Mein nächster Beitrag sollte über Verschwörungstheorien eine Aussage treffen. Und ich muss zugeben, dass ich den rechten Zugang zu dem Thema noch nicht gefunden habe. Da stoße ich bei der Durchsicht meiner üblichen Websites auf eine Research-Studie der Deutschen Bank mit dem ‚tollen‘ Namen „The Age of Disorder“. Die deutsche Fassung nennt als Überschrift: Das Zeitalter der Unordnung.
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Um den Namen verstehen zu können, ist es notwendig zu wissen, dass die Studie die ‚moderne‘ Zeit ab 1860 in fünf Superzyklen einteilt:
- Die erste Ära der Globalisierung (1860 – 1914)
- Die Kriege und die Depression (1914 – 1945)
- Bretton Woods und die Rückkehr zum Goldstandard (1945 – 1971)
- Der Start vom FIAT-Geld und die Hoch-Inflations-Ära (1971 – 1980)
- Die zweite Ära der Globalisierung (1980 – 2020)
Und nun, so die Studie, beginnt der sechste Zyklus, die Ära der Unordnung.
Allein schon die Namensgebung für die nächste Zukunft, von der noch keiner weiß, wie es aussehen wird – aber die Macher der Studie wissen schon heute, es gibt ein ‚Chaos‘! Da frage ich mich doch, wer produziert denn in diesem unserem Lande Verschwörungstheorien. Ich war bisher immer der Meinung, dass das jene sind, bei denen die intellektuelle Gabe zu kurz gekommen ist. Das stimmt aber gar nicht. Einige sitzen offensichtlich auch in der Research-Abteilung der Deutschen Bank.
Die Einteilung der Superzyklen lässt Fragen aufkommen: Warum beginnt die erste Ära der Globalisierung 1860? Die erste Ära der Globalisierung geht Hand in Hand mit der Kolonialisierung der Dritten Welt durch Europa und die beginnt lange vor 1860. Die Kriege und die Depression waren Ereignisse, die zusammenpassen und eine Ära darstellen können. Aber Bretton Woods als Ära? 1971 beendet US-Präsident Richad Nixon die unmittelbare Goldeinlösepflicht für den US-Dollar. Aber von 1945 an wurden große Teile der Welt aus Trümmern wieder aufgebaut. Das kennzeichnet diese Ära und nicht das läppische Bretton Woods Abkommen, das nur für ein paar Banker neue Geschäftsmodelle möglich machte.
Es ist klar, dass nach 1971 eine andere Art der Begründung für Geld gefunden werden musste. Aber das eröffnet doch keine Ära, die der Rede wert gewesen wäre. In 1982 wurde die SPD-Regierung gestürzt und mit der Regierung von Schwarz-Gelb zog Schritt für Schritt der Neoliberalismus oder der Marktradikalismus ein und schuf durch laufende Deregulierungen die Voraussetzungen zur Finanzkrise 2008/2009. Das wäre eine Ära, die etwas verändert hat. Und dann kommt die Ära, in der das neoliberale Moment gezielt zur Globalisierung drängt, weil die nationalen Märkte ausgereizt waren und die Großkonzerne neue Spielwiesen brauchten, um den notwendigen Durchsatz bei Ihren Unternehmen sicherstellen zu können. Die Globalisierung hat vermutlich in 2020 durch Covid-19 einen deutlichen Dämpfer erhalten, weil die Menschen realisierten, dass der schöne Schein globaler Märkte beim ersten internationalen ‚Husten‘ zusammenbricht und die Versorgung mit den einfachsten Dingen in Frage gestellt werden muss.
Und darauf baut jetzt „das Zeitalter der Unordnung“ auf – als ob die Welt davor in Ordnung gewesen wäre, nur weil wir uns an eine bestimmte Form des Chaos gewöhnt hatten. Jede Klassifizierung von Zeitläufen ist fragwürdig. Bis vor wenigen Jahren war die Klassifizierung der Zeitalter der Moderne in Kategorien der Industrie 1.0 – 4.0 ein gängiges Analyseinstrument, um die beobachteten Veränderungen plausibel machen zu können. Da ist eine Einteilung wie sie die Research-Abteilung der Deutsche Bank nun trifft erstens überflüssig und zweitens so schlecht begründet, wie das wirtschaftlich-politische Verhalten des Instituts in den letzten Jahrzehnten. Die wirklichen Probleme eines neuen Zeitalters haben die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umwelt (WBGU) in umfassenden Gutachten seit der Finanzkrise aufgearbeitet. Ich möchte wetten, diese Arbeiten unter dem Titel „Die große Transformation“ sind der Research-Abteilung offensichtlich noch nie zu Gesicht gekommen. Wie wollen sie dann auf Basis ihrer „dünnen Bretter“, die ihre intellektuelle Welt einfassen, Aussagen von Gewicht und Augenmaß über ein künftiges „Zeitalter der Unordnung“ machen? Treffender wäre der Begriff eines künftigen Zeitalters der Transformation, der notwendigen Veränderungen. Diesen Vorgang als „Unordnung“ auffassen zu wollen, kann nur als Versuch gewertet werden, jede Veränderung als Reaktion auf die weltweit erkannte Problematik als Weg ins „Chaos“ darzustellen. Das ehemalige Flaggschiff der Deutschland AG der 70iger und 80iger Jahre ist zu einem kleinen Küstendampfer geschrumpft. Ihr Blick auf die Welt entspricht dem Wahrnehmungshorizont eines solchen Schiffleins. Und jetzt macht offensichtlich aus Mangel an gutem Personal der Smutje die Gutachten der Bank.
Das Gutachten konzentriert sich nach Angaben der DB auf acht ausgewählte Punkte:
- Spannungen zwischen USA und China und ein Ende der ungezügelten Globalisierung
- In Europa geht es um alles oder nichts
- Die lockere Geldpolitik wird fortgesetzt (sie wird zur Regel)
- Inflation oder Deflation?
- Die Ungleichheit nimmt zu, es wird eine Gegenreaktion erwartet
- Die Kluft zwischen den Generationen wird größer
- Die Klimadebatte verschärft sich
- Technologie: Revolution oder Blase?
Zu der Auswahl lässt sich wenig Kritik äußern. Es sind fraglos wichtige Gesichtspunkte. Dabei ist im ersten Punkt der Konflikt USA mit China nicht neu und ist schon lange deutlich absehbar. Aber die angedeutete Akzeptanz der Deglobalisierung ist ein neuer Gesichtspunkt, nachdem wir aus meiner Sicht seit den 80iger Jahren in der Globalisierung das Heil gesehen haben. Die Deglobalisierung ist eine Folge der Erkenntnis, dass Globalisierung nur bei „Schönwetter“ ihre Segel in den Wind stellen kann. Sowie ‚Sturm‘ aufkommt (wie Corona), retten sich zu viele in den nationalen Egoismus und stellen fest, dass manche realwirtschaftlichen Produkte unerreichbar werden können. Offensichtlich haben die Autoren fünf Gründe ins Feld geführt, warum Weltkonzerne künftig einen erschwerten Stand haben werden:
- Die Direktinvestitionen sinken, weil die Vorteile von „neuen Absatzmärkten, günstigen Arbeitskräften und Steuervorteilen“ zurückgehen werden. Damit sinkt die Chance Margenvorteile zu gewinnen. In 2020 sollen die Direktinvestitionen um 40% abnehmen.
- Die Löhne in China steigen und damit verlieren Direktinvestitionen in China ihren Reiz.
- Als dritten Faktor sieht die Bank die ESG-Investoren (Environment, Social, Governance), die sich auf Lieferketten und die Situation der Mitarbeiter beziehen. Dieser Fokus wird den Konzernen mehr Verantwortung und Mehrkosten aufbürden.
- Politischer Gegenwind: Viele Regierungen gewichten globale Abhängigkeiten neu und erkennen den Wert von Arbeitsplätzen im Inland. Es wird auch global mit höheren Unternehmenssteuern gerechnet.
- Als letzter Punkt läuft die erfolgreiche Initiative zur Regionalisierung gegen die Interessen der globalen Konzerne.
Bei zweiten Punkt geht es bei Europa nicht um alles oder nichts (make or break). Das geht es doch schon lange und Europa ist zwar nur noch ein Schatten seiner selbst, aber die Idee lebt. Europa ist auch ein einzigartiges Experiment auf diesem Planeten. Europa ist keine Hierarchie, wie es zum Verständnis von Politik konservativer Kreise gehört. Europa ist ein Bund auf Augenhöhe und sucht ständig nach Mechanismen, um die Vertreter des hierarchischen Durchregierens einzufangen. Europa ist schwierig, aber ich sehe hier gegenwärtig keine unüberwindbaren Probleme, die nicht schon in der Vergangenheit existierten. Die Angst der größeren Staaten, sich nicht verpflichten lassen zu wollen, ist verständlich, aber wird völlig überschätzt. Die Geldpolitik, die sowieso auf einem Weg ist, bei der der Wert von Schulden klein geredet wird, sollte hier helfen.
Der dritte Gesichtspunkt ist die Geldpolitik, die durch die Zinslosigkeit auch noch befeuert wird. Eine irgendwie geartete Rückzahlung erscheint aussichtslos. Zinsen zu erhöhen würde zur Handlungsunfähigkeit der meisten Staaten führen. Das Geld, das die öffentlichen Haushalte aufnehmen, landet letztlich im Privatsektor und wird dort angehäuft. Das wird noch eine ganze Weile so weitergehen. Am Ende werden wir wohl die großen Vermögen ein wenig belasten (einen Schnitt machen) müssen, um wieder auf einer vernünftigen Grundlage aufbauen zu können.
Der vierte Gesichtspunkt kreist um die Frage, ob wir uns auf Inflation oder Deflation einstellen müssen. Da wir viel Geld im Umlauf haben, das investiert werden will, neige ich dazu, dass die Investitionen ständig eine leichte Überproduktion auslösen werden. Dabei ist die Deflation dann näherliegend als Inflation, die immer dann auftritt, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. Das ist gegenwärtig nicht zu erkennen (Klopapier vielleicht ausgenommen).
Der fünfte Gesichtspunkt erfasst die seit Jahren sich abzeichnende und wachsende Ungleichverteilung der Vermögen. 50% der deutschen Bevölkerung verfügt über ein vernachlässigbares Vermögen. Auf die andere Hälfte entfallen 98% des verfügbaren privaten Vermögens. Dieser Sachverhalt ist nicht neu, aber es ist kritisch, wenn dieser Zustand zunimmt. Ob hier mit einer Gegenreaktion zu rechnen ist, wie das die Bank erwartet, erscheint nach langen Jahren der Ungleichheit unwahrscheinlich, weil das Problem durch unsere Sozialsysteme noch abgefedert wird. Ein weiterer Abbau der öffentlichen Sozialsysteme kann hier aber sehr schnell eine Veränderung herbeiführen.
Der Generationenkonflikt als sechster Punkt ist m.E. herbeigeredet. Die Diskussionen um Generationen XYZ sind nicht begründet. Die Definitionen dieser sogenannten Generationen sind eher Marketingtools, um Schichten zu schaffen, denen man versucht, Überflüssiges aufschwätzen. Ein klarer Generationenkonflikt könnte sich jedoch dahingehend bilden, dass wir heute Ressourcen verbrauchen und verbraucht haben, die unseren folgenden Generationen fehlen werden, weil wir nicht die notwendige Sorgfalt haben walten lassen. Das schnelle Geld hatte dabei stets einen höheren Stellenwert als Nachhaltigkeit. Hier lassen sich Verschiebungen erkennen. Über die Nachhaltigkeit könnte es einen echten Konflikt geben, der dann in Richtung Umverteilung (siehe oben) führen könnte.
Damit sind wir beim siebten Gesichtspunkt, der dem Klimawandel und seiner Folgen geschuldet ist. Dieses Thema beschäftigt uns schon über vierzig Jahre und wir kommen nur im Schneckentempo voran. Die Ziele sind ehrgeizig und es läuft uns die Zeit davon. Je länger wir warten, desto schmerzhafter werden die Einschnitte. Da ist auch nichts von Unordnung, alle Fakten liegen auf dem Tisch – es fehlt am politischen Mut.
Der letzte, der achte Gesichtspunkt ist wohl der Kritischste: Technologie gilt insbesondere beim Klimawandel für viele (Politiker) als der ‚Deus ex machina‘, der es richten soll. Das täuscht aber. Technologie muss immer unser Werkzeug bleiben. Sie ist auch an klare Voraussetzungen gebunden. Handeln muss auf absehbare Zeit der Mensch und er muss dafür die Verantwortung übernehmen.
In dem Gutachten der Deutschen Bank wird auch zum Ausdruck gebracht, dass einfache Trendbeobachtungen und Extrapolationen der Komplexität der kommenden Entwicklungen nicht gerecht werden. Nun stellt sich die Frage, ob nicht das Gutachten gerade im Rahmen der Diskussion der acht Problemfelder nicht in dieser Extrapolationsfalle sich fängt. Ich kann nirgendwo erkennen, dass hier neue Erkenntnisse verarbeitet wurden und neue Verknüpfungen erkennbar werden. Was rechtfertigt die Aussage der Stellungnahme zu behaupten, auf uns käme ein Zeitalter der Unordnung zu? Alles was hier angeführt wurde, ist uns als Problem in seinen vielen Verzweigungen bekannt. Wir diskutieren die Punkte so wie wir es schon immer getan haben – wo bitte schön ist hier Unordnung zu erkennen? Wenn hier künftig Unordnung gesehen wird, dann sind das doch alles schon alte und bekannte Probleme. Was ist daran neu? Konsequent wäre dann zu fragen, was bezweckt die Deutsche Bank mit diesem „Bullshit“? Ungewissheiten gibt es immer, aber das macht das Leben aus. Wenn mal eine absolute Ordnung herrscht, gibt es keine Veränderung mehr, dann sind wir einfach tot.
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