Was zählt als Egoismus?
Wikipedia zählt unter dem Begriff Egoismus zehn Eigenschaften auf, die im Allgemeinen als Teilaspekte dieser menschlichen Haltung verstanden werden:
Eigennutz, Eigensucht, Ichbezogenheit, Ichsucht, Narzissmus, Selbstbesessenheit, Selbstbezogenheit, Selbstliebe, Selbstsucht und Selbstverliebtheit.
Wenn wir hier die Doubletten herausnehmen und auch den Suchtgedanken als eine eigene Übersteigerungsform zu den Doubletten hinzuzählen, bleiben Eigennutz, Ichbezogenheit und Selbstliebe als deutlich unterscheidbare Aspekte des Egoismus. Narzissmus ist eine übersteigerte Form der Selbstliebe und Selbstverliebtheit könnte man als eine temporäre Spielform der Selbstliebe betrachten. Der nicht erwähnte Begriff Selbsterhaltung ist im Egoismus sicherlich auch enthalten, wird aber von Wikipedia nicht erwähnt und zählt m.E. zum Eigennutz. Selbsterhaltung ist als Trieb anzusehen und steht dem Menschen auf seiner Verstandesebene nur sehr bedingt zur Disposition.
Bei der Beschreibung des „Begriffsraumes“ des Egoismus fällt auf: Niemand würde einen dieser Begriffe freiwillig für eine Beschreibung seiner eigenen Person verwenden! Keiner der Begriffe hat eine positive Konnotation. Daraus ließe sich schließen, dass Egoismus offensichtlich eine Eigenschaft ist, die jeder kennt, mit der sich aber niemand wirklich identifizieren will. Egoismus ist also bestimmt keine Tugend, auch kein Verhalten, das es gilt, im Menschen besonders zu fördern. Man kann auch sagen: Egoismus ist ein negativer Begriff, eine Eigenschaft, deren Duldung im gesellschaftlichen Umfeld von den Mitmenschen beachtliche Toleranz erfordert. Egoismus ist auch oft mit Macht gepaart. Egoisten ohne Macht werden von der Gesellschaft „ausgeschwitzt“, bleiben Egoisten, aber fallen in die Bedeutungslosigkeit. Der Egoismus, der uns Mitmenschen wirklich trifft, ist die Kombination von Egoismus und Macht.
Gibt es Aussagen, die den Egoismus konkreter beschreiben? „Mir das meiste“ wäre eine noch relativ moderate Formulierung einer egoistischen Handlungsweise. Oder „Me first“ (ich zuerst) ist eine vergleichbare Beschreibung. Oder: „Alles für sich und nichts für die anderen scheint zu allen Zeiten die niederträchtige Maxime der Herren der Welt gewesen zu sein.“ (Adam Smith – Wohlstand der Nationen (1776)) ist eine Beschreibung von vor rd. 250 Jahren). Mit dem Egoismus eng verknüpft ist m.E. der Begriff der Gewinnmaximierung in der Ökonomie. Einfaches Gewinnstreben ist Teil des Wirtschaftslebens. Aber das Gebot der Maximierung, d.h. „ich will alles“, stellt m.E. einen Wendepunkt der Ökonomie dar. Der strikte Egoismus wird gegenwärtig zumindest im Rahmen der Ökonomie als zulässige Handlungsmaxime offiziell akzeptiert.
Schopenhauer hat dem Egoismus philosophisch eine wichtige Rolle im Rahmen seines Begriffs vom „Willen“ gegeben: Jede Handlung ist demnach egoistisch, wenn das Motiv der Handlung das eigene Wohl betrifft. So wie Schopenhauer dieser Kraft des Egoismus im Menschen große Bedeutung zugewiesen hat, so hat er (als Kenner der menschlichen Natur) auch gleichzeitig die Kraft des angeborenen Mitleids erkannt und herausgearbeitet, um einen sinnvollen Ausgleich beider Triebkräfte herbeiführen zu können. Der Gedanke, den Schopenhauer aufgegriffen hat, anerkennt uneingeschränkt den menschlichen Faktor Egoismus und stellt ihm ein gewichtiges Korrektiv in Form des Mitleids zur Seite.
Dieser Gedanke der Einhegung einer nachteiligen, gesellschaftsschädlichen Verhaltensweise kennzeichnet offensichtlich den Umgang mit dem Egoismus in den vergangenen Jahrhunderten.
Die Verarbeitung des Egoismus in den vergangenen Epochen
Den antiken Griechen war der Egoismus ein alter Bekannter. Die Legende vom Narziss stammt aus dieser Zeit. Wie haben sie es nun geschafft, den zweifelsohne vorhandenen Egoismus in Grenzen zu halten oder in seiner negativen Wirkung zu neutralisieren? Die Griechen hatten ein Leitbild mit der Vorstellung geschaffen, dass der Mensch in der Lage sei, tugendhaft zu handeln. Die Kardinaltugenden „Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit“ waren zur damaligen Zeit hohe Kulturgüter und ein ‚Athener von Welt‘ hatte sich diesen Idealvorstellungen zu unterwerfen. Zumindest die Tugenden Weisheit, Besonnenheit und Gerechtigkeit sind Zielvorstellungen in einer Gesellschaft, in der Egoismus sehr schnell an seine Grenzen stößt und dann in seinen Auswirkungen neutralisiert wird.
Auch die alten Chinesen nutzten fünf Kardinaleigenschaften: „Mitleid, Gerechtigkeit, Höflichkeit, Weisheit und Aufrichtigkeit“, an denen sich das tägliche Handeln ausrichten sollte (vgl. Schopenhauer, Grundlagen der Moral, § 19, S.605 und die dort angeführte Referenz). Auch die Chinesen waren sich des Einflusses des Egoismus sehr wohl bewusst und haben dieses Verhalten ähnlich wie die Griechen versucht, durch allgemein verbindliche Regeln des Umgangs in Grenzen zu halten.
Die Ideale der Griechen strahlten noch lange nach den großen Tagen der Athener Demokratie ins römische Reich aus. Das griechische Ideengut wurde mangels eigener Ideen durch das römische Reich absorbiert. In der Zeit der Völkerwanderung kam das Christentum Schritt für Schritt an die Macht. Die kirchliche Macht meinte, dem griechischen Gedankengut ein eigenes Konstrukt entgegenstellen zu müssen. Die Tugenden waren durch die griechische Philosophie besetzt. Also hat man sich das Gegenteil zu Nutze gemacht: Nicht das positive Verhalten galt als Ziel, sondern es galt dem Menschen eine Vermeidungsstrategie an die Hand zu geben, die durch die Vermeidung von „Todsünden“ geprägt war. Im Wesentlichen gelten als Todsünden, modern gefasst, die folgenden menschlichen Eigenschaften: Selbstüberschätzung, Gier, Neid, Unbeherrschtheit, Schamlosigkeit, Maßlosigkeit und Gleichgültigkeit. Wenn man diese Eigenschaften an Schopenhauers Kriterium spiegelt (das eigene Wohl betreffend), so wird durch die Todsünde der Selbstüberschätzung, der Gier, des Neides, der Maßlosigkeit und der Gleichgültigkeit das Verständnis des Egoismus moderner Prägung repräsentiert. Die verbleibenden Eigenschaften der Unbeherrschtheit und der Schamlosigkeit würde ich nicht direkt als Egoismus bezeichnen, kann mir aber vorstellen, dass durch die Ich-Bezogenheit diese Verhaltensmuster mit bedient werden.
Die mit der Aufklärung einhergehende Säkularisierung des öffentlichen Lebens zum Ende des 18. Jahrhunderts führt dazu, dass die moralischen Vorstellungen, die auf der Existenzvoraussetzung eines Gottes aufbauten, im Niedergang begriffen waren. Die sieben Todsünden und die damit verbundenen Verhaltenseinschränkungen wurden vielfach als wirkungslos beurteilt. Währenddessen hat sich im Angelsächsischen der Utilitarismus durchgesetzt, der, ähnlich wie Kant im mitteleuropäischen Raum, die Denkfigur eines Gottes zur Fiktion erklärte. Die Gottes-Frage gilt als nicht abschließend zu beantworten und wurde hinsichtlich der Dringlichkeit ihrer Beantwortung zurückgestuft. Die Welt konnte sich auch ohne eine Entscheidung dieser Fragestellung weiterentwickeln.
Die damit zum Ausdruck kommende Befreiung von der Bevormundung durch Kirche und Absolutismus hat mindestens zwei Folgen: Das Individuum wird aufgewertet, der einzelne Mensch, ob er will oder nicht, wird in eine ihm bisher unbekannte Freiheit entlassen. Wo vorher strikte Verhaltensregeln vorgegeben waren, steht jetzt die im Prinzip freie Wahl.
Auf eine klassische Grundformel reduziert, besagt der Utilitarismus, „dass eine Handlung genau dann moralisch richtig ist, wenn sie den aggregierten Gesamtnutzen, d. h. die Summe des Wohlergehens aller Betroffenen, maximiert“ (Wikipedia). Richard David Precht erklärt diese sehr theoretische Formulierung als „eine Kaufmannsethik, die unterstellt, dass das, was den Reichen nützt, am Ende allen zugutekommt.“(Eine Geschichte der Philosophie, II, S.274).
Die Verwendung des Nutzens braucht einen Maßstab und der ist das Geld. Eine ehemals von qualitativen Tugenden geprägte Ethik und Moral wird von die Kaufmannsethik des Utilitarismus quantitativ überrollt. Der Egoismus befreit sich von allen Einhegungen und Beschränkungen. Im Rahmen des Nutzenkalküls und der herrschenden Gesetze kann er sich grundsätzlich uneingeschränkt und frei entfalten.
Im Gegensatz zur erlangten und hoffentlich gelebten Freiheit der Aufklärung taucht parallel die Kaufmannsethik des Utilitarismus auf. Sie quantifiziert das Ethikproblem und fängt den gerade seine Freiheit genießenden Bürger dahingehend ein, dass die Kaufmannsethik predigt: Du sollst Deinen Nutzen maximieren, dann liegst Du richtig. Die Menschen sind wieder dort angelangt, wo man ihnen sagt, was sie zu tun haben: Wo der Utilitarismus Eingang findet, verliert die gerade errungene Freiheit an Boden.
Schopenhauer, der erst nach 1820 sein Gedankengebäude präsentierte, hat mit seiner Philosophie die Haltung des Egoismus anerkannt bzw. eine Philosophie des Menschen entwickelt, die darauf aufbaut, dass der Mensch primär aus egoistischen Motiven handle. Die Triebfedern des Menschen sind nach Schopenhauer der Egoismus (das Handeln zum eigenen Wohle), die Bosheit (das Handeln zum Wehe des Anderen) und das Mitleid (das Handeln zum Wohle des Anderen). Eine moralische Handlung von Wert erfolgt nur zum Wohle des Anderen. Mit anderen Worten: Schopenhauer anerkennt den Egoismus als eine wesentliche treibende Kraft und fügt dieser Kraft ein moralisches Regulativ in der Form des angeborenen Mitleids bei, das dem Menschen die inhärente Möglichkeit eröffnet, aus der Selbstbespiegelung des Egoismus grundsätzlich auszusteigen. Ähnlich ist auch der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant formuliert: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Auch hier ist wenig Platz für Egoismus, denn Egoismus zielt gerade auf das Gegenteil von Gemeinwohl.
Der Utilitarismus
Dieses ausgleichende Moment des Mitleids kennt die Kaufmannsethik des Utilitarismus leider nicht. Im Sinne der Kaufmannsethik kann der Ausgleich der Interessen nie über Mitleid oder eine ähnliche soziale Regung erfolgen. Das Zusammenleben erfolgt im beständigen (nackten) Wettstreit der individuellen Egoismen unter der fragwürdigen Erwartung, dass dadurch das Gemeinwohl der Beteiligten gesteigert wird. John Maynard Keynes stellt dabei trocken fest: „Es sei nicht einzusehen, warum das Handeln von widerwärtigen Menschen aus widerwärtigen Motiven zum Wohle der Gemeinschaft führen müsse oder könne“.
Auffällig ist auch, dass Ethik gewöhnlich als eine qualitative Frage behandelt wird. Die Nutzenmaximierung der Kaufmannsethik dreht den Charakter der Ethik um und reduziert sie auf eine algorithmusfähige, quantitative Fragestellung. Sie unterstellt weiter, dass der Nutzen (via Geld) so bestimmt werden kann, dass eine scheinbar angemessene Bewertung des Problems möglich wird. Aber von Gerechtigkeit ist dabei nirgendwo die Rede. Nicht umsonst schränkt Precht die Bedeutung dieser Ethik auf die Gedankenwelt der Ökonomie ein.
Das, was Menschlichkeit ausmacht, was gesellschaftlichen Kitt hervorbringt, ist der Kaufmannsethik fremd. Das Bild der Gesellschaft auf der Grundlage der Kaufmannsethik wird auf einen Prozess des „Catch as catch can“ reduziert. Der „Kampf“ erfolgt auf dem Markt als jenem Platz, auf dem unter kaufmännischen Gesichtspunkten der Austausch stattzufinden hat. Auffällig ist die Tatsache, dass die Auseinandersetzung natürlich nicht ohne den Einsatz von Macht und Einfluss vorstellbar ist. Diese beiden Kategorien sind aber regelmäßig nicht Gegenstand einer ökonomisch-ethischen Betrachtung. Sie wird regelmäßig ausgeklammert (externalisiert).
Wie muss man sich das „catch as catch can“ vorstellen? Es gibt eine Formulierung, dass die Freiheit des Individuums dort endet, wo sie die Freiheit des Anderen einschränkt, vorausgesetzt, wir betrachten uns alle als gleichberechtigt. So ähnlich muss man das „Spiel“ mit dem Egoismus sehen: Jeder lebt seinen Egoismus aus bis an die Grenzen, die ein anderer dem eigenen Egoismus setzt. Egoismus negiert aber die Voraussetzung einer Gleichberechtigung per se. Bei der Freiheit meinen wir, dass es ein so hohes Gut ist, dass sich hier die Auseinandersetzungen lohnen. Beim Egoismus baut sich hier ein gravierender Widerspruch auf.
Wir können eine Aussage von Margret Thatcher, einer frühen Vertreterin des Neoliberalismus, zitieren, die sinngemäß der Auffassung war, dass sie keine Gesellschaft kenne, sondern nur Individuen. Gemeinsamkeit kann so kaum entstehen. Gemeinsamkeit wäre aber für das Wohlbefinden der meisten Menschen essentiell. Also kann diese Kaufmannsethik wesentliche Teile des menschlichen Miteinanders weder erklären noch herbeiführen. Hier klafft offensichtlich eine erhebliche Lücke!
Wir müssen aber fairer Weise festzustellen, dass dieser Kaufmannsethik ein großer Teil unseres wirtschaftlichen Wohlstandes zu verdanken ist. Die Befreiung des Egoismus von den alten moralischen Zwängen hat wirtschaftliche Erfolge bewirkt. Die sozialen Kosten, die ein solcher Erfolg ausgelöst hat, bleiben aber gerne unerwähnt. Aber das Plus überwiegt fraglos! Insbesondere als wir alle nicht wissen, wie sich eine andere Konstellation auf unser Zusammenleben ausgewirkt hätte. Jede Spekulation darüber ist sinnlos.
Die Folgen
Es wurden in den vergangenen zweihunderfünfzig Jahren viele Philosophien entwickelt, aber keine hat eine solche gesellschaftliche Durchschlagskraft entwickelt, wie die auf dem Egoismus basierende Kaufmannethik, die sich längst aus dem Raum des Handels und der Wirtschaft befreit und begonnen hat, Schritt für Schritt alle Lebensbereiche unserer Gesellschaft zu unterwandern. Egoismus war jahrhundertelang als eine ausschließlich negative Eigenschaft angesehen, deren Vertreter das Zusammenleben stören oder doch schwierig machen. Hier hat sich eine Verschiebung ergeben. Es ist nicht mehr der selbstlose, am Gemeinwesen orientierte Mensch, dem das politische Interesse gilt; es ist der Realisator der Kaufmannsethik, der es versteht, mit einer großen Portion Egoismus seine Sache skrupellos und schnell umzusetzen. Es sind dann die sogenannten „Heroes“, die den kaufmännischen Erfolg lauthals feiern. Kaum einer traut sich zu fragen, zu wessen Lasten der ‚Hero‘ sein Ziel erreicht hat und ob der Erfolg auch mit ‚fairen Mitteln‘ erreicht wurde. Was zählt, ist ausschließlich der enggefasste wirtschaftliche bzw. monetäre Erfolg (der Nutzen) einer egoistischen Strategie.
Wir müssen uns im Klaren sein, dass die Kaufmannsethik insbesondere jene fördert, die sich von dieser Art der Ethik besonders angesprochen fühlen. Es wird gerne unterstellt, dass alle Teilnehmer unseres Gemeinwesens unisono der Kaufmannsethik zusprechen würden. Was ist mit der überaus großen Zahl von Mitmenschen, die sich von dieser Auffassung von Ethik überhaupt nicht angesprochen fühlen? Oder anders ausgedrückt: Was ist mit all jenen Mitmenschen, die ihr Ziel nicht nur im monetären Erfolg sehen, sondern in der menschlichen Zuwendung. Da die Zuwendung in der egomanen Kaufmannsethik nicht vorkommt, kann die Zuwendung im Sinne der Kaufmannsethik auch nie einen Erfolgsfaktor darstellen. Das Selbstverständnis der Heil-, Pflege- und Sozialberufe ist mit der Kaufmannsethik kaum vereinbar. Man kann sogar feststellen, dass die Vertreter der Kaufmannsethik intensiv bemüht sind, diese ethisch oft anders gepolten Berufsgruppen schrittweise auf die Kaufmannsethik einzuschwören, indem z.B. dem Arzt versucht wird, klar zu machen, dass er keine Patienten mehr hat, sondern Kunden. Das Patientenverhältnis basiert i.w.S. auf Zuwendung. Und Kunden sind nur Ziel der Ausbeutung.
Ist noch niemanden aufgefallen, dass in unserer Gesellschaft regelmäßig die Vertreter der Kaufmannsethik einkommensmäßig „dick und fett“ werden, während die Einkommensmöglichkeiten in den Heil-, Pflege- und Sozialberufen bewusst (wegen der behaupteten Kostenproblematik) kleingeredet werden, obwohl diese Menschen oft einen für das Gemeinwesen viel größeren Beitrag leisten als jene egomane ‚Kaufmannsethiker‘ (deren soziale Kosten gerne negiert werden)?
Die Philosophie geht oft davon aus, dass Ethik etwas „Kopfgeborenes“ sein müsse, weil die meisten Philosophen vermutlich ihr Selbstverständnis als „große Denker“ pflegen. Schopenhauers Ansatz, das ethische Verhalten des Menschen als etwas „triebgeborenes“ abzuleiten, kann erklären, warum intellektuell ganz schlichte Menschen in der Lage sind, ein moralisch wertvolles Verhalten an den Tag zu legen. Praktische Ethik wäre also kein intellektuelles Phänomen, sondern ist demnach den meisten Menschen z.B. im Rahmen des Mitleids zugänglich. Ethik verliert dabei ihren unterstellt intellektuellen Charakter und steht prinzipiell jedem Menschen zur Verfügung (auch ohne intellektuelle Spitzfindigkeiten).
Die Kaufmannsethik kann das nicht leisten; sie ist überaus einseitig. Sie dient letztlich einer relativ kleinen Oberschicht, die sich mit ihrer nutzenbezogenen Sicht auf die Welt wohlfühlt, wie der Fisch im Wasser. Der Rest der Gesellschaft versucht sich notgedrungen anzupassen. Er tut sich mit der Kaufmannsethik schwer und lebt im täglichen Umgang meist nach einer anderen Ethik. Vermutlich wird es die Jahrhunderte alte Tugend- oder Mitleidsethik sein, die den meisten Menschen immer noch leicht vermittelbar ist und im Alltag eine weithin akzeptierte Richtschnur darstellt. Aber die Ethik produziert eben keine ‚Heroes‘, weil der Maßstab des Erfolges (das Geld) gegenwärtig leider unangefochten und ausschließlich durch die Kaufmannsethik befördert wird.
Das Argument der Kaufmannsethiker von der Wirkung des „Trickle down“ – Effektes (wenn es den Reichen gutgeht, fällt auch etwas für die Armen ab) wurde schon mehrfach widerlegt und grundlegend erschüttert, weil die Vermögensverteilung in den Gesellschaften, in denen die Eliten der Kaufmannsethik folgen, immer einseitig zugunsten der Vermögenden ausgeht (vgl. Piketty, Das Kapital im 21. Jh., 2014). Aber Glaubenssätze auszurotten, ist ein hartes Brot. Insbesondere dann, wenn der Glaubenssatz jeden Tag monetäre Erfolge auf die Mühlen der kleine Minderheit der Kaufmannethiker spült. Und sie, für ihren Teil, fühlen sich dadurch in ihrem Glauben natürlich bestätigt. Dass die Mehrzahl der Gesellschaft daran nicht teilhat, wird aus ihrer Wahrnehmung ausgeblendet. Und wenn sich doch mal Einsicht einstellen sollte, dann sind die „Looser“ aus der Sicht des erfolgreichen Kaufmannsethikers selbst daran schuld – warum folgen sie nicht den Heilsversprechungen der Kaufmannsethik? Weil sie, oft unbewusst, die ungebremste egoistische Haltung als kulturlos („barbarisch“), menschenunwürdig und gemeinschaftsschädlich ablehnen!
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