nicht als der Königsweg. Wenn man sich über das Ziel nicht einig wird und die Sanierungslage dem Unternehmen auch noch etwas Zeit lässt, kann man die Zielsuche zurückstellen und versuchen, die Unternehmensprozesse im wirtschaftlichen Sinne zu ‚optimieren‘: Das gleiche Ergebnis z.B. mit weniger Einsatz zu erzielen.

Auch hier braucht es natürlich Ziele, aber man kann sich mit Zwischenzielen behelfen: Es wird versucht dann, in dem Sanierungsunternehmen möglichst alle Einsparungspotenziale zu identifizieren und die Potenziale zu realisieren. Wenn man nicht weiß wohin, kann man ja das, was man gegenwärtig produziert oder bereitstellt, so gestalten, dass vielleicht nicht der Gewinn wächst, aber der Cashflow des Unternehmens zunimmt, damit dann, wenn ein Handlungsziel gefunden ist, z.B. eine Liquiditätspolster zur Verfügung steht. Man geht also mangels Ziel nicht nach außen auf die Märkte, sondern man spart ein und versucht die „Sanierungskasse“ zu füllen, um dann von Fall zu Fall handlungsfähig zu sein.

Eine solche „Kur“ deckt oft ungeahnte Ressourcen auf. Jede Organisation hat immer auch einen Anteil selbststeuernder Prozesse und es können sich neue Perspektiven auftun, die vorher gar nicht in Erwägung gezogen wurden. Man kann diese Kur auch als Maßnahme der Suffizienz betrachten, als Versuch durch deutlich weniger Aufwand ein zumindest interessantes Niveau zu erreichen.

Was bedeutet diese Betrachtung für unser Verständnis der Klimakrise? Wir haben oben festgestellt, es gibt m.E. keine robuste Zielvorstellung:

  • Es gibt die Brundtland’sche Nachhaltigkeitsforderung. Aber keiner weiß so richtig, was Nachhaltigkeit eigentlich bedeutet. Die Wirtschaft hat diese Unklarheit mit dem sogenannten ‚Greenwashing‘ schamlos und kontraproduktiv ausgenutzt.
  • Es gibt das Ziel der Pariser Klimakonferenz, dass der Temperaturanstieg 1,5 Grad nicht übersteigen soll. Es gibt für diese Erklärung des guten Willens etwas über 190 zustimmende Unterschriften der beteiligten Staaten.
  • Es gibt sogar 17 Teilziele (Stratigic Developement Goals), die das Ganze nochmals im Detail unterstreichen und aufgliedern.

Aber wo sind die Maßnahmen? Wenn man sich nicht traut, vorwärts zu gehen, bleibt immer noch der Weg, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Z. B. Maßnahmen, die zu ein Abbau von fehlleitenden Anreizen (wie Subventionsabbau) führen, um hier nur ein Beispiel zu nennen? Der europäische CO2-Zertifikatehandel beginnt erstmals in diesem Jahr (2024) seine lenkende Wirkung zu entfalten, es gibt ihn aber schon seit mehreren Jahren. Die geplante und gewollte Preiserhöhung bei der Verwendung fossiler Energie führt beim Bürger zu erhöhten Energiekosten. Das sogenannte ‚Klimageld‘ (die Rückgewähr von erhöhten Energiekosten) steckt aber noch irgendwo in den Mühlen der Bürokratie.

Bleiben wir dabei: Es gibt so etwas wie Ziele, aber sie sind nicht geeignet, um konkrete Maßnahmen auszulösen. Auf politischer Ebene hantiert man gerne mit solchen Zielen. Sie haben meist kaum reale Konsequenzen. Aber sie klingen gut und gelten als Beweis politischer Aktivität. Das ist angesichts der Klimakrise und ihrer möglichen Folgen kein Gewinn. Darauf lässt sich m.E. eine ‚Sanierung‘ unserer Lebensumstände im Sinne der Klimakrise nicht aufbauen.

So gesehen haben wir einen gewissen Vergleich mit dem Fall einer Unternehmenssanierung ohne klare Zielentwicklung. Wir können nun warten, bis nach einem komplexen Meinungsbildungsprozess (eventuell) praktikable Ziele verfügbar sein werden. Dem steht entgegen, dass wir uns im Interesse unserer künftigen Generationen diesen Zeitbedarf nicht leisten können.

Oder wir gehen den Weg, den Karl Popper vor vielen Jahren als die Strategie der Stückwerkstechnik (piecemeal approach) bezeichnet hat. Diese Politik der kleinen Schritte ist selten streng zielorientiert, eher sucht sich der Prozess seine jeweiligen temporären Ziele im Nahbereich mit einem nur losen Bezug zum ‚großen Ziel‘. Auch dieser Ansatz hat aber nach meiner Einschätzung ein paar harte Voraussetzungen:

  • Den Betroffenen muss klar sein, dass eine Situation vorliegt, deren „Not gewendet“ werden muss – die Veränderung muss als notwendig erkannt werden (können). Das scheint gegenwärtig nicht (ausreichend) der Fall zu sein.
  • Es muss ein Narrativ bestehen oder entstehen, das die großen Ziele beschreibt und deren Sinnhaftigkeit einer Mehrheit so vermittelt, dass bei jedem größeren Prozessschritt eine grobe Abstimmung mit dem übergeordneten (großen) Ziel möglich wird. Die Bürger wollen die kommenden Schritte ohne theoretischen Ballst ‚verstehen‘ können. Dazu braucht es eine Vision, eine Vorstellung, wie Wirtschaften als Funktion einer zweckmäßigen Güterversorgung ablaufen könnte. Das wird künftig der eigentliche Kern des Wirtschaftens sein.
  • Die Anwendung der Wachstumsstrategie muss absehbar ein Ende haben. Nicht sofort, aber sagen wir innerhalb der kommenden 20 Jahre. An dieser Entscheidung kann sich die Politik nicht vorbei mogeln, indem sie sich die scheinbar einfachere Strategie der Anreize zu eigen macht. Die Wirtschaft muss sich auf den künftigen Wegfall des Wachstums verlässlich einstellen können. (vgl. A. Levermann, Die Faltung der Welt, 2023)
  • Dem Wachstum muss durch begleitende Maßnahmen in dem verbleibenden Zeitraum die vordergründige „Attraktivität“ durch Eingrenzung der Unternehmensgröße, durch Eingrenzung der extrem hohen Einkommen und Aufteilung der großen Vermögen im Falle der Vererbung genommen werden (vgl. auch hier die Vorschläge von A. Levermann, siehe oben). Diese Entwicklungen sind für den Normalbürger uninteressant, weil sie nur eine sehr kleine, aber einflußreiche Bevölkerungsgruppe tangieren.
  • Dieser Entzug der Attraktivität ist ein länger dauernder und deshalb in Grenzen steuerbarer Prozess. Wenn wir nicht mehr auf Wachstum (als Zunahme an Größe und finanzieller Macht, oder als oft sinnleere Erhöhung der ‚Drehzahl‘ und des Durchsatzes) vertrauen können, werden wir uns von den großen bürokratisch dominierten Einheiten und Konglomeraten trennen müssen und versuchen, daraus eine agile Struktur kleinerer, aber kreativer Einheiten zu schaffen ohne das allgemein hohe Versorgungsniveau durch die Wirtschaft aufgeben zu müssen.
  • Die Wirtschaftsleistung muss dadurch nicht zwangsläufig sinken, nur weil die wirtschaftlichen Entscheidungen schrittweise auf kleinere Einheiten umverteilt werden. Die Abwicklung große Projekte wird auch heute nicht nur durch „Jumbos“ (Großunternehmen) getragen, sondern auch durch erfolgreiche Kooperationen von kleineren Partnern.
  • Ein wesentlicher Punkt bleibt die Tatsache, dass wir nicht auf einer Insel leben, sondern in ständigem Austausch mit anderen Ländern, die möglicherweise unsere Vorstellungen nicht oder nur begrenzt teilen. Dabei kann die Fragwürdigkeit des Wirtschaftswachstums kein neuerlicher Diskussionspunkt sein. Die Physik gilt global und es ist nicht sinnvoll, zu versuchen mit ihr zu diskutieren. Die Frage kann nur sein, ob die hier angesprochenen Maßnahmen zweckmäßig oder dem Problem angemessen sind. Es fehlt an einer Initialzündung, weil in der Politik offensichtlich das Mikado-Spiel die Regeln definiert: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren! Ein deutlich konstruktiveres Bild vermittelt die Aussage: Hahnemann, geh Du voran! Wenn einer wirklich Ernst macht, folgen viele andere dem Beispiel und die Vielfalt der Alternativen wird sprunghaft ansteigen. Es setzt aber Mut zum Handeln voraus.

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Die Faltung der Welt

Anders Levermann1 hat unter diesem Titel 2023 ein Buch veröffentlicht, das sich mit dem Widerspruch von expotenziellem Wachstum in einer endlichen Welt auseinandersetzt. Die Ökonomie lebt mit diesem Widerspruch seit langem. Dieser wurde in den letzten fünfzig Jahren immer wieder erfolgreich verdrängt, in dem man auf die scheinbaren und tatsächlichen Erfolge der Wachstumsidee verwies und die absehbar expotenzielle ‚Explosion‘ gezielt ausblendete. Bisher gab es m.W. keine ernst zu nehmende Idee, wie dieses global immer drängendere Dilemma gelöst werden könnte.

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Levermann ist theoretischer Physiker und befasst sich u.a. mit der Komplexität dynamischer Systeme. Die Komplexität und Dynamik solcher Systeme wird mit Hilfe der mathematischen Chaostheorie versucht zu erfassen und deren ‚Gesetzmäßigkeiten‘ darzustellen. Aus den Erkenntnissen dieser Mathematik lässt sich offensichtlich2 ableiten, dass dynamische Systeme, wenn deren Aktivitäten auf unüberwindbare Grenzen stoßen, nicht zusammenbrechen, sondern ausweichen und ihre Aktivitäten innerhalb des verbleibenden Raumes ‚falten‘ (anpassen). d.h. die Grenze zwingt das ursprünglich einseitig trajektorische Wachstum in eine Faltung, die das ‚Voranstreben‘ in eine eher ‚raumfüllende‘ Bewegung umwandeln kann.

Das Verhalten des mathematische Modell eines dynamischen Systems scheint Levermann dazu inspiriert zu haben, sich zu fragen, ob dieses Modell nicht eine Vorlage sein könnte, das Dilemma des expotenziellen Wachstums in einem begrenzten Raum zu lösen. Aus seinen Ausführungen ist zu entnehmen, dass das Modell nur dann das erwartete Verhalten hervorruft, wenn die Grenze unüberwindlich, also absolut, ist und der verbleibende Raum frei von sonstigen Regulierungen verfügbar ist, damit sich der angestrebte innovative und kreative Prozess der Faltung ungehindert entwickeln kann.

Auf diesem Modell basieren die Vorschläge, die Levermann dann ausführt. Zuvor versucht er dem Leser zu vermitteln, dass die globale Klimasituation aus der Perspektive der Naturwissenschaften in einem Stadium ist, in dem man harte Entscheidungen treffen muss: nicht für morgen, aber z. B. für einen Zeitraum für die nächsten zwanzig Jahre. Die Entscheidung muss heute fallen, um dann in einer Art Übergangszeit (z.B. zwanzig Jahre) die Entscheidung schrittweise zu realisieren. In der politischen Diskussion wird schon seit längerem der Gedanke sogenannter „Leitplanken“ verarbeitet, die die Entwicklung der nächsten Jahre bestimmen sollten. Levermann setzt hier weniger auf Leitplanken als auf wenige klare, unüberwindbare Grenzen (‚Verbote‘), die nicht ein sanftes Weniger von Etwas anstreben, sondern schlicht Null.

Die zwanzig Jahre sind gewissermaßen ein Zugeständnis an die Politik, die sich immer leichter tut, Dinge anzukündigen als sie gleich umzusetzen. Ich bin mir nur nicht sicher, wie diese Entscheidung gefasst werden muss, damit sie von den Gegnern, deren Lobbyisten und von den nachfolgenden Vertretern der Politik nicht wieder aufgeweicht werden können. Es wird mit jedem Jahr die Auseinandersetzung härter werden, denn die ultimative Umsetzung rückt ständig näher: Die Uhr tickt!. Die Entscheidung müsste vermutlich Verfassungsrang erhalten und die notwendigen Maßnahmen müssten einklagbar sein.

Die angesprochenen Grenzen unterscheiden sich grundlegend von den sogenannten mikroökonomischen Maßnahmen, die als Regulierungen nach Levermanns Meinung den Faltungsprozess behindern. Hier bin mir nicht sicher, was in diesem Zusammenhang eine ‚Regulierung‘ ist. Rechtsfreie Räume z.B. sind nach meinem Verständnis in unserem Gesellschaftssystem eher selten. Aber rechtsfreie Räume bewusst schaffen, da kann ich nicht mitgehen, weil die Kreativität und die Innovation, wenn wir sie komplett „von der Leine“ lassen, erfahrungsgemäß nicht nur positive Seiten hat. Die Faltung ist m.E. ein eigenständiger gesellschaftlicher Prozess, dessen Entwicklungsrichtung nicht oder nur grob vorhersagbar ist.

Wenn wir durch das Setzen von absoluten Grenzen (also nicht weniger, sondern radikal Null) einen Strukturwandel auslösen wollen, so setzt das Wort ‚Wandel‘ ja voraus, dass Strukturen vorhanden sind, die es zu verändern gilt. Wir fangen nicht bei Null an, sondern steigen in einen laufenden Prozess ein. Ob unter diesen Voraussetzungen der gewünschte Strukturwandel, wie vom Modell erwartet, einsetzt, erscheint mir unsicher.

Damit sind wir in einem anderen Problemfeld: Modelle leben meist davon, dass sie eine Idee verkörpern und keinen realen Prozess. Modelle werden oft unter einer „tabula rasa“-Fiktion erstellt und müssen dann bei ihrer Umsetzung in einer gelebten Umgebung so viele Zugeständnisse machen, dass die Gefahr besteht, dass die Voraussetzungen, die das Modell zur Funktionsfähigkeit braucht, nicht mehr eingehalten werden können.

Es gibt zwischen Theorie und Praxis so etwas wie eine ‚Unschärferelation‘: Was in der Theorie sauber und scharf bestimmbar ist, verliert bei seiner Übertragung auf reale Um- oder Zustände ihre Eindeutigkeit, die der Sachverhalt in der Theorie (im Modell) noch hat. Deshalb sehe ich in der Faltung ein gewisses gesellschaftliches Risiko: Was ist, wenn sich nach Einführung der absoluten Grenze möglicherweise aus historischen, sozialen oder politischen Gründen keine oder eine unerwünschte Faltung einstellt?

Wenn wir ‚heute‘ eine Entscheidung über eine absolute Grenze treffen, haben wir im Grunde zwanzig Jahre Zeit, diesen Wandel zu begleiten und wirksam zu beeinflussen. Es wird nur notwendig sein, vergleichbar mit der Reduktion des Volumens der EU-Zertifikate zum CO2-Ausstoss, ein Verfahren zu entwickeln, in dem der angestrebte Wandel unaufhaltsam und für jedermann nachvollziehbar verfolgt werden kann.

Es wird mächtige Gegner dieser Grenzen geben, weil einige Beteiligte ihre hochrentierlichen Geschäftsmodelle aufgeben müssen. Ob sie in dem ‚Faltungsspiel‘ (dem Strukturwandel) Erfolg haben werden, ist nicht vorhersagbar. Insbesondere große wirtschaftliche Einheiten, die sich in der Regel nicht durch inhärente Flexibilität und besondere Kreativität auszeichnen, werden unter starkem Druck stehen, weil die Strategie, Flexibilität und Kreativität bei Bedarf zukaufen zu können, nicht mehr aufgehen wird. Die Karten werden insoweit neu gemischt.

Das Faltungsmodell setzt absolute Grenzen nur in Fällen von Prozessen, die selbstverstärkend wirken und damit absehbar auf eine „Explosion“ hinauslaufen. Nach unserem Verständnis ist Wachstum solch ein sich selbstverstärkender Prozess, der mathematisch als eine Expotenzialfunktion beschrieben wird. Am Anfang ist die Kurve flach und unauffällig, um dann in Abhängigkeit von den jährlichen prozentualen Zuwächsen jäh in die Vertikale überzugehen und ins Unendliche zu „explodieren“. Die Wachstumsbegrenzung wird gewöhnlich physikalisch in zwei eng verwobene Kategorien aufgeteilt: einmal muss der CO2-Ausstoß beendet werden und zum anderen der Ressourcenverbrauch. Beide Variablen sind durch unsere Wirtschaftsform als selbstverstärkend zu klassifizieren und wir werden im Rahmen des Ansatzes der Faltung beide durch absolute Grenzen einschränken müssen. Die Einschränkung von CO2 ist dabei wohl zeit-sensibler als die Einschränkung des Ressourcenverbrauchs. Im Hintergrund wabert dann noch ein drohendes Plastikverbot, weil der Einfluss von Mikroplastik in unseren Lebensprozessen nicht mehr beherrschbar ist.

Wir haben nach meinem Verständnis aufgrund der physikalischen Verhältnisse keine andere Wahl. Mit der Physik kann man nicht verhandeln. Wir können die physikalischen Gegebenheiten nur akzeptieren und uns anpassen.

Die Frage ist berechtigt, ob die absolute Grenzziehung bei CO2 und beim Ressourcenverbrauch ausreichen werden, um möglichst viele, wenn nicht alle physikalisch irreversiblen Kipppunkte zu vermeiden. Die Frage ist nur schwer zu beantworten, weil die globale Null-Grenze nicht ohne m.E. tiefgreifende Veränderungen in unseren Strukturen (Stichwort: Strukturwandel) realisiert werden kann. Was sich konkret ändern wird oder muss, ist m.E. aus dem Vorschlag von Anders Levermann aufgrund der bestehenden Komplexität gegenwärtig nicht ableitbar.

Levermann vertritt die Auffassung, dass die absoluten Grenzen Ausnahmen bleiben müssen, weil wegen deren Radikalität hier Vorsicht walten sollte. Zu viel des Guten erstickt möglicherweise mehr als uns recht sein kann. In seinem Buch hat er dann noch drei weitere Grenzen eingezogen, die sich m. E. als eine gesellschaftlich orientierte Konsequenz aus dem naturwissenschaftlich orientierten Ansatz nachvollziehbar ergeben3:

  • Begrenzung der Unternehmensgröße
  • Begrenzung des Erbens
  • Begrenzung der Einkommensunterschiede

Levermann verlässt damit die physikalisch fundierte Sphäre und wird zum politisch denkenden Menschen, der sich fragt, wie eine Gesellschaft bei derartigen Herausforderungen zusammengehalten werden kann. Die ausführlichen Begründungen bitte ich in seinem Buch nachzulesen.

Wenn wir Wachstum durch Faltung ersetzen, so hat dieses Vorhaben nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn wir richtig große Unternehmen als wirtschaftlich inattraktive Unternehmensformen besteuern, weil der Handlungsraum für die Faltung kleiner wird und wir nicht mehr in ‚Größe‘ investieren können, sondern in die Vielfalt und Vielfalt ist mit extrem großen Unternehmen, deren Finanzkraft die unserer Staatshaushalte oft weit übertrifft, nicht herzustellen. Es muss der Primat der Politik sichergestellt bleiben.

Die Begrenzung des Erbens ist dann eine m.E. logische Folge, indem Vermögensübertragungen von Todes wegen pro Person auf z.B. 2 Mio. Euro oder Dollar begrenzt werden. Das trifft den Normalbürger nicht. Der Erblasser muss also bei großen Vermögen entsprechend viele Personen mit seiner Erbschaft beglücken. Hohe Vermögensverdichtungen sollen im Sinne der Vielfalt aufgelöst werden. Was mit „Personen“ konkret gemeint sein könnte, müsste noch geklärt werden (natürliche, juristische). Der Staat ist dabei eindeutig keine ‚Person‘, er zieht seinen Obolus über die Steuer ein. Die Idee dahinter ist die Erwartung, dass mit einem Erbe von 2 Mio. Euro sich kaum einer aus den gesellschaftlichen Pflichten eines Gemeinwesens verabschieden kann. Er wird sich einbringen müssen.

Wenn das Erben letztlich eine Rückführung von Vermögen in die Vielfalt darstellt, so ist nach dieser Logik auch der Aufbau von Vermögen im Rahmen von Einkommensunterschieden zu begrenzen. Es geht nicht darum, zu nivellieren, es geht darum, extreme Einkommensentwicklungen einzuhegen. Levermann schlägt vor, das Jahreseinkommen auf z.B. zwei Millionen Euro zu begrenzen. Die Grenze wird durch Besteuerung sichergestellt. Einkommen über 2 Millionen Euro sind zwar möglich, werden aber zu einhundert Prozent besteuert. Es wird sich also nicht lohnen, mehr zu verdienen. Mit zwei Millionen Jahreseinkommen kann man über ein normales Arbeitsleben durchaus ein ansehnliches Vermögen aufbauen. Wenn es dann zum Vererben kommt, gelten wieder die Vererbungsregeln und der Vermögensaufbau beginnt für die Erben von vorne. Damit wird finanzielle Macht nicht mehr (so einfach) vererbt werden können.

Lassen Sie uns nochmals den großen Bogen spannen: Der Neoliberalismus will uns glauben machen, dass es zu dieser Wirtschaftsform keine Alternative gibt. Margret Thatcher werden die Worte in den Mund gelegt: „There is no alternative“ (Tina). In der Ökonomie wurde diese Auffassung wie ein Glaubensbekenntnis rauf und runter gebetet. Nahezu dreißig Jahre lang hat man uns mit der Auffassung hingehalten, dass es möglich wäre, Wachstum vom Ressourcenverbrauch abzukoppeln. Das hat bis heute nicht einmal im Ansatz geklappt.

Nun kommt aus der Theorie der komplexen und dynamischen Systeme eine Erkenntnis, die es möglich macht, die unbestrittene Kraft des Wachstum umzulenken. Aus einer Wachstums-Trajektorie kann man durch eine radikale Grenzziehung die eher eindimensionale Trajektorie in eine Faltung zwingen. Aus einem schlichten Vorwärtsstreben kann man eine Faltung, einen Eintritt in die Vielheit erwarten. Die Einfalt der Trajektorie wird zur Vielfalt der Faltung. Das könnte der Punkt sein, um festzustellen: „There is a valid alternative.“ Wir brauchen jetzt noch eine historisch relevante Figur, der wir die neue ‚Erkenntnis‘ in den Mund legen können, ohne dass die Person noch die Erkenntnis dabei Schaden nimmt. Die nächsten Schritte müssen sich mit dem Narrativ befassen, um diese Alternative in eine Geschichte zu kleiden, die ein wesentlicher Teil der Gesellschaft als interessant und für sie als vorteilhaft akzeptieren kann. Das wäre eine dankbare Aufgabe für die Ökonomen, aber ich habe meine Zweifel, ob sie dazu fähig sind, weil sie plötzlich das Gegenteil von dem vertreten sollen, was sie uns jahrzehntelang gepredigt haben.

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1Anders Levermann ist am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung auf dem Feld der Komplexitätsforschung tätig. (https://www.pik-potsdam.de/)

2Ich hoffe, meine Erklärungen sind richtig und verständlich. Sie sind das Ergebnis meines Verständnisses der Ausführungen Levermanns, aber ohne die dafür notwendigen mathematischen Kenntnisse zu besitzen.

3Anders Levermann, a.a.O., S. 211ff. u. S. 261f.

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Technologie als solitäre Lösung?

Wer sich etwas intensiver mit der Klimakrise befasst, kann feststellen, dass sowohl die Politik als auch viele der damit befassten Organisationen und Einrichtungen die Lösungsansätze zur Klimakrise schwerpunktmäßig auf dem Feld der Technologie suchen. Der große Vorteil dieser Herangehensweise besteht wohl darin, dass man den von der Klimakrise Betroffenen nicht klar machen muss, dass sie ihr Verhalten ändern oder gar einschränken müssten.

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Die Erwartung von Verhaltensänderung wird von vielen Betroffenen als Drohung empfundenen und die Verfechter des „Weiter so“ haben sich auf die Verzichtvokabel als wirksame Waffe eingeschossen. „Verzicht“ soll über den technologischen Ansatz vermieden werden können. Die Frage ist nur, wird die Technologie in der Lage sein, das Problem zu lösen oder ist nicht der Anspruch auf eine rein technologische Lösung wesentlicher Teil des Problems?

Wer das komplexe Problem der Klimakrise lösen will, steht m.E. vor mindestens zwei Lösungsalternativen, die in den Köpfen der meisten Menschen unterschiedlicher nicht sein könnten:

1. Die Politik favorisiert den Weg des geringsten Widerstandes und ist bemüht, sich alle Wege so lange als möglich offen zu halten, um ihre Wähler nicht zu verprellen. Die logische Folgerung dieser Haltung ist der Weg über die Technologie. Man kann die Vorgehensweise auch als Führen eines „Stellvertreterkrieges“ bezeichnen. Man muss selbst nichts tun und kann immer auf die noch ausstehenden Ergebnisse der Technologie verweisen. Mit der Technologie kann unverändert das Bruttoinlandsprodukt gesteigert werden und es kann ungehemmt die Geschichte vom angeblich steigenden Wohlstand erzählt werden. Das sieht aus wie eine „Win-Win-Situation“. Alle Erkenntnisse, die deutlich machen, dass wir damit geradewegs auf eine Wand zufahren, werden durch falsch verstandenen Optimismus übertüncht: ‚Es ist noch immer gut gegangen‘ oder ‚die Menschheit hat immer eine Lösung gefunden‘. Wenn man so denkt, blendet man das Leid und den Verlust an Menschenleben künftiger Generationen aus, die wir – nach allem, was wir wissen – durch unsere heutige Blindheit oder Unentschiedenheit auslösen werden.

2. Auf der anderen Seite ändert ein wachsender Teil der Bevölkerung, der sich durch die Klimakrise direkt angesprochen fühlt, freiwillig sein Verhalten, um durch diese persönlichen Maßnahmen ein Beispiel zu setzen, wie das inzwischen sich immer klarer abzeichnende „Desaster“ abzuwenden wäre. Die Anwendung von Technologie ist dabei nicht ausgeschlossen, spielt aber keine zielführende Rolle. Der Ansatz fußt auf der Erkenntnis, das nicht die Um- oder Mitwelt via Technologie geändert werden muss, sondern wir als Menschheit müssen unsere Perspektive und unser Verhalten ändern, die letztlich den Raubbau angestrebt und zugelassen haben. Es ist leider der Weg, den die meisten Menschen fürchten wie der Teufel das Weihwasser, weil sie aus ihren eingefahrenen Gewohnheiten herauskommen müssten, sie mit neuen Zusammenhängen konfrontiert werden und die absehbaren Veränderungen lösen Verunsicherung und wohl auch vielfach Existenzangst aus1.

Gemessen an dem gewaltigen finanziellen Aufwand und an den m.E. recht geringen Erfolgsaussichten der von Technologie getriebenen Alternative ist im Vergleich der Aufwand der zweiten Alternative im Grunde materiell und finanziell als gering einzuschätzen. Es geht in erster Linie um eine Haltung der Genügsamkeit bzw. Suffizienz, um die herrschende Überproduktion und die damit verbundene Verschwendung einzudämmen. Dazu braucht es im ersten Schritt keine (neue) Technologie, sondern den Mut, die gewohnten handlungsleitenden Motive zu ändern. Und hierzu fehlt es uns an sozialer Kompetenz und insbesondere an Selbstvertrauen, um in der Lage zu sein, die verständliche Verunsicherung einer Mehrheit der Bürger aufzufangen.

Um die notwendige Veränderung der Motivlage besser verständlich zu machen, sollten wir uns mit der gegenwärtig gültigen Motivlage befassen, damit wir die anzustrebten Veränderungen besser verstehen. Die gegenwärtig geltende Motivlage gibt vor, die freie Entfaltung und die Selbstbestimmung des Menschen hoch zu halten, aber gleichzeitig werden wir durch eine riesige Marketing-Industrie in unserer Selbstbestimmung nahezu permanent in einer Weise bedrängt, dass deutlich wird, dass das Wirtschaftssystem an der freiheitlichen Entfaltung und einer irgendwie gearteten Selbstbestimmung überhaupt kein Interesse hat. Deren Interesse konzentriert sich ausschließlich darauf, uns mit zweifelhaften Methoden zu guten Konsumenten zu ‚erziehen‘. Dieses Verhalten tolerieren wir leider widerspruchslos, weil wir es schon seit Jahrzehnten so gewohnt sind.

Nun müssen wir feststellen, dass diese „Indoktrination“ offensichtlich nicht mehr durchzuhalten ist, weil Wachstum nicht mehr als die Lösung aller ökonomischen Probleme angesehen werden kann. Dieser Komplex läuft u.a. unter der Überschrift „Klimakrise“. Mit anderen Worten, die Handlungsmotive, die uns über das Wachstum in die Krise geführt haben, werden keine Lösungsbeitrag liefern können, obwohl Wachstum uns ehemals eine goldene Zukunft und Wohlstand versprochen haben. Auf mittlere Sicht müssen wir einen anderen Weg finden. Gegenwärtig wird viel Kapital ‚verbraten‘, um eine technologische Lösung im Rahmen des politisch angenehmen Stellvertreter-Effektes zu finden. Inzwischen sind wir mehr als zwanzig Jahre weiter und müssen feststellen, dass das Grundproblem eines überdimensionalen Ressourcenverbrauchs unverändert unser Denken beherrscht.

Wäre es nicht an der Zeit, sich zu fragen, ob der technologische Ansatz überhaupt in der Lage ist, das Problem zu lösen? Müssen wir nicht am anderen Ende dieser Prozesse ansetzen und uns fragen, ob und wie wir die Motivlage in den westlichen Gesellschaften so verändern können, das Wachstum als Ausdruck eines „Schneller, Weiter, Höher“ und eventuell auch der allumfassende Gedanke der Konkurrenz als Ausdruck der systematischen Vereinzelung und des Gegeneinanders aufgegeben werden kann. Eine veränderte Motivlage würde neue Denk- und Handlungsräume eröffnen. Dazu müssen wir aber die gegenwärtig herrschende Motivlage vorurteilsfrei analysieren und sie mit ihren Vorteilen (die eine Zeitlang zweifelsohne überwogen), und ganz besonders mit den Nachteilen erkennen , die sich in den letzten fünfzig Jahren als gewaltige Defizite aufgetürmt haben.

Dirk Steffens, Wissenschaftsjournalist, hat in seinem Fernsehbeitrag „GEO-Story – Eat it“ den komplexen Zusammenhang auf eine (sehr) einfache Aussage reduziert: Wenn wir (der globale Norden) es schaffen, zehn Prozent weniger Nahrungsmittel wegzuwerfen, würde sich die Welternährungslage in den nächsten Jahrzehnten deutlich entspannen. Ohne die Durchführbarkeit dieser Aussage zu bewerten, ist dieser Vorschlag zweifelsohne ein Beitrag zu dem, was man im Allgemeinen unter dem Begriff Genügsamkeit oder Suffizienz versteht. Er richtet sich gegen jenes „Schneller, Weiter, Höher“, denn weniger wegwerfen bedeutet im Klartext weniger und damit kontrollierter konsumieren.

Vor diesem Hintergrund ergeben sich für mich zwei parallele Ansätze für die Veränderung der Motivlage: Die Suffizienz könnte die Grundlage für eine neue Motivlage darstellen. Um sie der breiteren Öffentlichkeit schmackhaft zu machen, muss dieses Handlungsmotiv von Seiten der Politik als erstrebenswertes Ziel begründet und ‚vermarktet‘ werden. Parallel müsste man die weitere Penetrierung der alten Motivlage durch die Wirtschaft deutlich verteuern. Die Marketingmaßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, den Konsumismus zu fördern, müssten kostenintensiver werden. Hierbei wäre es denkbar, die steuerliche Abzugsfähigkeit dieser ‚unerwünschten Propaganda‘ aufzuheben. Die Folge wäre, dass Marketing zum Zwecke der ständigen Konsumsteigerung bis zu 45% teurer wird. Zudem würde das Konsummarketing unter dem ständigen Druck der hoffentlich gut gemachten Marketingmaßnahmen für die neue Motivlage der Suffizienz stehen. Dieses Vorgehen wird die Wirksamkeit des Konsummarketings relativieren. Die Finanzmittel, die durch diese steuerliche Maßnahme den öffentlichen Kassen zufließen, könnte man in die Finanzierung der forcierte Verbreitung der neuen Motivlage einsetzen. Ich bin mir sicher, dass für diesen Zweck erhebliche Summen zur Verfügung stehen würden.

Ich kann mir aber gut den entsetzten Aufschrei derer vorstellen, die stets die Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen als Folge möglicher Manipulation in Gefahr sehen. Aber solange diese Damen und Herren offensichtlich keine Probleme mit der ideologischen Indoktrination des Bürgers durch das Wirtschaftsmarketing erkennen wollen, sollten sie auch zulassen können, dass in einer schwierigen Situation die legitimierte Vertretung unseres Gemeinwesen sich der Erkenntnisse des Marketings als eines akzeptablen Mittels zur Umsetzung bedient.

Dieser Ansatz zeigt eine Entwicklung auf, die man im laufenden Prozess noch steuern und ggfs. verbessern kann. Statt der Vorstellung von unbegrenztem Wachstum und dem alles umfassenden Wettbewerb würde das Ziel eine gute Versorgung sein. Statt quantitativ „Geiz ist geil“, einer Schnäppchenorgie, der Forcierung des industriellen Durchsatzes und dem Wachsen der Müllberge, wird das Leitmotiv ‚Versorgung‘ Wert auf Lebensdauer, Reparaturfähigkeit, Müllvermeidung, also deutlich den Wert auf Qualität legen. Gewinnmaximierung wird kein Ziel mehr sein können, Gewinnerzielung wird jedoch ein anzustrebendes Ziel bleiben.

Dieser Wandel ist ein anspruchsvolles Wirtschaftsprogramm. Die simplen Regeln des alten Systems müssen Schritt für Schritt durch neue Regeln ersetzt werden. Das neue System ist nach wie vor ein Marktsystem, dem aber die Treiber ‚Wachstum‘ und ‚grenzenlose Konkurrenz‘ fehlen werden.

Als Folge werden wir z.B. die Abschreibungssätze neu festlegen müssen: wenn ein im Grunde langlebiges Wirtschaftsgut durch eine willkürliche Regel auf 25 Jahre abgeschrieben werden kann, müssen wir uns nicht wundern, wenn dieses im finanzwirtschaftlichen Sinne ‚verbrauchte‘ Wirtschaftsgut auch nach 25 Jahren entsorgt wird, obwohl es vermutlich technisch ohne Probleme mit etwas Erhaltungsaufwand über eine doppelte oder gar dreifache Lebensdauer verfügen könnte. Das jüngst verabschiedete EU-Recht auf Reparatur wird hier wichtige Beiträge leisten können.

Wenn wir Wachstum als ein Ausdruck von Gier und Konkurrenz als Ausdruck einer ständigen Konfrontation, einer Haltung des menschlichen Gegeneinanders verstehen, wird erkennbar, dass zwei der wesentlichen Treiber des bestehenden Wirtschaftssystem offiziell in Frage stehen würden. Wir würden mit der Änderung der Motivlage Schritt für Schritt den einseitigen Druck aus dem System nehmen. Da es sich dabei nicht um einen Bruch, sondern um einen längeren Prozess handelt, besteht die Möglichkeit, auf den Prozess über die Zeit Einfluss zu nehmen und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen. Die einzige Entwicklung, die ausgeschlossen wird, ist der Weg zurück zu einem System, das die menschliche Gesellschaft ‚gegen die Wand fährt‘.
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1Dabei ist ‚Verzicht‘ oder ‚Entsagung‘ nichts Ungewöhnliches oder Abartiges. (vgl. eine m.E. gelungene Rezension von Gustav Seibt (SZ v. 25/26.11.2023) zu Ottfried Höffe, Die hohe Kunst des Verzichts, München 2023). Die Fülle des Lebens ist ohne Verzicht nicht denkbar.

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Demokratie im Wandel?

Die von weiten Teilen unserer Bevölkerung akzeptierte repräsentative Demokratie steht unter Beobachtung. Einerseits fühlen sich viele als abgehängt und sind frustriert (nach dem Motto: unsere Stimme zählt sowieso nicht) und andererseits sind die tatsächlichen ablaufenden Prozesse für viele nicht mehr nachvollziehbar.

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Viele sind auch zu bequem geworden, sich mit den Prozessen, die sie nicht unmittelbar betreffen, zu befassen. Die Vorstellung einer Gemeinschaft, für die es sich lohnen könnte, sich einzusetzen, droht verloren zu gehen.

Es gibt viele Gründe für dieses Verhalten. Einer mag darin liegen, dass in unserem bisher gepflegten Wirtschaftssystem „Freiheit und Autonomie Hand in Hand gehen. Autonom zu sein bedeutete frei zu sein und frei zu sein bedeutete autonom zu sein. Es war jedoch eine eigentümliche Form der Freiheit. Im Zeitalter des Fortschritts herrschte eine negative Freiheit – die Freiheit von Bindungen, die Freiheit von Zwang, die Freiheit der Autarkie und Eigenständigkeit, die wir bis heute kennen. Unter den Angehörigen der sogenannten Generation X, Y, und Z stößt dieses Verständnis von Freiheit zunehmend auf Ablehnung. Sie sind in einer Welt aufgewachsen, die von Eigentum zu Zugang, vom Tauschwert zu Teilwert, von Märkten zu Netzwerken und von Autonomie zu Teilhabe übergeht. Für eine intelligent vernetzte Kohorte von Digital Natives kämen Autonomie und Ausschließlichkeit – die Abschottung vom Rest der Welt – einem Todesurteil gleich“, meint Jeremy Rifkin1.

Etwas allgemeiner fasst eine Studie der OECD aus dem Jahr 2019 ihr Urteil über die repräsentative Demokratie zusammen: „Die aktuellen Strukturen von Demokratie und Staatsführung lösen ihre Versprechen nicht ein.“2

In Berlin hat man diese Ausführungen offensichtlich auch zur Kenntnis genommen. Man ist sogar aktiv geworden und hat vor wenigen Wochen einen Bürgerrat ins Leben gerufen, um der Politikverdrossenheit etwas entgegen setzen zu können. Ich persönlich halte diesen Vorgang für sehr bemerkenswert, aber die Resonanz oder sagen wir, ein gezieltes ‚Marketing‘ für dieses neue, die repräsentative Demokratie ergänzende Instrument als wichtigen Schritt in die richtige Richtung ist nicht festzustellen. Das Gremium ist installiert, aber ganz schnell ‚Schwamm drüber‘, damit es ja keiner merkt. Wie lässt sich dieses Verhalten erklären?

Nach der Theorie der repräsentativen Demokratie fällt den Parteien u.a. die Aufgabe zu, die Ideen und Stimmungen der Bevölkerung aufzugreifen und ihnen ein Gesicht zu geben. Wir müssen leider feststellen, dass diese Aufgabe nicht oder nicht mehr richtig wahrgenommen wird. Die Parteien nehmen nur auf, was in ihr Programm zu passen scheint, anstatt es umgekehrt zu machen: das Parteiprogramm anhand der Ideen und Stimmungen zu formulieren, damit hier ein Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Bevölkerung und den Erfordernissen einer staatlichen Organisation gefunden werden kann.

Die Parteien leben ähnlich wie die Abgeordneten in Blasen oder sogenannten Echokammern. Die Idee des Bürgerrates auf allen Ebenen unseres Gemeinwesens könnte diese Echokammern wirkungsvoll aufbrechen. Das setzt aber voraus, dass dieses neue Instrument auch vom parlamentarischen ‚Fußvolk‘ akzeptiert und genutzt wird. Die Parteien müssen trotz der Kritik aus ihrer Schmollecke heraustreten und dieses Instrument aktiv für eine umfassende Politik nutzen.

Um die Bedeutung dieser Bürgerräte besser bewerten zu können, sollte man sich die Argumente der Altvorderen bei der Gründung der Demokratie in Amerika auf der Zunge zergehen lassen:

„Die Gründerväter waren in Sorge, dass in einer Demokratie unweigerlich Lager und Interessengruppen gegeneinander antreten und die Herrschaft des Volkes in die Herrschaft des Pöbels umschlägt, die Minderheiten zum Schweigen bringt und an den Rand drängt.3“ John Adams (2. Präsident der USA, 1791 – 1801) äußert sich ähnlich: „Eine Demokratie hält nicht lange. Sie verschwendet, erschöpft und erledigt sich von selbst. Es gab noch nie eine Demokratie, die nicht Selbstmord begangen hätte.4“ Man hat deshalb in Amerika alles daran gesetzt, eine basisdemokratisch orientierte Struktur zu verhindern. Diese Haltung wurde offensichtlich auch für die Verfassungen in Europa übernommen. Deshalb sollen die verschiedenen Bevölkerungsteile und Meinungsspektren lt. unserer Verfassungen durch Parteien repräsentiert werden. Aber offensichtlich gelingt das immer weniger.

Stattdessen haben sich die rechtsextremen Parteien darauf spezialisiert, dem Wahlvolk zu vermitteln, dass sie angeblich dem Volk ‚aufs Maul schauen‘ und rückwärtsgewandte Illusionen aufgreifen, um sie ‚ungefiltert‘ in den Politikbetrieb einzubringen, ohne ihr jeweiliges Realisierungspotenzial zu prüfen und sinnvoll abzuwägen.

Vor diesem Hintergrund müsste eigentlich die Einführung des Gedankens eines Bürgerrates ein demokratischer Paukenschlag sein. Ich habe den Paukenschlag leider nicht gehört, er war wohl sehr verhalten.

Dabei ist die Idee eines basisdemokratischen Elements unter Beibehaltung der repräsentativen Demokratie nichts Neues. Der Bürgerrat soll die repräsentativen Strukturen nicht ersetzen, sondern ergänzen. Die „Echokammern“ können nur dadurch aufgebrochen werden, indem andere Perspektiven als jene der Parteien formuliert, aufbereitet und in den Politikbetrieb (als eine Form von Bürokratie) eingeführt werden.

Bürgerräte und vergleichbare Einrichtungen mit basisdemokratischen Elementen sind in vielen Ländern an der Tagesordnung. In einem gutgemachten Beitrag der ARD unter dem m.E. unglücklichen Titel: „Sollen wir wählen oder losen?“ wird ausgeführt, dass es weltweit mindestens 400 erfolgreiche Anwendungsbeispiele gibt, die sich auf eine Ausarbeitung von Prof. Dr. Peter Dienel5, Wuppertal aus den 1970er Jahren beziehen. Rifkin6 bezeichnet diese Form einer Ergänzung der repräsentativen Demokratie „Peerocracy“ und zeigt erfolgreiche Anwendungen des Konzeptes u.a. in Südamerika. Die Legitimationsstrukturen einer repräsentativen Demokratie bleiben dabei unangefochten, aber die Problemaufbereitung erfolgt in der bürgerschaftlichen Öffentlichkeit deutlich breiter als in den Hinterzimmern der Parteien. Rifkin verweist u.a. auf die Erarbeitung einer alternativen Haushaltsplanung durch die Bürgerräte, die offensichtlich den Nerv der Wähler trafen. In dem Beispiel wurde der Haushaltsplan von der repräsentativen Politik übernommen und schlicht umgesetzt.

Wichtig erscheint es, Bürgerräte auf allen Ebenen des politischen Geschehens einzurichten. Wir können davon ausgehen, dass durch die Beteiligung großer Bevölkerungsteile ein Wissen und ein Verständnis für politische Gesichtspunkte und deren oft komplizierte Umsetzung entsteht. Das ist Bildung am praktischen Objekt. Dazu braucht es kein Studium, dazu reicht ein gesunder Menschenverstand und ein paar neutral gehaltene Informationen, um die jeweilige Problematik angemessen zu vermitteln.

Bürgerräte werden zu einem Projektthema einberufen, befassen sich mit diesem Projekt und seinen Lösungsmöglichkeiten und erstellen einen Bericht. Nach der Diskussion des Berichts in den Gremien der repräsentativen Politik löst sich der jeweilige Bürgerrat wieder auf. Es entstehen keine neuen bürokratischen Strukturen, auf die sich z.B. Lobbyisten einstellen könnten, um ihren Einfluss auf das Projekt geltend machen zu können. Für ein anderes Thema wird ein neuer Bürgerrat zusammengestellt.

Dieser Vorgang ist m.E. eine Bildungsinitiative am praktischen Objekt, deren Reichweite nicht weit genug eingeschätzt werden kann. Im Umfang kleine Bürgerräte umfassen auf kommunaler Ebene etwa 25 bis 75 Personen. Auf Landkreisebene vielleicht 100 bis 150 Personen. Multiplizieren Sie bitte diese Zahl nur mit der Hälfte der Zahl der Kommunen zuzüglich der Landkreise, der Länder und auf Bundesebene. Wir dürfen nicht vergessen, dass es auch Problemstellungen gibt, die sich nicht an die bürokratische Gliederung unseres Gemeinwesens halten. Gehen wir weiter davon aus, dass es pro Gliederungseinheit mindestens einen Bürgerrat pro Jahr gibt. All das hochgerechnet gibt einen gigantischen Schub für mehr Beteiligung einerseits und andererseits im Bereich der politischen Bildung einen praxisorientierten Fortschritt, der heute kaum vorstellbar ist. Wir müssen nicht alle und jeden für Politik begeistern, aber wir würden durch die Bürgerräte eine Basis legen, um unsere Demokratie deutlich zu beleben, um reaktiver und kommunikativer zu werden. Die Kommunikation zwischen den Parteien bekommt sachlich neue Impulse und der teilweise kindische Hickhack um des „Kaisers Kleider“ könnte reduziert werden.
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1Rifkin, Jeremy, Das Zeitalter der Resilienz, Frankfurt 2022, S. 258f.

2Zitiert nach Rifkin, a.a.O., S. 261

3Rifkin, a.a.O., S. 258 (eine Aussage von James Madison, 4. Präsident der USA, 1809 – 1817)

4Zitiert nach Rifkin, a.a.O., S. 258

5Dienel, C. Peter, Die Planungszelle, 5. Auflage, 2004

6Rifkin, a.a.O., S. 259ff.

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Dirk Steffens und die GEO -Story

Der Wissenschaftsjournalist Dirk Steffens war auf vielen Kanälen aktiv, um einerseits sein Buch „Eat it!“ als auch seine damit verbundene Dokumentation unter dem Namen „Die große GEO – Story“ auf RTL zu bewerben. Das Buch habe ich bisher nicht gelesen, aber die Dokumentation wollte ich mir anschauen, weil ich die Kombination von GEO und RTL im Rahmen einer Dokumentation ungewöhnlich finde.

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Es wäre hilfreich gewesen, wenn es bei RTL so etwas wie eine Mediathek geben würde, die es ermöglicht, den ersten Eindruck durch einen zweiten (vielleicht intensiveren) zu ergänzen.

Die privaten Sender, die ich von ihrem Geschäftsmodell her als eine Marketinginstitution qualifiziere, vermeide ich, wo ich nur kann. Ich lehne es ab, mich einem Dauerstress durch ziemlich plattes, aggressives Marketing auszusetzen. Nach Dirk Steffens Werbetour habe ich diese Bedenken beiseite geschoben (man kann ja immer noch was dazu lernen) und habe am Donnerstag, den 19.10.2023, 20:15 Uhr den Beitrag trotz der unverschämt penetranten Werbeblöcke bis fast zum Schluss auf RTL angesehen.

Bevor ich nun zu irgendwelchen Aspekten des Beitrags Stellung nehme, habe ich mich gefragt, warum taucht Dirk Steffens, der einen Ruf als Wissenschaftsjournalist zu verlieren hat, gemeinsam mit GEO bei RTL auf. Dokumentationsreihen zählen ja nicht zu den ausgewiesenen Stärken dieser Senderkategorie. Das Zeitschriftenkonklomerat GEO weist lt. Wikipedia als Unternehmen von Gruner & Jahr und als Teil der RTL Group in den letzten Jahren offensichtlich einen erheblichen Auflagenrückgang auf. GEO wurde gezwungen, sich ein radikales Sparprogramm zu verordnen. Die beiden Chefredakteure von GEO haben daraufhin im Februar 2023 ihre Positionen geräumt.

Dokumentationen, und die „GEO -Story“ muss man als solche ansehen, werden selten so heftig beworben. Sie entwickeln ihre Zuschauerschar eher leise über Mundpropaganda und auf einem Weg, den man am einfachsten mit dem antiquierten Satz beschreiben könnte: Qualität setzt sich durch! Das soll aber nicht andeuten, dass die GEO -Story diesem Gesichtspunkt nicht gerecht werden kann. Mein Eindruck ist natürlich gefärbt, aber die Dokumentation stellt einer Reihe von sachlichen, unabhängigen und begründbaren Aussagen vor, die durch mehrere ca. fünfzehn Minuten dauernde Werbeblöcke mit stark manipulativer Tendenz zu Sachverhalten unterbrochen werden, deren Relevanz gemessen am Thema der Dokumentation als ‚unterirdisch‘ erscheint. Dieser krasse Gegensatz lässt sich m.E. nicht auf einen Nenner bringen. Da prallen zwei fremde Welten auf einander. „Schuster, bleibt bei euren Leisten!“

Nun zu einigen inhaltlichen Überlegungen. Aus verschiedenen Beiträgen im Rahmen der Werbetour von Dirk Steffens und den Feststellungen der Dokumentation lässt sich erkennen, dass Steffens einen ganz wesentlichen Schwerpunkt der erfolgreichen Verarbeitung der sogenannten ‚Klimakrise‘ in der Beherrschung der Frage der Nahrungsmittelproduktion sieht. Sie gilt für ihn als ‚Keyplayer‘ in der Auseinandersetzung über sinnvolle Maßnahmen. Es wäre interessant gewesen, hierzu ein paar mehr Gründe aufzuzeigen, warum ausgerechnet die Nahrungsmittelproduktion so entscheidend ist.

Die Nahrungsmittelproduktion beeinflusst unsere Ernährungsgewohnheiten und diese wiederum auch unsere Gesundheitsvorsorge. Die Klimakrise ist monokausal nicht zu erfassen, weil nicht nur ein Aspekt die Problemstellung löst. Steffens Begründung für seine Vorgehensweise ist leider typisch für unser Verhalten. Multivariable Problemstellungen lassen sich nicht durch einfache Lösungsansätze regeln.

Die von Dirk Steffens vorgebrachten Bildargumente sind nicht neu, aber durch die Bilder gewinnen die oft nur verbalen Vorstellungen an Konkretheit. Aber das Fazit aus den Darstellungen, dass wir dann, wenn wir (die Welt) zehn Prozent weniger Nahrungsmittel wegwerfen, die Welt wieder (ein Stück weit) gerettet sei, ist zu plakativ und vernachlässigt zahllose Restriktionen, die man hätte ansprechen müssen, um der Komplexität der Sachlage gerechter zu werden.

Das große Frage der „Klimakrise“ richtet sich darauf aus, den Punkt zu finden, an dem wir sinnvoller Weise den Anfang des Problem-“Knäuls“ suchen sollen, um die Chance zu einem raschen Lösungserfolg zu nutzen. Dirk Steffens vertritt die Meinung, dass man dort beginnen sollte, wo nach dem ökonomische Prinzip die größten bzw. schnellsten Erfolge zu erzielen sind. Für ihn ist das der Ernährungssektor. Wir haben es aber mit einer hochkomplexen Fragestellung zu tun. Die gewohnte Anwendung des linearen Denkens in der Vorgehensweise könnte dabei Teil des Problems sein.

Wir werden wohl nicht die Herausforderungen nacheinander (sequenziell) angehen können, sondern müssen eine Strategie verwenden, die an vielen Stellen ggfs. aber nur wenig verändert, um durchsetzbar zu sein. Ernährung hängt z.B. eng mit der Gesundheit zusammen, Konzentriert man sich ausschließlich auf die Ernährungsfrage, so könnte übersehen werden, dass Ernährung nicht nur „satt“ machen sollte, sondern je nach Form der „Sättigung“ auch eine erheblichen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden hat.

Die Ausführungen von Dirk Steffens folgen einem alten ökonomisch monokausalen Schema: Der Verbraucher bestimmt angeblich mit seinen Präferenzen wie wir leben, was wir kaufen und wie viel davon, denn der „Kunde ist König“ – was für eine äußerst fragwürdige Aussage in einem System, dass viele Milliarden Euro ins Marketing pumpt, um zu versuchen, die Menschen hinsichtlich ihrer Konsumgewohnheiten effektiv zu manipulieren.

Der Beitrag zeigt eindrücklich, wie viel Nahrungsmittel-Abfall wir produzieren, aber er nennt nicht die möglichen Gründe für diese Abfallmengen: die Gebindeformen, Handelsklassen, Verwertungsvorschriften, EU-Vorschriften zur Optik von Produkten, möglicherweise überzogene Hygienevorschriften, Missverständnisse zum Mindesthaltbarkeitsdatum, und vieles andere mehr. Jede dieser Vorschriften scheint für sich genommen sinnvoll, in Summe jedoch führen sie ins Chaos.

Wenn wir zehn Prozent weniger wegwerfen (wollen oder) sollen, dann müssen wir in der Lage sein, mindestens zehn Prozent weniger einzukaufen. Ein bewusst herbeigeführter Rückgang des Lebensmittelumsatzes von zehn Prozent und das weltweit? Wer sollte ihn veranlassen? Das widerspricht doch den gegenwärtigen Vorstellungen von einem kapitalistischen System! Wo ist denn der Politiker oder die Partei, der/die diese „zehn Prozent weniger“ auf seine/ihre Fahnen schreiben würde? Das ist der Widerspruch in der GEO – Dokumentation. Es mag richtig sein, dass zehn Prozent weniger Abfall in unseren Breiten unsere Ernährungssituation weltweit rein rechnerisch entspannen könnte, Aber dem Gedanken steht doch eine mächtige Lobbypropaganda entgegen: „Was? Zehn Prozent weniger Umsatz? Wir sind auf Wachstum getrimmt! Unsere Aktionäre erwarten vierteljährlich „frohe Botschaften“. Und ein Umsatzrückgang von zehn Prozent kann selbst mit der besten Propaganda nicht als eine positive Entwicklung dargestellt werden.“

Gehen wir noch ein Stück weiter: Wenn in der Welt alle ‚übergewichtigen‘ Menschen zehn Prozent ihrer Kalorienzufuhr (als eine weitere Umsatzeinbuße) reduzieren würden, hätte das vermutlich einen vergleichbaren Effekt. Zusätzlich würden aber unsere Gesundheitskosten dramatisch sinken. Man könnte also den Lobbyisten der Umsatzfetischisten entgegenhalten, dass mit der Reduktion von zehn Prozent Umsatz gesellschaftlich eine enorme Kostenreduktion einhergehen könnte, so dass wir im Saldo möglicherweise besser dastünden als zuvor.

Das ist leider eine Milchmädchenrechnung, weil die Träger des Einzelhandelsumsatzes und die Träger der Gesundheitskosten unterschiedlichen Sektoren zugerechnet werden und wir nicht gewohnt sind, eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf gesellschaftlicher Ebene durchzuführen. Lieber lassen wir die ‚Retailer‘ extra Geld verdienen und lassen unsere Gesundheitskosten explodieren. Wir, die Steuerzahler, können uns das scheinbar noch leisten.

Dieses zugegeben überzogene Beispiel ist aber symptomatisch für die Bemühungen zur Bewältigung der „Klimakrise“. Unsere übliche monokausale Vorgehensweise nach der Devise eine Ursache löst eine Wirkung aus, fällt bei der Klimakrise durch – dort kann durchaus gelten, dass eine Ursache zahlreiche Wirkungen in den unterschiedlichsten Sektoren unseres Lebens auslöst. Dann ist aber ein Lösungsansatz auf einer monokausalen Basis wenig erfolgversprechend, weil der Komplexität des Vorgangs nicht ausreichend Beachtung geschenkt wird.

Das Leben ist immer ein Ganzes. Wir neigen dazu, das Leben in von einander scheinbar unabhängige Sektoren aufzugliedern, was nicht der Wirklichkeit entspricht. Andere Philosophien verneinen die Möglichkeit, uns und unsere Existenz in Teile zu zergliedern. Wir glauben unser Leben z.B. in Arbeitszeit und Freizeit unterscheiden zu können. Wir tun so, als ob unser Verhalten im Arbeitsmodus ein anderes sein kann und soll, als wir es in der Freizeit leben. Ist das Realität oder bilden wir uns das nur ein, weil wir hier Gewohnheiten herausgearbeitet haben, die möglicherweise systemisch anderen Zielen dienen sollen?

Nun zurück zu Steffens’ GEO-Story: Bei seinen Auftritten wird gerne betont, dass er Kompliziertes oder Komplexes einfach erklären kann. Diese Fähigkeit hat nicht jeder und ich möchte sie ihm auch nicht absprechen. Aber jede einfache Erklärung muss die Komplexität reduzieren und die ‚Klimakrise‘ lässt sich nur schwer mit einfachen Mitteln erklären, die meist aus der veralteten Newton’schen Mechanik stammen. Aber vielleicht hilft es, wenigstens Teile des Klimaprozesses so zu erklären, dass es in das Allgemeinwissen der Bevölkerung Eingang findet, weil das verbreitete Verständnis von Prozessen meist noch aus sehr alten Tagen stammt. Komplexität, Systemdenken oder Denken in Funktionalität und multivariable Ansätze sind selbst in akademisch gebildeten
Kreisen noch keine Selbstverständlichkeit. Also können wir nur hoffen, dass der GEO – Beitrag nützt und ein gewisses Maß an Verständnis weckt.

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Die Kunst der Fairness

Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist das englische Buch aus 2020 mit dem Titel: „The Art of Fairness. The Power of Decency in a World Turned Mean1“ Der Titel lässt sich etwa wie folgt übersetzen: „Die Kunst der Fairness. Die Kraft des Anstands in einer armseligen (oder gemein gewordenen) Welt“.

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Das ist ein vielversprechender Titel und die Erwartungen sind entsprechend hoch, weil u.a. das Wort „Anstand“ in der deutschen Sprache aus einer Welt zu stammen scheint, von der wir meinen, sie schon lange hinter uns gelassen zu haben.

Wer nun glaubt, eine Analyse der Zusammenhänge vorzufinden, wird enttäuscht. Der Autor präsentiert eine Reihe von Fallstudien über Personen, die nach Auffassung des Autors in schwierigen Situationen Fairness bzw. Anstand oder Haltung zeigten bzw. so etwas wie Anstand verwirklicht haben. Nach jeder oft spannenden Beschreibung einer Fallstudie werden ein paar Sätze verwendet, um kurz, aber m.E. unzureichend zu kommentieren2.

Ich sehe mich nicht im Stande, die erwartete Analyse zu liefern. Aber ein paar Gedanken dazu wären vielleicht zulässig und hilfreich. In dem Titel des Buches stecken mindestens drei Gesichtspunkte, zu denen ich ein paar grundsätzliche Ausführungen erwartet hätte:

  • Welches Konzept von Fairness ist hier gemeint? Wenn von ‚Kunst‘ die Rede ist, geht es weniger um eine Theorie, sondern um die Umsetzung eines Konzeptes.
  • Was ist Anstand? Warum wirkt der Begriff im deutschen Sprachgebrauch so aus der Zeit gefallen?
  • Und letztlich geht es um die Frage nach dem Grund für die Wahrnehmung einer ‚armseligen‘ (oder gar ‚bösen“) Welt, wobei (indirekt) der Eindruck vermittelt wird, sie sei früher besser gewesen?

Es ist nicht auszuschließen, dass der Verlag bei der Titelvergabe ein Wort mitgesprochen hat, um eine schlichte Ausarbeitung marktfähiger (= reißerischer) zu machen. Anhand der von mir formulierten Erwartungen aufgrund des Titels halte ich diese Auffassung für nicht ganz abwegig.

Es beginnt schon damit, dass ‚Fairness‘ und ‚Decency‘ in ihrer Bedeutung eine gemeinsame Schnittmenge haben. Dabei kommt Fairness als Synonym für Anständigkeit, Zuverlässigkeit aus dem Umfeld der Gerechtigkeit und Decency, verstanden als Anstand, Schicklichkeit, Ehrbarkeit aus dem Bereich des sozialen Umgangs. Decency erscheint mir dabei der ältere Begriff zu sein und er korrespondiert mit dem deutschen Wort ‚dezent‘ als Synonym für unaufdringlich, zurückhaltend, schicklich.

Der Sozialphilosoph John Rawls hat seine Sicht auf die Gerechtigkeit gegen Ende des letzten Jahrhunderts auf einem Begriff der Fairness aufgebaut. Er versucht dabei die Gerechtigkeit, die traditionell auf einer metaphysischen Grundlage aufbaut, durch einen politischen Ansatz zu ergänzen und nutzt hierfür den Begriff der Fairness.

Ein Beitrag im Internet fasst einen uralten Grundsatz als Ausdruck von Fairness wie folgt zusammen:

„Verhalte Dich zu anderen und Dir selbst gegenüber so, wie Du willst, dass Andere mit Dir umgehen, wenn Du auf das Wohlwollen anderer angewiesen bist!“
Die Aussage, insbesondere des letzten Halbsatzes erscheint mir kritisch – Fairness sollte m.E. zweckfrei sein, sonst wirkt die Aussage sehr utilitaristisch – warum muss Fairness mit einem Nutzen verbunden werden?!

Fairness wird auch mit Anständigkeit und Zuverlässigkeit in Verbindung gebracht. In der Wirtschaft wird der Begriff „true and fair“ verwendet, um eine zuverlässige Aussage zu beschreiben. Der ältere Begriff der ‚Decency‘ wird eher mit Anstand und Ehrbarkeit in Verbindung gebracht. Die Diskrepanz wird vielleicht deutlich, wenn man darauf hinweist, dass es noch in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland ein dickes Standardwerk mit dem Titel „Der ehrbare Kaufmann“ gab, das als sogenannter Bestseller weit verbreitet war. Heute verbinden wir Management i.d.R. nicht mehr mit Ehrbarkeit, eher mit „Cleverness“ und mit dem alles dominierenden Rentabilitätsanspruch.

Damit wird auch verständlicher, warum im Titel die Fairness als „Eyecatcher“ auftaucht und der Begriff von Anstand und Ehrbarkeit (Decency) in der Folge mit dem Begriff einer ins Negative gedrehten Welt in Verbindung gebracht wird. Der Autor will damit vielleicht zum Ausdruck bringen, dass wir als Gesellschaft etwas Wesentliches verloren haben: unsere Ehrbarkeit!

Und das klingt wie aus der Zeit gefallen – der Thymos, eine Haltung der alten Griechen, kannte diese ihnen wesentliche Eigenschaft als Ehre und Stolz, die nicht nur Vorteile aufzuweisen hat. Wir haben uns vom oft engen Thymos Schritt für Schritt befreit, weil die Zeiten sich verändert haben. Aber, so scheint es mir, wir haben als Gesellschaft keinen angemessenen Ersatz gefunden.

Mit der Aufgabe der Ehrbarkeit als verbindendem Moment haben wir gezielt jeden moralischen Anspruch an das Management aufgegeben. Viele Wirtschaftswissenschaftler haben sich insbesondere in den 1970er Jahren gerühmt, wertfreie Wissenschaft zu betreiben. Wirtschaftswissenschaft sei wie die Naturgesetze frei von moralischer Wertung. Je mehr wir über den Klimawandel erfahren, desto klarer wird es, dass diese Haltung eine verhängnisvolle Täuschung darstellt.

Wir können viele unserer Herausforderungen deshalb nicht angemessen wahrnehmen, weil wir über keinen allgemein akzeptierten moralischen Anspruch verfügen, eher glaubt jeder, dass er eine ‚Insel der Freiheit‘ darstellt und damit scheitern oft gemeinsame Aktionen an den Egoismen und Narzissmen der Beteiligten. Der alte Grundsatz der Mäßigung, den die Griechen uns vor zweieinhalb tausend Jahren ans Herz gelegt haben und den die Theologie über das Mittelalter weiterführte, ist heute nicht mehr darstellbar – Mäßigung wird immer unter der Perspektive eines Verzichtes gesehen und Verzicht wird als Einschränkung verstanden statt in dem Verzicht auch eine große Befreiung3 erkennen zu können.

Die Ideologisierung des Konsums als wesentliches Treibmittel unseres Wirtschaftssystems hat dazu geführt, dass wir jedes menschliche Maß verloren haben. Mäßigung ist eine Frage der persönlichen Charakterbildung. Sie hat etwas zu tun mit unserer Einstellung zum Leben und steht im Gegensatz zum „Schneller, Weiter und Höher“ unseres Wirtschaftssystems. Das Wirtschaftssystem schießt deshalb aus allen Rohren gegen die Breitenwirkung dieser persönlichen Charakterbildung mit der schlichten Begründung, dass diese Haltung in erster Linie den Profit der Unternehmen reduzieren und als Folge das Wirtschaftssystem in Frage stellen könnte.

Die EU plant nun Werbe-Aussagen zukünftig nur dann zuzulassen, wenn deren Aussagen durch angemessene Studien belegt werden können. Mit anderen Worten, die EU will den heute ‚legalen Betrug4‘ durch gefakte Informationen (radikal) eindämmen. Hier käme eine moralische Kategorie der Wahrhaftigkeit zum Tragen, die wir schon vor Jahrzehnten auf dem Altar der Ökonomie geopfert haben. Aber achten Sie auf die Reaktion der Unternehmen! Abgesehen, dass die Werbe- und Marketingindustrie absehbar in Schwierigkeiten kommen könnte, bekämpft die Wirtschaft dieses Vorhaben verdeckt (es soll ja keiner merken) mit allen ihr verfügbaren Mitteln. Das ist in höchstem Maße unfair, es ist also nach allem, was wir bisher entwickelt haben, unanständig! In Grenzen ist das Verhalten vielleicht nachvollziehbar, aber kann es sein, dass große Teile unseres Wirtschaftssystem von der ‚Lüge‘ lebt? Die EU ist nun aufgewacht und hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es so nicht weitergehen kann. Die Reaktion der Wirtschaft zeigt deutlich, dass sie sich bewusst ist, dass offensichtlich wesentliche Teile ihres Umsatzes auf vorsätzlich gefälschten Informationen beruhen, anders kann man sich die Aufregung, die das EU-Vorhaben auslöst, nicht erklären.
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1Bodanis, David, The Art of Fairness, The Power of Decency in a World Turned Mean, Great Britain, 2020

2Erst am Ende des Buches unter „Reading and Reflections“ gibt der Autor Hinweise auf weiterführende Literatur.

3Vgl. Niko Paech, Befreiung vom Überfluss, München 2012 oder Manfred Folkers, Niko Paech, All you need is less, München 2020

4John Kenneth Galbraith, Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs, Vom Realitätsverlust der heutigen Wirtschaft, München, 2005

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