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Das Impfen und die Ethik

Wir haben ein ethisches Problem und ein Durchsatzproblem. Der verfügbare Impfstoff kann den gegenwärtigen Bedarf nicht decken. Also hat man aus Fairness- oder Gerechtigkeitsgründen eine Impfreihenfolge durch den Ethikrat der Bundesregierung festlegen lassen. Das Schema, das der Ethikrat vorgeschlagen hat, ist nachvollziehbar und ist somit Grundlage der Impfstrategie geworden. Das ist so weit so gut bis die Ethikempfehlung auf unsere Bürokratie stößt, die glaubt, dass es nur nach diesen ethischen Grundsätzen geht.

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Wir haben ein zweites Ziel, das etwas ins Hintertreffen geraten ist: wir sollten im Rahmen der Verfügbarkeit des Impfstoffs so schnell als möglich die Bevölkerung durchimpfen, um eine weitgehende Immunität zu erreichen. D.h. im Klartext: wir versuchen mit Priorität das Gerechtigkeitsschema des Ethikrates durchzusetzen und wenn bei der konkreten Impferei dann angemeldete Patienten (egal aus welchen Gründen) nicht auftauchen, wird eben nur das „verimpft“, was mit den Vorbestellungen übereinstimmt. Der Rest der zur Verfügung stehenden Tagesimpfmenge wird wieder eingepackt oder wegen fehlender Kühlung während des Tages „weggeworfen“.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass immer dann, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, Termine am laufenden Band platzen (Krankheit, Unwohlsein bei Älteren, Vergesslichkeit, etc). Impfen soll am „Fließband“ erfolgen, aber die Menschen folgen keiner „Just-in-time“-Strategie. Gegen frühen Nachmittag eines jeden Impftages wird absehbar, dass von den geplanten 100% „Impflingen“ nur etwa 70% erscheinen. Dann wäre es doch sinnvoll, die 30% übrig gebliebenen Dosen ebenfalls und außerhalb des Ethikkonzepts an Personen zu verimpfen, die sich in einem Wartebereich ab 14:00 Uhr bereithalten können. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Wenn klar wird, dass 30 Dosen von der Tagesimpfmenge zur Verfügung stehen, können auch nur 30 Personen in den Warteraum eingelassen werden. Das ist doch wohl organisierbar.

Dieses Vorgehen ist natürlich ein Schlag gegen alle, die die „Vordrängler“ möglichst hart bestrafen wollen. Der Wunsch ist mir nachvollziehbar, aber es widerspricht der Mentalität einer großen Zahl von Menschen unseres Landes, denen jeden Tag von der Wirtschaft versucht wird, den gnadenlosen Egoismus zu vermitteln: Aber jetzt sollen sie plötzlich solidarisch sein? Das klappt für einen großen Teil der Bevölkerung, aber es wird immer wieder „Trumps“ geben, die das „Me first“ zu ihrer Lebensdevise gemacht haben. Und die sind gar nicht so selten!! Geben wir ihnen doch eine reelle Chance, ihre fragwürdige Charaktereigenschaft ‚kanalisiert‘ auszuleben, indem sie sich täglich ab 14:00 Uhr im Wartebereich eines Impfzentrums einzufinden haben.

Solange der Engpassfaktor der Impfstoff ist, mag die gegenwärtige Struktur erfolgversprechend zu sein. Wenn aber der Zeitpunkt kommt, an dem die Impfstoffmenge nicht mehr der große Bremser sein wird, sehe ich uns in ein Chaos verfallen, weil 80 Mio. Menschen ein Impfangebot gemacht werden soll – es gibt aber keine digitale, deutschlandweit einheitliche Erfassung, es gibt keine vorsortierten Dateien mit den Adressen von Menschen in Deutschland, die dann wenn die Welle losgetreten werden kann, einsetzbar wäre.

Auf welcher Grundlage sollte denn einen solche Datei aufbauen, um sicher zu sein, dass auch alle ohne Ausnahme eine Aufforderung erhalten haben: auf der Personalkennziffer der Rentenversicherung oder auf der Ident-Nr. der Finanzverwaltung oder auf den Nummernkreisen der Versicherungen. Das alles ist nicht geregelt bzw. es gibt nicht einmal Dateien, die sicherstellen könnten, dass 99% aller Einwohner darin erfasst sind. Es gibt Dateien, aber die sind auf kommunaler Ebene und auf Landesebene eventuell verfügbar, aber sie sind nicht aus einem Guss, d.h. sie passen von ihrer Struktur her nicht zusammen. Soweit die Technik. Dann kommt der Datenschutz, der vermutlich der Meinung ist, das geht gar nicht, weil hier angeblich Persönlichkeitsrechte verletzt werden. So stehen wir uns selbst im Wege, es wird alles furchtbar gründlich und gerecht gemacht, nur es bewegt sich nichts.

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Unsere Infrastruktur könnte besser sein!

Ohne Corona war schon seit Jahren erkennbar, dass die Politik das Innovative, das Kreative für das Allheilmittel zur Bewältigung der Zukunft hält. Die Strategie hat zudem den Vorteil, dass vom Glanz des Innovativen und Kreativen immer auch ein Teil für die Politik abfällt. Wer sich nicht für das innovative Segment stark macht, hat politisch schon vor dem Start verloren.

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Nun ist das Verhängnisvolle, dass alle (oder doch die meisten) Innovationen, wenn sie wirksam werden sollen, auf ein hohes Maß an vorgehaltener öffentlicher Infrastruktur angewiesen sind: Das schönste Automobil nutzt nichts, wenn es keine intakten Straßen gibt. Das Geschäftsmodell „Amazon“ setzt ein intaktes Straßennetz voraus. Das Predigen vom Ausbau eines öffentlichen Nah – und Fernverkehr nützt wenig, wenn nicht ein intaktes und funktionsfähiges Gleisnetz zur Verfügung steht. Die digitale Kommunikation oder das neueste Smartphone ist nichts wert, wenn keine entsprechende Netzkapazität zur Verfügung steht.

Infrastruktur im Sinne von Hardware

Wir haben es über die letzten 150 Jahre meist erfolgreich so gehalten, dass die Infrastruktur im Wesentlichen von den öffentlichen Händen finanziert und erhalten wird. Solange die öffentliche Hand diese Aufgabe ernst nimmt, sind wir damit in der Regel gut gefahren.

Viele können und wollen nicht verstehen, dass dabei die Ökonomie im Rahmen der Infrastruktur eine andere ist als die der kommerziellen Wirtschaft. Die kommerzielle Wirtschaft glaubt, ohne größere Schäden der Gemeinschaft kurzfristige Gewinne maximieren zu können. Die Infrastruktur ist nicht auf Gewinne angewiesen – sie muss die Gemeinschaftsleistung „Versorgung der Gesellschaft“ langfristig so effizient als möglich bereitstellen. Es geht um das ältere Moment des „klugen Haushaltens“ und der Versorgung der Gemeinschaft. Was eine kommerziell verstandene Infrastruktur ggfs. an Gewinnen erwirtschaften könnte, würde im nationalen System letztlich der kommerziellen Wirtschaft als Gewinnpotential fehlen. Die Erwartung, man könne aus dem System stufenweise zweimal Gewinn herauspressen, ist absolut überzogen. Irgendwer muss die erwirtschafteten Gewinne auch noch bezahlen können.

Wir können seit etwa 30 – 40 Jahren beobachten, dass sich hier eine Veränderung einschleicht, die aus meiner Sicht fatal in eine komplett falsche Richtung läuft. Mit den Privatisierungsversuchen bei der Bahn mit der systematischen Zerstörung ihres Zukunftspotenzials, mit der Beeinflussung des kommunalen Wohnungsmarktes und Unterstützung der Immobilienblase durch der Privatisierung von öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften mit ihren riesigen kommunalen Wohnungsbeständen, der Versuch, das Autobahnnetz meistbietend auszulagern (zu verpachten), wobei die geplante (und glücklicherweise gescheiterte) Maut eine Rendite versprechen sollte. Zum Glück wurde das Projekt mit den falschen Argumenten („Ausländermaut“) ausgerufen und damit ist die Privatisierung per Gericht zumindest vorerst gestoppt, bis auch die dazugehörigen Politiker entsorgt sind. Und es gäbe zahllose vergleichbare Projekte…

Weil der Investitionsmarkt auf dem Felde der Privatwirtschaft kaum mehr schnelle Gewinnaussichten bei überschaubarem Risiko bereithält, konzentrieren sich einige Investoren auf das Feld der Infrastruktur, die von den anonymen Steuerzahlern finanziert und auf – und ausgebaut wurde. Die Infrastruktur wird vom Gemeinwesen aufgebaut und über Steuern finanziert und steht deshalb der Allgemeinheit i.d.R. zur freien Verfügung. Immer dort, wo in jüngerer Zeit versucht wurde, Infrastrukturprojekte privat aufzuziehen, scheitern die Projekte letztlich, weil Privatinvestoren keine Interesse an einer „Versorgung“ breiter Bevölkerungsschichten haben – das widerspricht ihrem elementaren Profit-Interesse – , sie wollen sich nur die rentablen „Rosinen“ für ihr Geschäft herauspicken. Durch Private kann z.B. ein Netz aufgebaut werden, aber dort, wo in der Fläche keine Rendite zu erwarten ist, gibt es dann eben kein oder nur ein minderwertiges Netz. Die Begründung ist einfach und wird in unseren Zeiten von der Politik offensichtlich als plausibel akzeptiert: Wo keine Rendite, da auch kein Netz. Versorgung sieht aber anders aus. Das gilt für Telekommunikation, für Bahnanschlüsse, und zahllose andere Beispiele…

Aber die Gemeinschaft oder Gesellschaft lebt nicht von den „Rosinen, sondern von der Versorgung aller ohne privatwirtschaftlich orientierte Einschränkungen. Mit einer „Versorgung“ lassen sich keine kapitalistischen Erfolge veranstalten, ohne den Gedanken einer Versorgung Schritt für Schritt systematisch kaputt zu fahren. Die Gesellschaft verliert dabei stets wesentliche Stabilisatoren, weil ein paar clevere Geschäftsleute meist mit Unterstützung der Politik sich „innovativ“ und „kreativ“ auf Kosten der Gemeinschaft bereichern.

Der Nachteil der Infrastruktur liegt darin, dass Infrastruktur wie alle Güter in die Jahre kommt und auch technisch veralten kann und folglich erhalten werden muss. Das ist aber nicht sexy, sondern mühsam und kostet Geld. Die einfache kommerzielle Rechnung unserer Privatwirtschaft ist die der Rentabilität, die oft strikt, eng und einseitig angewendet wird. Neu erscheint billiger und macht politisch mehr her. Nachhaltig ist das in keinem Fall, weil der monetäre Wertmaßstab i.d.R. viel zu eng gefasst ist und dem umfassenden Sachverhalt einer Versorgung durch Infrastruktur nicht gerecht wird. Da es bei Infrastruktur nicht darum gehen kann, dass etwas abgerissen und dann wieder „modern“ aufgebaut wird, damit man wieder (maximale) Rendite erzielen kann, sondern es darum geht, etwas Bestehendes und Sinnvolles so lange als es „vernünftig“ erscheint, zu erhalten. Rendite ist ohne Frage ein gültiger Maßstab, aber nicht notwendig ein Maßstab der Vernunft! Bestenfalls ein enger kommerzieller Maßstab für die kurzfristige Gier, die regelmäßig die Ressourcenverschwendung weiter beflügelt.

Infrastruktur im Sinne von Software

Das war und ist in ganz groben Umrissen die Seite der Hardware. Je weiter die Digitalisierung Einzug in unser tägliches Leben hält, desto wichtiger wird die Frage der infrastrukturellen Software. Hier geht es nicht um die Netze und ihre Betreiber. Das ist im Grunde durch die Hardware erfasst. Hier geht es um die Frage der Inhalte und Methoden. Inwieweit ist die Struktur der öffentlichen Verwaltung inzwischen von der Digitalisierung betroffen bzw. was ist die Antwort der Exekutive auf die Digitalisierung?

Hierüber sind die Einblicke sehr dürftig, wenn man sich auf die Medien stützt. Aber die teilweise erschreckenden Defizite, die sich im Rahmen von Corona beiläufig erkennen lassen, geben Anlass zur Vermutung, dass hier riesiger Nachholbedarf besteht.

Die Corona-App war ja gut gemeint, aber die Risikogruppe der über 65 –jährigen ist, nach 10 oder 15 Jahren der Tyrannei durch das beruflich zu nutzende Smartphone, froh und glücklich, endlich frei zu sein, sich dieser Tyrannei entspannt entziehen zu können. Und dann kommen ein paar kreative „Knechte des Tyrannen“ und schlagen vor, bei dieser Altersgruppe über die Kontakte anhand des Smartphones bestimmen zu wollen, wer ein Ansteckungsrisiko hat. Das ist ein schlechtes Beispiel von Theorie und Praxis oder von technischer Möglichkeit und gelebter Praxis. Das „Ding“ ist dann auch still und leise in der Versenkung verschwunden, hat aber bestimmt richtig viel Geld gekostet.

Wenn ein Rechtsanwalt oder ein Wirtschaftsprüfer jederzeit Homeoffice (im Prinzip weltweit) möglich machen kann, so stellt sich die Frage, ob gleiches in der Verwaltung möglich ist oder wäre. Die Industrie ist von der Regierung dringend aufgefordert, im Rahmen von Corona ihren Arbeitnehmern „Homeoffice“ zu ermöglichen. Was ist mit den Beschäftigten der öffentlichen Verwaltungen? Man hört wenig bis nichts mit Ausnahme der Schulen, die keinen systematischen Zugang, keine fachliche Unterstützung haben, sondern weitgehend auf die Selbsthilfe der Lehrer angewiesen sind und fortwährend mit überlasteten Netzservern zu kämpfen haben.

Nun ist es nicht so, dass die Digitalisierung bei den kommerziellen Großunternehmen schon angekommen wäre. Es gibt ganze Branchen, die diesen Ansatz aus finanziellen und anderen Gründen verschlafen haben. Die Landschaft ist hier sehr heterogen. Und wenn man sich mit Vertretern der Wirtschaft unterhält, gibt es dort gewaltige Unterschiede, insbesondere müssen oft Systeme zusammengeführt werden, die ganz unterschiedliche digitale „Zeitalter“ repräsentieren und auf sehr unterschiedlichen Technikniveaus arbeiten. Deshalb würde es nicht verwunderlich sein, wenn auch die öffentliche Verwaltung hier Defizite in mindestens vergleichbarer Größe aufweisen würde.

Setzen Sie sich mal in eine Gerichtsverhandlung und beobachten Sie die beteiligten Parteien und deren elektronische Ausstattung: Der Richter hat i.d.R. eine dicke Papierakte und dicke Gesetzesbücher oder gar Kommentare vor sich, der Protokollführer hat inzwischen wohl durchgängig einen Anschluss an ein (meist schon in die Jahre gekommenes) Schreibsystem, der Staatsanwalt bemüht sich, es etwas schlanker zu machen und der Rechtsanwalt hat sein Laptop dabei und hat dort alles versammelt, was er für die Verhandlung benötigt, samt Kommentaren und Unterlagen (Akten). Darüber hinaus kann er eine VPN-Verbindung mit seinem Büro eröffnen und hat den vollen Zugriff auf alle seine Ressourcen.

Haben Sie einmal den Aktentransport in der öffentlichen Verwaltung beobachten können? Diese Karren, auf denen zentnerschwer Akten aus unterschiedlichsten Verfahren von Zimmer zu Zimmer bzw. ins Archiv oder in die Wiedervorlage transportiert werden, weil sie nach einer gewissen Frist (die wird von alters her durch Reitermarkierungen an den Akten dargestellt) wieder vorgelegt werden müssen. Das hat man im Wesentlichen wohl schon vor 50 oder 100 Jahren so gemacht. Da ist nach oben so unendlich viel Luft. Wie will man diesem Anachronismus sinnvoll und zeitnah Herr werden?

Wenn ich in meiner Kommune auf das Amt gehe, so kann ich im Bürgerbüro feststellen, dass hier mit gewissen Einschränkungen erfolgreich digital gearbeitet wird. Das ist ein kleiner, relativ überschaubarer Bereich. Ob dieser Bereich auch mit dem ganzen Haus und ggfs. mit der Region (Landratsamt) vernetzt ist, ist bei den kurzen Besuchen von mir nicht zu beurteilen.

Corona hat uns vor neue Aufgaben gestellt. Dabei wurde deutlich, dass es offensichtlich respektable Insellösungen gibt, aber von einer Vernetzung kann man wohl nicht sprechen. Die Gesundheitsämter, so mein Eindruck, melden ihre Corona-Zahlen per Telefon, Email oder Fax an das Zentralinstitut RKI. Ich würde mich nicht wundern, wenn jeden Morgen in der Früh (eine Stunde vor Dienstbeginn) der RKI-Sachbearbeiter sich durch den Wust von Meldungen durchwurstelt, den Taschenrechner zückt und dann den 7-Tage –Inzidenzwert ermittelt (hoffentlich hat er sich nicht vertippt?!). Ich hoffe, dieses erschreckende Bild gibt es nur in meiner Phantasie.

Wir hören zwar immer von der großen digitalen Initiative der Bundesregierung und der Länder– mein Eindruck ist der, dass diese Aufforderung für alle gilt, nur nicht für das eigene Haus (für die Exekutive). Da diese Digitalisierung richtig Geld kostet, müssten dafür namhafte Beträge im Haushalt eingestellt sein. Aus der öffentlichen Diskussion gibt es hier nichts zu vermelden. Hat das möglicherweise Methode?

Es wäre doch sinnvoll und wünschenswert, wenn es im Rahmen der Bundesrepublik eine gemeinsam geteilte, ggfs. veröffentlichte Idee zu einer Struktur gäbe, die frei von föderalem Eigensinn die Grundlinien einer zweckmäßigen, nachhaltigen digitalen Struktur bestimmt, die als Minimum oder Basis zu verstehen ist. Nur im Rahmen dieser Struktur dürfen die föderalen und kommunalen Eigensinnigkeiten ergänzend hinzugefügt blühen und gedeihen, aber wenn man sie wegschneiden würde, darf der vorgegebenen Grundstruktur nichts Wesentliches fehlen. Die Grundstruktur muss auch die einheitliche „Systemsprache“ und das Systemniveau („Steinzeit“ oder „Cloud“) vorgeben, in der in der exekutiven Verwaltung künftig kommuniziert werden soll.

Ob es hierfür vorgefertigte, ggfs. modulare Systeme gibt, erscheint mir fraglich. Deshalb muss ggfs. die Exekutive eine eigene, effektive Organisation aufbauen. Und die gibt es seit den 1970iger Jahren zumindest in Bayern. Über deren Arbeit berichten die Gazetten, wenn überhaupt, wohl nur dann, wenn sich große Fehlentwicklungen ergeben würden. Die Arbeit dieser Einrichtung scheint so abgeschirmt, dass man über Unzulänglichkeiten wohl nur nach innen schimpfen darf. Die Aufgabe ist so groß, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass hier nicht laufend massive Probleme auftreten – nur werden sie politisch gezielt unter der Decke gehalten. Dabei handelt es sich auch hier um eine wichtige, die Funktionsfähigkeit des gesamten Gemeinwesens betreffende Infrastruktur und etwas mehr Öffentlichkeit könnte den „Muff von fünfzig Jahren“ vielleicht etwas lichten. Transparenz sieht anders aus, obwohl hier vermutlich enorme Summen vergraben sind. Denken Sie nur an die Corona-App – gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.

Auf der Website des Bundesinnenministeriums finden wir stolze Hinweise auf so etwas wie E-Government. Wenn man dann die Überschriften des neuen Gesetzes liest, kann man nicht umhin, festzustellen: Das ist kein großer Wurf, keine Strategie für die nächsten Jahrzehnte, sondern elektronisches Klein-klein ohne Perspektive und ohne jede Idee für die kommenden Jahre. Glaubt denn die Bundesregierung bzw. deren Exekutive, dass sie mit Verwaltungsmethoden des letzten Jahrhunderts mit der Entwicklung in der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt wird mithalten können? Wo sind die „E-exekutives for future“? Wird da nicht etwas Grundlegendes verschlafen? Wenn man mehr Zugang zu validen Informationen hätte, wäre das Thema für interessierte Journalisten ein gefundenes Fressen, um der Exekutive das Laufen zu lehren!

Die Durchführung der Aufgaben sollte sich aber nicht – wie leider üblich – als Folge von Ausschreibungen am Billigsten und an der schnellsten (meist schlampigen) Realisierung orientieren, sondern sicherstellen, dass hier Nachhaltigkeit, Kreativität und Invention möglich wird. Die Einrichtung soll kein Geld verdienen, sondern soll schlicht die Versorgung der Exekutive mit einer digitalen Infrastruktur für die nächsten Jahrzehnte sicherstellen, an die auch die Wirtschaft ggfs. andocken kann. Das ist eigentlich eine Jahrhundertaufgabe und braucht Expertise, die aufgrund der Größe der Aufgabe nicht an jeder Ecke zur Verfügung steht: Ganz bestimmt nicht auf der billigen Seite eines administrierten Marktes. „Schnäppchen“ wären der grundlegend falsche Ansatz. Wenn Minister Scheuer sich an die üblichen Regeln gehalten hätte, würden uns jetzt hier nicht eine halbe Milliarde Euro fehlen. Dafür hätte man viel Digitalisierung im öffentlichen Raum realisieren können.

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Große Transformation – quo vadis?

Je länger man sich mit dem Thema der „Großen Transformation“ befasst, also einer geplanten Umgestaltung unseres Lebensstils zu einem enkeltauglichen (nachhaltigen) Wirtschaften und Verhalten, desto unsicherer wird man. Wir sind es gewohnt, aus dem Vollen zu schöpfen und unter dieser Prämisse befassen wir uns auch mit der Transformation: es werden für viel Geld die Wissenschaften befragt, Forschungsprojekte aufgelegt, Ziele veröffentlicht (z.B. bis 2030), befeuert oder hintertrieben und teure Maßnahmen veranlasst.

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Aber bei all diesem „Getöse“ sollte man sich die Kern-Frage stellen, was soll das Ganze? Geht es nur darum, mit allen Mitteln Wege zu finden, dem „Weiter-so“ huldigen zu können oder will man wirkliche Veränderungen bewirken.

Viele Vertreter der Politiker (so mein Eindruck) sehen das Heil in der Technologie, weil sie uns in den letzten 300 Jahren große Fortschritte ermöglichst hat. Sie hat uns aber auch ganz wesentlich die heutige verfahrende Situation beschert. Und sie hat aufgrund ihres Erfolges wesentlich unser Anspruchs- und Erwartungsdenken geformt. Wenn es sich herausgestellt hat, dass die Technologie der wesentliche „Treiber“ in die gegenwärtige Fehlentwicklung ist, kann ich nicht nachvollziehen, warum man darauf vertraut, dass die Technologie auch den Ausweg aus der verfahrenen Situation bereitstellen kann. „Wenn die Verfolgung einer Idee in eine Sackgasse führt, führt nur eine andere, neue Idee aus der Gasse heraus“ (sinngemäß nach A. Einstein).

Dabei ist nicht einmal nachgewiesen, dass Technologie wirklich eine zulässige Lösung bieten kann. Jede Technologie, selbst die Digitalisierung, die so oft als Königsweg gehandelt wird, verbraucht Ressourcen – sie ist also keine Lösung, sondern nur eine Verschiebung des Problems auf andere Bereiche. Es gibt noch immer Leute, die im festen ‚Glauben‘ leben, dass wir unsere Lebensweise vom Ressourcenverbrauch abkoppeln können. Das ist nicht darstellbar und widerspricht ganz einfach den Grundlagen der Physik. Wenn diese Erkenntnisse konsequent verstanden würden, sind alle Anstrengungen eine Königsdisziplin der Technologie zu finden, die für uns (und ohne unseren Beitrag) alle Probleme löst, „bullshit“ (Unfug). Sie werden uns die absehbare Fahrt gegen die Wand nicht ersparen können.

Und die meisten Wissenschaftler sind sich einig, dass wir zeitlich nur die jetzt begonnen Dekade zur Verfügung haben, um die Transformation erfolgreich einzuleiten. Der nüchterne Beobachter kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier viel Geld ohne Ziel und Verstand „verpritschelt“ wird, damit nicht zu deutlich wird: wir wissen nicht, was wir tun sollen.

Neben der beschriebenen „fortschrittstrunkenen“ Vorgehensweise gibt es auch Ansätze, die nicht auf Technologie setzen, sondern den Menschen und sein Verhalten ins Spiel bringen. Wenn wir uns einig wären, dass die Technologie uns im Wesentlichen in die bestehende Situation manövriert hat, so sollten wir insbesondere nicht so tun, als ob diese Technologie ohne uns Menschen wirksam geworden wäre. Warum kommt niemand auf die einfache Idee, statt an der Technologie herumzudoktern, sich ernsthaft zu fragen, wie könnte die betroffene Menschheit durch eine Änderung ihres Verhaltens dazu beitragen, das Problem zu lösen?

Niko Paech hat sich dieser Idee schon vor Jahren angenommen. Sein zentraler Punkt ist die Suffizienz (Genügsamkeit), d.h. es gilt nicht mehr das Mantra des Wettbewerbs und des „höher, schneller, weiter“, sondern es wird ein Paradigmenwechsel zur Genügsamkeit (Suffizienz) erforderlich. Das klingt nach Verzicht, aber Niko Paech kann überzeugend darlegen, dass das nur vorgeschobene Argumente sind. Er demonstriert, dass unsere Art des Konsumierens schon lange unsere Fähigkeiten überfordert. Sinnvoller oder bewusster, vielleicht sogar vernüftiger Konsum (und das wollen die meisten) braucht immer auch Zeit, um den „Konsum“ genießen zu können – und genau die Zeit steht uns durch den Primat „höher, schneller, weiter“ gar nicht mehr zur Verfügung. Der Tag hat nur 24 Stunden. Mit anderen Worten: Der Weg zur Genügsamkeit ist kein Verzicht, sondern nur ein Weg, sinnvoller, menschlicher und genüsslicher und damit letztlich auch weniger zu konsumieren. Dabei wird das Zuviel automatisch herunter gefahren und hat zahllose positive Nebenwirkungen; auch auf den Klimawandel, um endlich auch das Lieblings-Schlagwort der gegenwärtigen Politik einzuführen, das diese Diskussion umtreibt.

Nun möchte ich zusammenfassen und mich eines uraltes Werkzeugs bedienen, das William von Ockham (1288 – 1347) im Spätmittelalter formulierte: das Ockham’sche Rasiermesser (Ockham’s Rasor). Es beschreibt eine Methoden-Strategie, die davon ausgeht, dass man bei mehreren Alternativen sinnvoller Weise jene Methoden und Erkenntnisse umsetzen sollte, die sich durch Einfachheit, Verständlichkeit und Klarheit auszeichnet. Sie führen regelmäßig zu den besseren Ergebnissen.

Uns wird eine Strategie der Technologie geboten, von der wir nicht wissen und erkennen können, ob und wie sie eigentlich das Problem lösen soll. Es gibt nur Ansätze, die in der Mehrzahl das globale Problemlösungsversprechen nicht einhalten können. Und es gibt eine Strategie des menschlichen Maßes, von dem wir wissen, dass es funktionieren kann (es wurde schon seit Jahrhunderten auf den unterschiedlichsten Entwicklungsniveaus erprobt). Zudem verspricht die Strategie des menschlichen Maßes auch so viel CO2-Einsparung, dass wir unsere hehren Klimaziele 2030 erzielen könnten.

Das große Problem sind die Menschen bzw. die Wähler, die dieser Vorgehensweise zustimmen müssen. Nachdem wir gewohnt sind, alle sogenannten Freiheiten ohne Verantwortlichkeit zu genießen, traut sich die Politik diesen Weg der Suffizienz wegen der kognitiven Dissonanz nicht zu. Denn jetzt wäre Pflichten gefragt, jene Eigenschaften, die im Grunde unmittelbar mit sinnvoller Freiheit verknüpft sind. Deshalb „werkelt“ die Politik lieber an der Technologie Strategie herum, in der irrigen Hoffnung, sich dann irgendwie herausreden zu können, wenn bis 2030 nichts Handfestes erreicht wurde und das „Kind im Brunnen“ liegt.

Das Verhalten der Politik ist menschlich nachvollziehbar, aber in keiner Weise zielführend.. Solange die Technologiesuche am Laufen gehalten werden kann, lässt sich die heilige Kuh der Politik, das BiP, ständig unauffällig füttern. Es ist aber der Problemstellung nicht angemessen, weil nicht erwartet werden kann, dass der angestrebte CO2-Ausstoß signifikant zurückgehen wird und wir gemeinsam „die Kurve kriegen“. Wenn man (im ratlosen Zustand) wenigstens zweigleisig fahren würde: man verfolgt meinetwegen die technologietrunkene Strategie und versucht gleichzeitig mit einem vergleichbaren Aufwand an Forschungsgeldern einen politisch kreativen Weg zur Suffizienz zu finden. Suffizienz haben wir Menschen gelebt, lange bevor uns eingeredet wurde, wir müssten im Rahmen von „höher, schneller, weiter“ mehr konsumieren, damit einige wenige ihren Vorteil daraus ziehen können. Wenn ich mir vorstelle, wie eine Clique der Reichen in Großbritannien eine ganze Nation für den miesen Brexit offensichtlich legal in Geiselhaft nehmen konnte, so muss es doch auch Wege geben, ein Suffizienz-Verständnis in unserem Lande zu vermitteln, um dann unabhängig von technologiegetriebenen Ansätzen das angestrebte Klimaziel ggfs. zu erreichen oder wenigstens zu unterstützen. Es könnte sich dabei zeigen, dass 2030 die Technologie immer noch auf der Suche ist, aber die Suffizienz das gewünschte Ergebnis schlicht und unauffällig bereitzustellen in der Lage ist.

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Vom Bauen und Abreißen

Folgende Erzählung macht die Runde: Ein Investor kauft ein etwa 40 Jahre altes 19-stöckiges Hochhaus in einer westdeutschen Großstadt mit dem Ziel, es abzureißen und neu (unter dem Schlagwort: modern) aufzubauen. Das klingt für ökonomische Ohren ganz normal, aber ist es das wirklich?

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Der Bau des 19-stöckigen Hochhauses vor rd. 40 Jahren war auf eine Lebensdauer von 100 Jahren ausgelegt und hat dabei lt. Gutachten überschlägig etwa 52.000 t CO2 verursacht. Wirtschaftlich betrachtet ist das Gebäude unabhängig von der geplanten baulichen Lebensdauer steuerlich nach 40 Jahren (mit 2,5% Abschreibung p.a.) abgeschrieben. Das Gebäude steht mit einem Euro in den Büchern des Eigentümers. Es steht nach der halben möglichen Lebensdauer vermutlich eine Generalsanierung an, um das Haus wieder auf einen zeitgemäßen Standard zu bringen. Dabei hat man 40 Jahre lang den Karren erhaltungstechnisch mehr oder weniger laufen lassen und hat der Gewinnmaximierung gehuldigt. Diese Vorgehensweise gilt u.U. unter einer rein wirtschaftlichen Prämisse als begründbar.

Wenn wir uns bewusst von der rein finanzwirtschaftlichen Betrachtungsweise dieses Gebäudes lösen und wir den Maßstab der Bewertung verbreitern, stoßen wir aus mehr ganzheitlicher Betrachtung schnell auf Ungereimtheiten. Beim Bau vor 40 Jahren wurden 52.000 t CO2 im Wesentlichen durch die Zementproduktion freigesetzt. Diese Last hat nach damaligem Verständnis die Gesellschaft als unvermeidlich akzeptiert unter der Prämisse, dass das Gebäude auch etwa 100 Jahre genutzt werden kann. Diese Prämisse wird durch den geplanten Abbruch des 40 Jahre alten Gebäudes aufgehoben. 31.200 t CO2 (= 60%) wurden einer fragwürdigen wirtschaftlichen Betrachtungsweise „geopfert“.

Da der Investor einen Neubau vergleichbarer Größe plant, dürfen wir durchaus davon ausgehen, dass wiederum ca. 52.000 t CO2 entstehen. Ob dann dieser Bau immer noch unter der Prämisse einer Nutzungsdauer von 100 Jahren erstellt wird, erscheint angesichts der verwendeten Materialien und dem angeblichen technischen Fortschritt sehr fraglich. Der Neubau hat dann eine CO2-Last von etwa 83.000 t CO2. Es wäre also umso wichtiger, die 100 Jahre künftig auch weitgehend auszuschöpfen.

Was bedeutet das? CO2 wird aufgrund des Zertifikatehandels zunehmend aus der externalen Ecke der Ökonomie in den Fokus gestellt. Gegenwärtig ist der Preis noch niedrig und ist kaum spürbar. Wir müssen aber davon ausgehen, dass der Preis über die Lebensdauer des Gebäudes gewaltig steigen wird: Gehen wir der einfacheren Rechnung halber im Mittel von 200 Euro pro t CO2 aus, so entstehen durch den vorzeitigen vorgenommenen Abbruch und durch den (dadurch zwangsläufig ausgelösten) Neubau etwa Zusatzkosten in der Größe von 16,6 Mio. Euro, die in der Kalkulation des Investors nirgendwo auftauchen, weil dieses Problem der Gemeinschaft übertragen wird.

Wir stellen dabei fest, dass die wirtschaftliche Maxime des Investors mit der gesamtwirtschaftlichen (gesellschaftlichen) Maxime kollidiert. Die Gesellschaft hat erkannt, dass der CO2-Ausstoß reduziert werden sollte und große Teile unserer CO2-Produktion entfallen dabei auf die Bau- und Bauzulieferbranche. Der Investor beruft sich auf die angebliche wirtschaftliche Rationalität und arbeitet mit jeder Faser seines wirtschaftlichen Handelns dagegen. Das nennt man auch die Tyrannei der kleinen Entscheidungen, die laufend die gesamtwirtschaftlich sinnvollen und notwendigen Entscheidungen egoistisch unterlaufen.

Lässt sich das Problem auch anders lösen? Der Investor verzichtet z.B. auf einen Abriss und entscheidet sich für eine Generalsanierung. Wir haben unverändert den CO2 – Anteil, der auf die künftigen 60 Jahre entfällt und rechnen bei der Generalsanierung mit einem zusätzlichen CO2-Verbrauch, der – geschätzt – bei einem Drittel der Kosten eines Neubaus liegen würde: 31.200 t + (52.000/3) t = rd. 48.530 t CO2 statt 83.000 t CO2. Die Einsparung auf Basis der CO2 – Betrachtung beliefe sich bei gleichem Preis auf 6,9 Mio. Euro.

Und vergessen wir nicht: Neben der CO2-Belastung entfällt auch teilweise die Entsorgung des Betons als Sondermüll, die Trennung von Beton und Stahlarmierung, die Zerkleinerung zu Beton-Schüttgut und weitere Maßnahmen, die sich aus die Erhaltung des Altbaus kostenreduzierend auswirken.

Ergänzend kann man anführen, dass Sand und Kies inzwischen zu recht knappen Gütern geworden sind. Ökonomisch merkt man das noch nicht, aber die Ressource Sand und Kies wird stärker ausgebeutet, als sie sich über die Jahrtausende bildet. Der „Peak Sand u. Kies“ ist überschritten. Wenn wir anfangen müssen, Sand und Kies, statt durch die Natur kostenfrei zur Verfügung gestellt zu bekommen, durch Technik herstellen zu müssen, dann wird diese Entwicklung dem Bauen mit Beton die wirtschaftliche Grundlage entziehen.

Es zeigt sich in einfachen Worten: Wenn man das wirtschaftliche Kalkül sinnvoll erweitert, werden die so selbstsicher daher kommenden finanzwirtschaftlichen Entscheidungen überaus fragwürdig. Der dabei ausgewiesene individuelle kurzfristige Erfolg dieser Maßnahmen wird privatisiert und die langfristigen externen Kosten der Allgemeinheit auferlegt. Und das muss sich ändern!
Das Ziel muss sein, die für ein Objekt aufgewendete Menge an CO2 so sinnvoll als möglich zu nutzen. Dabei muss die Sanierungsalternative grundsätzlich Vorrang vor der Möglichkeit eines Abrisses haben. Ein Abriss des Objektes muss sich nicht nur finanzwirtschaftlich rechnen. Die Vorteilhaftigkeit eines Abrisses muss auch nach einem (ökologisch) breiter angelegten Maßstab nachgewiesen werden.

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Vorschau statt Rückschau

Wir wurden zum Jahreswechsel mit Rückschauen besoffen gequatscht. Aber alles das, was dort dargestellt wird, liegt schon lange hinter uns. Wir müssen nach vorne schauen und das, was kommt, versuchen zu gestalten. Damit kann man leider keine schönen Bilder malen und in großartiger Erinnerung schwelgen. Dabei drücken uns nicht nur die heftigen Folgen der Pandemie. Wir müssen auch erkennen, dass wir Zeit und Geld vergeudet haben, um den industriellen Status quo unbegründet lange aufrecht zu erhalten.

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Die Zeichen der Zeit wurden von den wesentlichen Industriezweigen der Wirtschaft nicht erkannt. Und die Politik, die alle paar Jahre einen neuen Klimagipfel mit Enthusiasmus unterzeichnet hat, also um die anstehenden Probleme wissen muss, hat nichts Wesentliches dazu beigetragen.

Das Urteil klingt hart, wobei meine Meinung wenig zählt. Aber sinngemäß hat Frau Veronika Grimm, Professorin in Nürnberg und Wirtschaftsweise seit 2020 nichts anderes festgestellt. Und auch ihre Deutlichkeit lässt den Druck erahnen, dem wir ausgesetzt sind. Dabei scheint mir die Erkenntnis im Wesentlichen auch für Europa, wenn nicht sogar global, zu gelten.

Diejenigen, die das Problem lösen wollen, stehen neben den sachlichen Herausforderungen vor der Frage, wie können wir die individuell orientierten Unternehmungen mit ihren Zielsetzungen einfangen, um eine nachhaltige, am Wohlstand aller orientierte gesamtwirtschaftliche Entwicklung durchzusetzen. Das Merkwürdige der Situation liegt doch darin, dass die unternehmerischen Zielsysteme so tun, als ob uns keine Grenzen gesetzt sind und die Volkswirtschaft, insbesondere die Politische Ökonomie, allmählich erkennt, dass das nicht richtig sein kann. Es handelt sich um einen klassischen Zielkonflikt: Die Unternehmen setzen unverändert auf Gewinnmaximierung und unbedingtes Wachstum und die Volkswirtschaft muss erkennen, dass das so nicht weitergehen kann und wir gezwungen sind, unsere Wirtschaftssysteme von einer Sozialen Marktwirtschaft in eine nachhaltige Soziale Marktwirtschaft zu transformieren.

Dabei stellt Richard D. Precht in seinen Interviews sehr eindrucksvoll dar, welcher gewaltige und erfolgreiche Schritt den Europäern in den letzten 200 Jahren gelungen ist, als sie einen grobschlächtigen, menschenverachtenden Kapitalismus in eine Soziale Marktwirtschaft gewandelt haben. Das hat viele Menschenleben gekostet, vielleicht sogar mehr als die während des Prozesses geführten zahlreichen europäischen Kriege. Precht leitet dann meistens über auf die neue Aufgabe, die Soziale Marktwirtschaft in eine nachhaltige zu überführen. Die Krux ist nur, wir haben keine 200 Jahre Zeit. Der Zeitrahmen, den uns die Wissenschaft zuweist, liegt bei 10 -15% der Zeit, die wir uns genehmigen konnten, um eine Soziale Marktwirtschaft aufzubauen. Der Druck ist spürbar und lässt sich auch nicht durch politisch-propagandistische Tricksereien mildern.

Die Politik verharrt auf dem Standpunkt, dass sie die anstehende Problematik dem Verbraucher zur Lösung auferlegen kann. Er gilt in den Augen der Politik als der Schlüssel zur Lösung, neben der Freiwilligkeit der wirtschaftlichen Akteure, diesen Trend zu unterstützen. Die Haltung ist grobfahrlässig und ist durch die Ökonomie beeinflusst, die davon ausgeht, dass der Verbraucher ein unbeeinflussbar entscheidungsstarker Mensch ist, der das ganze Blendwerk der Wirtschaft durchschaut und rational nur seinen Vorteil sucht. Diesen Blödsinn hat die Ökonomie selbst entlarvt: Wie wollen sie bei einem so strukturierten Menschen mit Marketing und Werbung punkten können? Oder glauben Sie, die Wirtschaft ist so dumm, Milliarden für Marketing und Werbung auszugeben, wenn diese Maßnahmen nicht monetäre Früchte tragen würden?

Nun haben wir die großen Linien des Problems beschrieben: Die Unternehmen unterliegen dem Wettbewerb. Es gilt das Mikado-Spiel: wer sich zuerst in die neue Richtung bewegt, hat verloren. Die gesamtwirtschaftliche Perspektive anerkennt die Notwendigkeit der Veränderung und arbeitet unter dem Titel „Die große Transformation“ an den notwendigen Ansätzen, einen Weg aus dem Dilemma zu finden. Die Politik hat ihre Aufgabe noch nicht begriffen und spielt noch den Moderator zwischen Wirtschaft und Verbraucher. Alle Beteiligten warten auf die erlösenden Führungsmaßnahmen.

Die Wissenschaftler haben das längst erkannt und haben den Begriff der „Leitplanke“ (rail gard) in den Prozess eingeführt. Eine Leitplanke begrenzt den Spielraum für alle Unternehmen im gleichen Maße. Anders ausgedrückt: Wenn sich einer im Mikadospiel unter Wettbewerbsbedingungen zu früh bewegt, hat er in aller Regel verloren. Nun bewegt sich bei der „Leitplanke“ nicht der Unternehmer, sondern der Rahmen, in dem Wettbewerb stattfinden kann und darf. Der Rahmen ändert sich (im Idealfall global) für alle Unternehmen und damit ist die Gefahr für den Einzelnen aufgehoben, zumindest deutlich geringer im Mikado-Spiel zu verlieren. Wichtig ist dabei, dass es entgegen der politischen Praxis, systematisch Schlupflöcher zu lassen, diese von den Betroffenen nicht toleriert werden, –weil es für alle die gleichen Rahmenbedingungen geben muss, um Diskriminierung zu vermeiden. Letztere wäre von den Unternehmen einklagbar. Die „Watchdogfunktion“ wäre in diesen Fällen überaus potent besetzt. Diese Institution muss Teil der Strategie sein, weil die Praxis immer Wege der Umgehung suchen wird. Und nur „Betroffene“ wissen um die Schleichwege.

Das ist die eine Seite. Die andere Seite kann man mit der Frage einleiten, ob mit der Leitplanke nicht künftig auch Aktionsraum wegfällt, weil er für alle Unternehmen zur Tabu-Zone erklärt wird. Das ist uns einsichtig, wenn es sich um Betrug und Korruption handelt, aber es wird mit Sicherheit auch Räume betreffen, in denen gegenwärtig verschiedene Geschäftsmodelle ihre Angeln auslegen, um hoffentlich legal erfolgreich zu fischen. Es könnte sich dabei um Geschäftsmodelle handeln, die heute nicht verboten sind, aber im Hinblick auf Nachhaltigkeit keinen Beitrag mehr zu leisten in der Lage sind. Manche können sich anpassen. Aber andere werden alle Register ziehen, dass genau diese Leitplanke so nicht realisiert wird.

Wo finden wir in einer Demokratie Politiker, die hinsichtlich der Einführung von Leitplanken unter dem absehbaren Zeitdruck eine hinreichende Resolutheit an den Tag legen, ohne Gefahr zu laufen, sich bei der nächsten Wahl aus ihrer schwer erkämpften Abgeordnetenposition hinaus zu katapultieren. Er mag mit seiner resoluten Entscheidung das „Richtige“ tun, aber weder seine Partei noch seine Wähler werden ihn i.d.R. dafür honorieren. Wir habe also in dieser Frage ein strukturelles Umsetzungsproblem.

Mancher könnte nun vorschlagen, dass wir an der Demokratie-Schraube drehen können. Etwas weniger ginge ggfs. auch. Das ist m.E. der falsche Ansatz. In der Pandemie haben wir erkennen können, dass die Politik und ihre nationalen Strukturen durchaus in der Lage sind, Herausforderungen zu meistern. Ich würde einen anderen Weg vorschlagen: Die EU ist nicht dafür bekannt, dass sie übermäßig demokratische Strukturen aufweist, weil die Mitglieder davon ausgehen, dass die strikt demokratischen Strukturen bei den EU-Ländern angesiedelt sind. Wir beobachten in vielen Fällen, dass die Mitgliedsländer durch Entscheidungen der EU zur Umsetzung von Maßnahmen gezwungen werden, die sie aus „Rücksicht“ auf ihre Wähler-Klientel nicht umsetzen wollten. Diese Strukturen könnten genutzt werden, um die Problematik der „Leitplanken“ zu lösen. Wir müssen uns auch darüber klar sein, dass diese Leitplanken nicht als ein fertig geschnürtes Paket auf uns zukommt, sondern die Leitplanken werden nach Prioritäten schrittweise, aber konsequent umgesetzt. Dazu muss die Idee auf die Ebene der EU gehoben werden und weniger die nationale Politik damit befasst sein.

Richard D. Precht weist mit Recht auf die globalen Bezüge hin. Auch hier gilt ein gutes Stück weit die Metapher des Mikado: wer sich zuerst bewegt, läuft Gefahr, zu den Verlierern zu gehören. Wenn aber einer angesichts der Unvermeidbarkeit und dem Vorverständnis der Wählerschaft anfängt und es gelingt, die Dämme der Unvernunft zu brechen, dann ist der Regelbrecher i.d.R. fein raus und all die anderen, die nie geglaubt haben, dass es soweit kommt, sehen verdammt alt aus. Ich glaube, dass die Bürger schon viel weiter sind als die Politiker und die Bürger nur auf die notwendige Führung warten, damit die Umsetzung Platz greifen kann. Selbst in der Wirtschaft kann man feststellen, dass hier neue Erkenntnisse, neue Gedanken und Ideen Einzug halten und sich ein Wandel andeutet, den man vor zwei Jahren aufgrund der zum Ausdruck gebrachten Mentalität der Betonköpfe noch nicht für möglich gehalten hat. Das stimmt doch (ein wenig) optimistisch.

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Wunschdenken oder Realität? Beides scheint wichtig!

Gegenwärtig bewegt mich ein Wissenschaftsprojekt, das bei der WBGU unter dem Namen „The Great Transformation“ entwickelt wird. Als eine Art Grundlage kann man den Flagship Report (Hauptgutachten) „A Social Contract for Sustainability“ ansehen, in dem versucht wird, die Basis für die weiteren Arbeiten und Berichte zu legen. Der Report ist aus 2011 und die deutsche Fassung als Buch ist leider nicht mehr verfügbar. Stattdessen besteht eine PDF-Datei mit einer deutschen Übersetzung.

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Im Kapital 1 werden die Fakten einer Welt in der Transformation zusammengetragen und kommentiert. Im Kapitel 2 wird der sich abzeichnende Wertewandel angesprochen, der schon vor Jahrzehnten eingesetzt hat, aber eben noch nicht zum Durchbruch gekommen ist. Das 3. Kapitel versucht dann ein heuristisches Konzept für das weitere Vorgehen zu entwickeln und greift dabei sinnvoller Weise auf Erkenntnisse aus der Menschheitsgeschichte zurück. In einem 4. Kapitel wird die Machbarkeit diskutiert, und im 5. Kapitel wird die Steuerbarkeit der Prozesse ventiliert.

Aus den Erkenntnissen der jüngsten Vergangenheit tun sich dementsprechend im 3. Kapitel vier Felder auf, die wie folgt umrissen werden:

  • Die Energiebasis muss sich grundsätzlich ändern. Der Prozess führt zu einer radikal veränderten Wirtschaftsstruktur.
  • Das ‚Zeit Regime‘, das heute durch Kurzfristigkeit gekennzeichnet werden kann, muss sich zu einer langfristigen Perspektive verändern.
  • Unsere Infrastruktur muss ‚decarbonisiert“ werden, um die Folgen des Klimawandel aufzufangen.
  • Die Transformation wird zu einem sozialen Wandel und zu Veränderungen der Machtverteilung führen, wobei die potenziellen Verlierer heute ihre Macht und ihren Einfluss ausspielen werden, um die notwendigen Prozess zu blockieren.

Der bisherige (historische) Wandel war ein Wandel ohne Intention. Der anstehende Wandel muss bewusst eingeleitet  und gesteuert werden. Wir haben die Wahl zwischen den Extrempunkten eines geordneten Wandels (by design) oder einem disruptiven Wandel (by desaster) (Niko Paech).

Der angestrebte Wandel muss global gedacht werden und erfordert eine beispiellose globale Zusammenarbeit.

Die führenden Prinzipien der sozialen Entwicklung, die sogenannten Narrative, werden einer radikalen Veränderung unterzogen werden müssen.

Alle diese stark gekürzten Ausführungen sind detailliert diskutiert und sind inspirierend zu lesen.

Es folgen in dem Bericht dann Beispiele aus verschiedenen Epochen der jüngeren Vergangenheit, die unterschiedlichen Kategorien von Lösungsansätzen zugeordnet werden: Visionen als Teile von Utopien, Krisenbewältigung, dem Wissen über die systemischen Zusammenhänge und der Frage nach den Auswirkungen der Technologie.

Bei einem dieser Beispiele bin ich hängen geblieben, weil sich die Aussagen des Berichtes aus 2011 mit den Erkenntnissen von Thomas Piketty aus 2020 hinsichtlich des gleichen Sachverhalts widersprechen. Es geht um den Prozess um die Abschaffung der Sklaverei.

So wie der Prozess im Bericht dargestellt wird, entspricht er dem gängigen Narrativ (und ich hatte diese Auffassung bisher auch geteilt). Es fällt nur auf, dass für einen wissenschaftlichen Text sich plötzlich die Zitierweise ändert und der Tonfall eher erzählerisch auftritt. Das Narrativ stellt, vereinfacht ausgedrückt, fest: Sklaverei ist unmenschlich und aus der Erkenntnis heraus wurde sie Schritt für Schritt von den aufgeklärten Menschen gegen die „bösen“ Sklavenhalter durchgesetzt. Die letzte Verurteilung der Sklaverei erfolgte wohl 1948 im Rahmen der Menschenrechtserklärung.

Zur Abschaffung der Sklaverei

Ich will nicht in Abrede stellen, dass es diese im Narrativ dargestellte Initiative gegeben hat. Ich bezweifele jedoch, dass diese Initiative in der Lage war, die Sklavenhaltung zu unterbinden. Der Grund liegt für mich in den Ausführungen von Thomas Piketty, der in seinem Werk „Kapital und Ideologie“ (2020) unter dem Kapitel Sklavenhaltergesellschaften (S. 263 ff.) deutlich macht, dass diese hehre Betrachtung der aufgeklärten europäischen Elite hinsichtlich der Abschaffung der Sklaverei wohl gar nicht stimmt.

Die Abschaffung der Sklaverei war eine indirekte Folge der industriellen Revolution. Sklaven wurden zur Arbeit gepresst. Ihre Arbeitsproduktivität war verständlicherweise gering. Deshalb wurden zahllose Sklaven herbeigeschafft. Sklaven wurden dabei nicht als Menschen wahrgenommen, Sklaven waren Sachen. Sachen waren auch die Zugtiere der damaligen Zeit und Zugtiere wurden, wenn ihre Leistungsfähigkeit abnahm, dem Schlachter zugeführt. Ob das auch für alte Sklaven galt, möchte ich ernsthaft bezweifeln. Festzuhalten bleibt aber die Tatsache, dass das Töten eines Sklaven rechtstechnisch kein Mord sein konnte. Eine „Sache“ kann man nicht ermorden. Es würde deswegen im Fall der Fälle i.d.R. auch niemand zur Rechenschaft gezogen.

Parallel zur Sklaverei hatte sich die Lohnarbeit entwickelt. Lohnarbeiter hatten zwar nicht zwangsläufig ein besseres Los als Sklaven, sie waren aber durch ihre Existenznot und den in Aussicht gestellten Lohn deutlich produktivere Arbeitskräfte als Sklaven. Eine Altersversorgung (wie möglicherweise bei den langjährigen gedienten Sklaven nicht unüblich) entfiel bei den Lohnarbeitern. Der Arbeitskontrakt sah eine Altersversorgung nicht vor. Als Folge verlieren die Sklavenhalter Schritt für Schritt ihr Interesse an ihren Sklaven, weil schlechtbezahlte Arbeiter mittelfristig wirtschaftlich die bessere Lösung darstellten.

Piketty beschreibt dann wie in England und Frankreich die Sklavenhalterei ihr Ende fand. Die Sklavenhalter hatten gegen Ende des Booms der Sklaverei zahllose Menschen, die ihr Eigentum waren und ernährt werden mussten. Sie stellten unter den wirtschaftlichen Bedingungen kein echtes Vermögen mehr dar. Das Vermögen war eher lästig. Dann hat das englische Parlament sich bereit erklärt, möglicherweise auf der Grundlage einer aufgeklärten Haltung der Politiker, den „armen“ englischen Sklavenhaltern ihren lästigen (wirtschaftlich wertlosen) Besitz abzukaufen. Der Preis lag über dem Markt. Viele Familien des heutigen Oberhauses zehren wohl noch heute von diesem Deal. Man kann insoweit von einer sozialen Komponente sprechen als der Preis pro Sklave weit über dem tatsächlichen  Wert von Sklaven lag. Die Sklaven wurden also Gegenstand eines Deals, den die britischen Steuerzahler (dazu zählten nicht die Sklavenhalter, die aufgrund von Privilegien von den meisten Steuern befreit waren) aufbringen mussten. Wenn ich mich richtig entsinne, verbrauchte das Parlament bei diesem Deal etwa 2/3 ihres Jahresbudgets. Damit gehörten die Sklaven formal der englischen Regierung und die liess nun die in den Kolonien ansässigen Sklaven entschädigungslos in die Armut „frei“.

Ähnlich lief es in Frankreich. Haiti z.B. konnte sich gegen Zahlungen die „Freiheit“ erkaufen. Die letzte Rate aus diesem Deal wurde um 1950 von Haiti beglichen. Man kann dann verstehen, warum Haiti immer noch nicht zu einem angemessenen Wohlstand gefunden hat.

Nun ist die Frage, ob die westliche Welt ihr Narrativ von den edlen Menschen, die die Sklaverei abgeschafft haben, nicht umschreiben sollte, zumindest sollte das Narrativ um die dunkle Seite der ganzen Geschichte ergänzt werden.

Einführung des unbedingten Grundeinkommens

Es gibt aus der Gegenwart einen ähnlichen Vorgang, den sozial verantwortungsbewusste Menschen in Leben gerufen haben. Es geht um das bedingtungslose Grundeinkommen. Jeder Bürger dieses Landes soll unabhängig von seiner Bedürftigkeit ein Grundeinkommen erhalten. Das Ziel des Grundeinkommens soll ein freier und weitgehend unabhängiger Bürger sein, der nicht deshalb arbeitet, weil er ein Einkommen braucht, um leben zu können, sondern er arbeitet zusätzlich , weil sein Selbstgefühl gestärkt wird und weil die Arbeit, die er übernimmt, ihn von der Sache her interessiert.

Die grundlegende Idee ist relativ alt. Milton Friedman, ein neoliberaler Ökonom, wollte sie aus wirtschaftlichen Gründen einführen und scheiterte dann in den 1980iger Jahren  am amerikanischen Senat, der diese Idee ablehnte. In Europa wurde die Idee ebenfalls lange abgelehnt: zu teuer, nicht finanzierbar, die Leute legen sich auf die faule Haut, oder sind nur noch betrunken usw. – alles nicht verifizierte stereotype Einwendungen, die üblichen Bedenken. Keines dieser Argumente ist wirklich stichhaltig verifiziert.

Nun werden auf einmal die Auswirkungen der Digitalisierung erkennbar und viele disruptive Veränderungen könnten in unserer Wirtschaftsstruktur zum Tragen kommen. Es gibt Untersuchungen, dass bis zu 50% der Arbeitskräfte sich neuen Aufgaben zuwenden müssen, d.h. sie werden zeitweise oder dauerhaft arbeitslos. Unter sozialen Gesichtspunkten ist das für die Politik ein erschreckendes Szenario. Aber das hat auch Rückwirkungen auf die Wirtschaft: Unsere Wirtschaft kann in ihrer gegenwärtigen Struktur nur dann überleben, wenn sie es schafft, dass die von der Produzentenseite bereitgestellten Warenströme auch von den ‚Massen‘ konsumiert werden. Wenn aber bis zu 50% der Arbeitnehmerschaft durch Veränderungen des Arbeitsplatzes deutliche Einkommenseinbußen erfahren, kann diese „Bedingung“ nicht mehr erfüllt werden. Das ist für die Wirtschaft eine existentiell offene Flanke, die es rechtzeitig zu schließen gilt.

Deshalb diskutiert man in den oberen Kreisen unserer Wirtschaft u.a. auch das bedingungslose Grundeinkommen, aber nicht aus sozialer Fairness, sondern aus schlichter Sorge um die künftige nationale Kaufkraft und damit für den Fortbestand der bestehenden Wirtschaftsstruktur.

Was ich damit zum Ausdruck bringen will, ist ein Zwiespalt, ähnlich dem der Sklaverei: Der gute Wille allein bewegt die Gemüter, wird von der Politik aufgegriffen, aber umgesetzt wird die Sache ggfs. von denen, die aus der Idee ein Geschäftsmodell machen können. Sollten wir eines schönen Tages ein bedingttungsloses Grundeinkommen einführen, wird die Politik das soziale Narrativ pflegen und penetrieren. Die Wirtschaft wird sich die Hände reiben, weil sie eine Reihe von Unannehmlichkeiten eines gewaltigen Umbruchs möglicherweise verhindern konnte. Ob das im Hinblick auf die Nachhaltigkeit vor Vorteil ist, bleibt abzuwarten.

Die hier dargestellten Zusammenhänge können letztlich auch strategisch genutzt werden, um eine große Transformation voranzubringen, indem man ein begründet soziales Anliegen in einem allgemeinen Narrativ penetriert, man aber auf einer anderen politischen Ebene den Widerständigen gewisse wirtschaftliche Vorteile zukommen lässt und ihnen den „Schneid abkauft“. Denken Sie doch nur an den Braunkohleausstieg. 20.000 Arbeitsplätze stehen im Feuer und 40 Mrd. Euro lassen wir uns das Geschäft kosten. Es ist kein schönes und erst recht kein sauberes Spiel, aber das alltägliche Spiel nennt man Politik.

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Reparieren statt Wegwerfen

Diese Überschrift findet man mehrfach auf Youtube. Die Forderung wird wenig Widerspruch hervorrufen. Aber ist unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem in der Lage, dieser Aufforderung nachzukommen? Die Aufforderung zur Reparatur statt zum Wegwerfen setzt voraus, dass diese erste Grundlage zur Erzielung von Nachhaltigkeit auch die Zustimmung des Wirtschaftssystems erhält bzw. finden kann.

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Unsere Wirtschaft ist in den letzten Jahren m. E. durch eine deflatorische Lücke gekennzeichnet. Was heißt das? Grob gesprochen übersteigt das Angebot an Waren und Dienstleistungen tendenziell die Nachfrage, mit der Folge, dass ein ständig spürbarer Preisdruck auf dem Markt liegt. Alle Massenguthersteller versuchen diesem Druck durch Kostensenkung nachgeben zu können.

Kostensenkungen lassen sich auf die eine oder andere innovative Weise realisieren, aber am Ende gehen sie immer zu Lasten der Qualität. Und Qualität ist ein Begriff, den die moderne Ökonomie noch nie in ihrem Repertoire hatte. Unter dem Regime der deflatorischen Lücke ist das besonders zu spüren. Denken Sie nur an den geplanten Verschleiß, der von zahlreichen Ökonomen beschrieben, aber von der Wirtschaft immer noch vehement bestritten wird. Wenn die Marge zu klein wird, um vom Einzelgeschäft leben zu können, muss es eben der Durchsatz (die Masse) bringen – also darf das Produkt um Gottes willen nicht unverwüstlich sein. Also wird ständig an der Lebensdauer der Produkte (als einer wesentlichen Ausprägung von Qualität) „gespielt“ – gerade so, dass der Kunde die Verkürzung der Lebensdauer im Sinne von Verlust an Qualität nicht ernsthaft bemerkt und insbesondere nicht nachweisen kann.

Kennen Sie auch den Spruch: „Hoffentlich macht es meine alte Wasch- oder Spülmaschine noch möglichst lange, die neuen (in dem korrespondieren Preissegment) sind nur noch Schrott!“ Haben Sie auch alte Küchenmaschinen, die seit Jahrzehnten unverzagt ihren Dienst tun und Sie hoffen noch auf viele weitere Jahre, weil Sie den neuen Geräten eine solche Qualität nicht mehr zutrauen? Das ist die Erfahrung des Kunden hinsichtlich der Wahrnehmung der gesamtwirtschaftlichen Folgen der deflatorischen Lücke. Das ist der vorprogrammierte, schrittweise Verlust an Qualität.

Das Reparieren von Geräten tritt bei der verkaufsorientierten Strategie völlig in den Hintergrund. Viele Waschmaschinen waren früher mit Metallgetrieben ausgestattet, heute sind diese Zahnräder aus Plastik. Wenn sie ‚zerbröseln‘, wird die Reparatur teuer, möglicherweise teurer als das „zufällig“ bereitstehende Neugerät. Noch schlimmer ist es, dass ab einem gewissen Alter genau diese Ersatzteile auch nicht mehr zur Verfügung stehen. Reparatur ist dann Fehlanzeige – unabhängig von den möglicherweise auftretenden hohen Reparaturkosten.

Oder betrachten wir Schuhe: Die billig gemachten, aber schön bunten ‚Treter‘ aus Plastik und Mesch, also sogenannte Sneakers, sind nicht zur Reparatur geeignet. Sie sind dann, wenn gewöhnlich eine Reparatur ansteht, „ausgelatscht“ und gelten als Müll. Als Folge ist der Beruf des Schuhmachers bis auf wenige spezialisierte Exemplare ausgestorben. Man könnte auch sagen, sie stehen auf der roten Liste.

Da die Preise für Neuwaren tendenziell im Keller sind, die Neuware gemessen an den Altprodukten billiger hergestellt und massenhaft verkauft werden muss, fällt gezielt eine ganze Reparatur-Industrie aus. Die Produzenten der Neuware können diese Reparatur-Industrie gar nicht zulassen, weil sie die Lebenszeit der Produkte ständig verkürzen müssen, um die Umschlagsgeschwindigkeit der Neuware ständig erhöhen zu können. Eine Reparaturfähigkeit der Neuprodukte würde sich unmittelbar auf eine Verlängerung der Lebensdauer und damit negativ auf die Umschlagshäufigkeit der Produkte auswirken. Letztere würde sinken. Das führt zu Einbußen beim Neuwarenverkaufsgeschäft. Eine weitere Folge der Erhöhung der Umschlagsgeschwindigkeit sind die wachsenden Müllberge und der Verfall einer Reparatur-Kultur. Das ist mit Nachhaltigkeit nicht zu vereinbaren.

Um einen Ausweg aus dieser deflatorischen Falle zu schaffen, ist die Politik gefordert. Es hat wenig Sinn, hier auf die nationale Politik zu hoffen. Nach meinen Informationen hat das Europa-Parlament einen ersten Vorstoß auf diesem Gebiet gemacht. Wenn ich die Äußerungen richtig interpretiere, wird angestrebt, dass alle oder nahezu alle Neuwaren künftig grundsätzlich reparaturfähig sein müssen. Wenn eine Reparaturfähigkeit gefordert wird, müssen vom Produzenten auch die notwendigen Ersatzteile für eine Anzahl von Jahren vorgehalten oder zur Verfügung gestellt werden. Dieser formulierte Anspruch, richtig umgesetzt, könnte ein Umdenken auslösen:

Die Konstruktion von Neuwaren wird gegenwärtig so vorgenommen, dass man eine Reparatur entweder gar nicht (wie bei gewissen Smartphones), oder nur durch einen autorisierten Personenkreis mit einem spezialisierten auf dem Markt nicht oder nur extrem teuer verfügbaren Werkzeug durchführen kann. Das ist heute nicht verboten, würde aber künftig ggfs. unter das Kartellrecht fallen. Auf dem Reparatursektor müssten künftig gleiche und einheitliche Marktzugangsrechte gelten. Der Aufbau von Reparatur-Kartellen wäre kontraproduktiv. Sie würden den freien Zugang zum Markt untergraben.

Auf den Produzenten kämen zusätzliche Kosten für geänderte Konstruktionen, eine Ersatzteileverwaltung u.ä. zu, die er in den heute niedrigen Verkaufspreis einrechnen muss. Der Zwang zur Reparaturfähigkeit könnte den verhängnisvollen Trend, „Schrott“ (billig) zu produzieren, brechen. Der Zwang zur Reparaturfähigkeit gibt zudem dem Produzenten das neue Argument, dass die Qualität so hoch ist, dass eine Reparatur, abgesehen vom regelmäßigen Service, entfallen kann. Dann muss er aber auch Qualität liefern und das wird sich zwangsläufig in höheren Anschaffungskosten niederschlagen. Und das wäre dann wohl so etwas wie ein Schritt zu mehr Nachhaltigkeit.

Eine Subsistenzwirtschaft wird häufig mit Selbstversorgung gleichgesetzt. Das ist nicht falsch, trifft aber im Rahmen einer industriellen Betrachtung nur eine schmale Seite der Wirklichkeit. Subsistenzwirtschaft ist im größeren Rahmen ein Wirtschaftssystem, in dem nicht nur „Neuware“ geschaffen und idealerweise „Altware“ zu Müll erklärt wird, sondern in dem existente Gebrauchsgüter systematisch durch pflegliche, konservierende Behandlung in Funktion gehalten werden. Eine Subsistenzwirtschaft ist also keine Wirtschaftsform, die neben der Neuproduktion nur die Deklaration von Müll toleriert, sondern in der die von Natur oder Menschen geschaffenen Dinge prioritär einer Beurteilung zu einer Reparatur/Sanierung unterworfen werden, ehe man sie dem Müll oder dem Abriss preisgibt.

Diese Entscheidung wird gegenwärtig ausschließlich auf der Basis der vergangenen Kosten getroffen. Das ist kein nachhaltiger Maßstab. Das zu bewertende Gebrauchsprodukt wurde ja nicht zu dem Zweck geschaffen, um es dem Müll zuführen zu können. Mit der Produktion waren eine Funktion und eine erwartete Lebensdauer verbunden. Wenn die Entscheidung ansteht, Müll oder nicht Müll, so wird zurückgeschaut, ob das Produkt seine Abschreibungen und laufenden Kosten bis dato eingespielt hat. Wenn diese Frage bejaht wird, rutscht das Produkt gefährlich in die Nähe des Mülls, obwohl erst ein Drittel oder die Hälfte seiner für das Produkt vorgesehenen Lebensdauer erreicht ist.

Eigentlich beginnt jetzt erst die Phase, in der mit dem Produktionsmittel aufgrund erfolgter Abschreibung richtig Geld verdient werden kann, selbst dann, wenn eine gründliche Überholung stattfinden müsste. Diese Idee spiegelt sich in dem Begriff Subsistenzwirtschaft wieder. Wir sollten uns von dem Glanz des Neuen nicht weiter blenden lassen. Das neue Produkt mag Produktivitätsvorteile versprechen, aber ehrlich – das ist in den meisten Fällen ein ‚Krieg‘ um wenige Prozent. Dafür wiegen die neuen und meist deutlich höheren Abschreibungen der Neuanschaffung als unvermeidliche Fixkosten viel schwerer. Der Aufbau von Fixkosten führt Unternehmen regelmäßig in Schwierigkeiten, insbesondere, wenn der professionell verbreitete Optimismus zur konjunkturellen Entwicklung sich mal wieder geirrt hat.

Wir neigen dazu, nur die Leistungen von Unternehmen zu verherrlichen, die Neues schaffen. Intellektuell mindestens genauso herausfordernd ist die Realisierung einer komplexen Reparatur: Ein Gerät hat eine ernsthafte Störung. Reparieren bedeutet im ersten Schritt Analyse:

  • Finde die Ursache, finde den Fehler! Wenn der Fehler gefunden ist:
  • Finde im gegebenen Rahmen eine kreative Reparaturlösung! Und letztlich:
  • Setze die gefundene Lösung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten um.

Es gibt eine große Zahl von Menschen, die an einer solchen Aufgabe scheitern, weil ihnen die Eigenschaften eines typischen „Tüfftlers“ abhandengekommen sind. Es ist hier ähnlich wie bei den Sprüchen über erfolgreiche Unternehmer – nicht jeder hat die Voraussetzungen für diese Aufgabe: Ich behaupte, das gleiche gilt für die gute Durchführung einer Reparatur. Nur: Reparaturen berühren unsere Lebenspraxis viel öfter als neue Unternehmen. Sie sind das größere und oft nachhaltigere Geschäft.

Und unser Wirtschaftssystem honoriert diese Sichtweise nicht, weil nur das „Neue“, die oft fragwürdige „Innovation“ im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Wir brauchen aber den „Tüfftler-Typ“ ganz dringend für den Aufbau einer Reparatur(Erhaltungs-)-Industrie! Nur dann werden wir in der Lage sein, das erste Gesetz der Nachhaltigkeit zu respektieren und in die Tat umzusetzen. Die einen schaffen Neues und die anderen erhalten es, solange es sinnvoll und zweckmäßig ist.

Jetzt kommt noch ein dritter Schritt ist Spiel: Wenn dann endlich ausgemustert wird, braucht es ein funktionierendes Recycling. Daran fehlt es. Eine Recycling-Quote von 18% ist erbärmlich und beschämend, wenn ich an all den Aufwand mit der Mülltrennung denke. Wir ‚ersaufen‘ im Müll und verwalten ihn teuer. Die Spitze der Schweinerei ist die Tatsache, dass wir im großen Stil Müll-Export betreiben, um das, was wir für nutzlos halten, los zu werden.  Und es ist nicht einmal eine sinnvolle Lösung in der Diskussion.

An diesem Punkt schließt sich der Kreis. Wenn wir am Ende der Kette ein Chaos verursachen, müssen wir sinnvollerweise wieder an den Anfang der Kette zurück und uns fragen, ob und wie wir das Chaos vermeiden können, indem wir die wahren Kosten des Chaos (die externen Effekte) schrittweise gleich bei der Produktion antizipieren (hinzurechnen). Diese Vorgehensweise führte vor Jahren zum Ende der Atomkraft, denn man hatte diese Technologie als „Deus ex machina“ eingeführt ohne zu wissen, was man mit dem atomaren Abfall machen sollte – die Folgen dieser in Geld ertränkten Verantwortungslosigkeit werden uns noch lange beschäftigen!

Die Kreislaufbetrachtung geht an die Substanz unseres gegenwärtigen Systems und damit sind wir mitten in der Problematik der „großen Transformation“ und seinen Folgen. Die „große Transformation“ beschäftigt die Wissenschaft schon seit geraumer Zeit (mindestens 20 Jahre, eher 50 Jahre). Es gibt auch Fortschritte, aber es ist wohl noch zu früh für die schlichten Botschaften der Mainstream-Medien. Es ist noch keine Katastrophe, es sind nur eher schlechte Nachrichten. Dabei ist die Klimakrise nur der allgemein bekannte Teil, über den heute jedermann redet.

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Pestizide sind offensichtlich überall

Das Umweltinstitut München e.V. hat zusammen mit dem Bündnis für enkeltaugliche Landwirtschaft e.V. an einer Studie teilgenommen, bei der in ganz Deutschland Messpunkte aufgestellt wurden, die über Filter Schadstoffe aus der Luft sammelten. Dabei stellte sich heraus, dass sich in den Filtern neben PCB (ein „altes“ Industriegift) eine große Zahl von alten, neuen und nicht zugelassenen Ackergiften als Schadstoffe finden lassen (Bericht vom 06. Oktober 2020). Die ARD hat im Rahmen der Sendung Fakt am Montag, den 23. November 2020, in einem Feature darüber berichtet.

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Die breite Öffentlichkeit und damit vermutlich auch Fakt wurde erst auf diese bahnbrechende Untersuchung aufmerksam, als sich Bayer CropScience Deutschland GmbH, vertreten durch seinen Geschäftsführer Peter R. Müller, in einem Offenen Brief an das Bündnis für enkeltaugliche Landwirtschaft e.V. wandte und versuchte, die Ergebnisse klein zu reden (zu relativieren), verbunden mit dem Vorwurf, die Bevölkerung (unbegründet) zu ängstigen:

Sein Ansatz zur Verteidigung ist vom Grunde her falsch und irreführend. Herr Müller vergleicht Grenzwerte, (die nur dann gelten, wenn das Gift mit der Nahrung aufgenommen wird,) mit den in den Filtern gefundenen Giftwerten, die wir über die Atmung (über die Lunge) dem Körper zuführen. Das ist ein riesiger Unterschied. Für die Aufnahme von Giften über die Nahrung hat der Körper mit der Leber ein Organ, das dafür sorgt, dass das Gift in Teilen oder in Gänze den Körper wieder verlassen kann. Bei der Aufnahme des Giftes über die Luft (durch die Lunge) kennt der menschliche (und tierische) Körper keine vergleichbaren Mechanismen.

Ein schwacher Trost ist die Möglichkeit des Abhustens. Dazu müssen die eingeatmeten Partikel ganz schön groß sein und der Betroffene darf kein Raucher sein. Der ist schlimmeres gewöhnt und reagiert vermutlich überhaupt nicht. Da eine systematische Reinigung organisch nicht vorgesehen ist, kann man davon ausgehen, dass sich das Gift über die Zeit in der Lunge anreichert. M. a. W., die festgestellte Filtermenge wird sich in der Lunge möglicherweise kumulieren. Eine Obergrenze für diese Form der Beeinträchtigung existiert nicht, weil das Bundesinstitut für Risikobewertung immer davon ausgegangen ist, dass der Giftstoff lokal fixiert sei. Die Vorstellung, dass das Gift im Rahmen des Feinstaubes über die Luft verbreitet werden könnte, war dem Institut bislang nicht zu vermitteln.

Die Diskussion, die man im Wesentlichen auf der Website des Bündnisses für eine enkeltaugliche Landwirtschaft (https://www.enkeltauglich.bio) nachlesen kann, bewegt sich nur auf der Ebene der betroffenen Menschen und ist hochgradig anthropozentriert.

Wenn wir davon ausgehen, dass die für unsere Landwirtschaft so wichtigen Insekten den gleichen Einflüssen ausgesetzt sind, ebenfalls ein Organ für den Luftaustausch besitzen (man spricht da wohl von Tracheen), dann wird es schon heikel. Die Größe und das Gewicht einzelner Insekten dürften deutlich mehr durch die giftgetränkten Feinstäube beeinflussbar sein als die menschliche Lunge. Wenn wir bei dieser Gelegenheit feststellen, dass unsere Artenvielfalt im Bereich der Insekten dramatisch abgenommen hat, sollten wir im Auge behalten, dass das nicht nur eine Folge der gezielten lokalen Vernichtung von Insekten in der Landwirtschaft, sondern auch eine Folge der Gift-Einbringung im Rahmen der Luftverschmutzung sein könnte.

Die Bienenvölker vieler Regionen gelten durch die Varroamilbe stark im Bestand gefährdet. Viele Erkrankungen sind eine Folge von multifaktoriellen Einflüssen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Varroamilbe deshalb so erfolgreich wütet, weil die Bienenvölker durch die im Feinstaub übertragenen Ackergifte schon vorgeschädigt sind. Wenn wir bei Corona die Vorschädigungen als Grund für die hohe Todesrate ins Feld führen, sollte das nicht auch für Insekten gelten können?

Die Diskussion heizt sich deshalb wieder auf, weil im Rahmen der EU die Weiterverwendung von Glyphosat zur Diskussion steht. Frau Julia Klöckner (Landwirtschaftsministerin, CDU) macht sich die Haltung des Deutschen Bauernverbandes zu Eigen. Der hält Glyphosat für unverzichtbar, ebenfalls wie die Lobbyisten der Agrochemie. Sie beschwören dramatisch den Untergang der (intensiven) Landwirtschaft und das Ende der Versorgungssicherheit der Bevölkerung. Starke Worte, wenn man sich den Offenen Brief von Herrn Müller anschaut mit dem Vorwurf, mit den Erkenntnissen der neuen Studie ängstige man die Konsumenten.

Maja Göpel hat einmal ausgeführt, dass die durch Glyphosat gefährdeten Insekten jährlich mit einen Beitrag von ca. 150 Milliarden Euro zum Erfolg der Landwirtschaft beitragen, der entfallen würde, wenn die (intensive) Landwirtschaft es schaffen würde, die vielen bestäubenden Insekten auszurotten. Dann müssten wir selber mit Pinseln bewaffnet über die Felder streifen und die Bestäubungsarbeit leisten, die uns die Insekten jedes Jahr von neuem einfach „schenken“ würden (ohne Bezahlung, einfach so und ohne Subvention)!

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(S)Türme über München

Die SZ hat den offensichtlichen Protest der Bürger gegen die geplanten Hochhaustürme neben der Postverteilungshalle aufgegriffen. Als Nicht-Münchner kann ich den Protest nur unterstützen. Es gibt weder von der Ästhetik, noch von der Wirtschaftlichkeit oder gar von dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit her sinnvolle Gründe für dieses Projekt.

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Der einzige Aspekt ist die Aussage, dass München „endlich“ auch solche Türme braucht, weil es andere Metropolen gibt, die einen solchen Schwachsinn schon länger realisiert haben. Aber man muss doch nicht jeden Unsinn mitmachen!

Wir sehen uns mindestens drei großen Problemkreisen ausgesetzt:

  • nach der Corona-Pandemie wird es nicht nahtlos so weiter gehen, wie das Jahr 2019 endete;
  • die Klimakrise fordert von uns verstärkte Nachhaltigkeit und Effizienz;
  • die Digitalisierung hat sich durch die Corona-Einschränkungen schneller durchgesetzt als man es erwartet hat. Viele Büros reduzieren sich bis auf 30% ihrer ehemaligen Fläche. Der Markt für Büroflächen wird sich grundlegend ändern. Braucht München dann zwei 150 m hohe Türme mit neuem Büroraum?

Vor diesem Hintergrund ist das Projekt äußerst fragwürdig.

Unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik (Gestaltung, Optik, Stadtbild) ergeben sich ebenfalls viele Fragenzeichen. Muss man wirklich die Protzereien gewisser Schwellenländer in München wiederholen? Oder muss wieder irgendein Investor sein eingesammeltes Geld loswerden (verbrennen), um seine Kunden glücklich zu machen. Gibt es da nicht bessere Alternativen? Was in der Zeitung mit zarten Strichen angedeutet wurde, gibt es doch schon in Dubai, vermutlich auch in Singapur. Diese leicht korkenzieher-artige Bauweise ist doch nichts bahnbrechend Neues. Nichts, was München singulär für sich in Anspruch nehmen könnte. Ich bilde mir ein, etwas ähnliches, aber etwas kleiner, in New York (Manhattan) gesehen zu haben. Zugegeben, Hochhäuser, die sich durch ihre stark überzeichnete Funktion (hoch) auszeichnen, so zu gestalten, dass sie etwas „einmaliges“ darstellen, ist schwierig, aber gerade deshalb wäre es doch sinnvoll, etwas anderes zu planen. Niemand zwingt den Bauherrn, gewerbliche Räume in die Höhe zu bauen. Wenn Hochhäuser von 150m Höhe ein städtisches Bild vermitteln sollen, muss um den Fuß der Hochhäuser viel offener Raum zur Verfügung stehen. Wenn viel Raum da ist, kann man auch anders bauen. Hochhäuser sind eine Alternative dort, wo es offensichtlich an Fläche fehlt und wo bestehende Ensembles sinnvoll ergänzt oder erweitert werden können.

Wenden wir uns der Nachhaltigkeit und Effizienz zu. Hochhäuser sind weder nachhaltig noch effizient. Ich hatte in den 80iger Jahren für einige Monate einen Arbeitsplatz im 93. Stockwerk des World Trade Centers (WTC) in New York. Einmal runterfahren, etwas zu Essen besorgen und wieder am Arbeitsplatz zu sein dauerte fast eine Stunde: nicht, dass ich die 93 Stockwerke zu Fuß bewältigt habe, nein, der Turm konnte nur über einen Wechsel von drei Teil-Aufzügen bewältigt werden und die waren meist rappelvoll. Man kann sich nicht vorstellen, was für ein Gedränge herrschte, wenn wieder mal einer der vielen Aufzüge streikte, insbesondere, wenn „Plattform“-Touristen und arbeitendes „Volk“ sich in die Quere kamen. Die Aufzüge führten u.a. direkt in die Büros. Es gab also „Express“- Aufzüge und Aufzüge, die in jedem Stockwerk hielten(Lumpensammler). Die Infrastruktur in den Türmen des World Trade Centers erforderte als erste Pflicht der ständig durch die Stockwerke Reisenden viel Geduld.

Der Flächenbedarf für Infrastruktur war gigantisch. Ein Treppenhaus existierte aus Sicherheitsgründen, war nicht als Verkehrsweg ausgelegt, war immer vermüllt und nicht klimatisiert. Es wurde deshalb im Alltag einfach nicht benutzt. Der Müllschlucker war auch so ein Problem. Die Entsorgungskanäle mussten nach unten immer mächtiger werden, um dem Abfall, den Brauchwassermengen und den Fäkalien Herr zu werden. Das Verhältnis von Infrastrukturflächen zu Nutzflächen ist in Hochhäusern stets katastrophal. Die Herren Architekten vergleichen immer Hochhaus mit Hochhaus, statt das Hochhaus mit seinen Kubaturalternativen zu vergleichen. Wenn das Nutzungsverhältnis schon unbefriedigend ist, kann man sich die verheerende Wirkung auf die künftige Nebenkostenverteilung vorstellen.

Später lebte ich mit der Familie in der Nähe von Frankfurt in einem siebenstöckigen (also kleinen) Hochhaus, das natürlich in Betonbauweise errichtet worden war. Die Flächen, die dem Sonnenlicht ausgesetzt waren, wurden im Sommer unvorstellbar heiß. Beton sammelt die Hitze und gibt diese dann nach 2-3 Tagen nach innen ab. Sehr ‚angenehm‘, wenn dann das Thermometer innen auf dreißig Grad und mehr steigt, wenn es draußen schon wieder regnet. Es gibt Fachleute, die eine Beschattung und Erwärmung von Hochhäusern simulieren können. Sie wissen, welcher gewaltiger Energiebedarf notwendig ist, um den beschriebenen Effekt zu minimieren.

Wir hatte im ‚kleinen‘ Hochhaus noch Fenster, die wir öffnen konnten; bei 150 m Höhe gibt es das nicht mehr. Die gesamte Be- und Entlüftung erfolgt automatisch über energiefressende Klimaanlagen und das z.B. in Corona-Zeiten. Wenn der Hepa 14-Filter ausfällt oder wegen Überlastung wirkungslos wird, nützen auch 1,5 m Abstand und Mund- und Nasenschutz nichts mehr. Dann ist das Hochhaus ein Hotspot ersten Ranges.

Allein die Kühlung des Hochhauses im Sommer, unabhängig von einer möglichen Beschattung, ist energetisch heftig. Die Sonne hat im Sommer bei den Türmen von Ost über Süd bis West uneingeschränkten Zugriff auf das Gebäude. Im Winter sind diese überdimensionierten Finger der Kälte von allen Seiten ausgesetzt. Das muss durch hochdimensionierte, teure Technik abgefangen werden. Das kostet im Sommer Kühlungsenergie und im Winter ordentlich Heizung, mit der man vermutlich ein ganzes Stadtviertel versorgen könnte. Dabei ist das Hochhaus aufgrund seiner exponierten Stellung (seiner Kubatur) im Nachteil gegenüber jeder anderen Bauweise, alleine durch die nicht zu rechtfertigende Gestalt seiner Baumasse.

Nach meinem Empfinden ist der Büroflächenmarkt in München unter Druck. Bisher waren die Mieten erfreulich hoch bis unverschämt. Durch die Pandemie und durch den verstärkten Einsatz von Digitalisierung (Home-Office) schrumpft die Notwendigkeit, weitere Flächen anzumieten bzw. es werden über kurz oder lang Flächen frei. Es ist mir nicht möglich, bei den zwei Hochhaustürmen von 150 m Höhe die dadurch zu erwartende Büroflächenerweiterung zu ermitteln. Sie dürfte aber in einer Größenordnung liegen, die den bisherigen knappen Marktzustand in sein Gegenteil kehrt. Damit könnte es sein, dass die Rentabilität der Türme grundsätzlich überdacht werden muss. Und damit könnte sich das Projekt als eine Investition zur falschen Zeit am falschen Ort erweisen.

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Alter Wein in neuen Schläuchen? Die Strategie der Agilität

Vor wenigen Tagen hatte ich die Gelegenheit, ein Gespräch mit einem Fachmann der IT-Programmentwicklung einer mittelständischen Beratungsgesellschaft zu führen. Ihre Spezialität bei der Programmentwicklung sei der „agile“ Ansatz, wurde mir vermittelt. Auf meinen fragenden Blick wurde versucht, dem Laien (also mir) diese Thematik näher zu bringen: Das agile Vorgehen hat im Rahmen einer Dienstleistung das Ziel, den Gesamtnutzen des Kunden zu steigern.

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Theoretischer Aufsetzpunkt ist nicht ein Ansatz von „Tabula rasa“, sondern der Versuch die Maßnahme auf das vorhandene System mit allen seinen Ecken und Kanten aufzusetzen. Darauf wird jetzt schrittweise versucht, eine inkrementale Schrittfolge aufzubauen, wobei das Ziel nicht zwangsläufig eine Neugestaltung des Systems ist, sondern als Optimierung am ‚lebenden Organismus‘ angesprochen werden kann.

Maßstab für die inkrementale (schrittweise) Verbesserung ist der angestrebte Gesamtnutzen für den Kunden. Die Frage nach dem Gesamtnutzen wird dabei ständig rückgekoppelt. Mit „Gesamtnutzen“ ist nicht nur die punktuelle Nutzenoptimierung eines Teilprojektes gemeint; es wird versucht, eine das ganze Unternehmen umfassende Perspektive einzunehmen. Diese ständige Rückkopplung auf den Gesamtnutzen lässt sich die Gefahr der „Tyrannei der kleinen Entscheidungen“ (Kahn, 1966) reduzieren.

Um diesen Ansatzes besser zu verstehen, muss man den Kontrast sehen: Große IT-Beratungsgesellschaften halten es für sinnvoll und erfolgversprechend, ein fertiges, ggfs. modulares System anbieten zu können. Zusätzlich haben sie zahlreiche ergänzende „Tools“ (Bibliotheken) entwickelt, von denen erwartet wird, dass sie für die Adaption des fertigen Systems nützlich sein können. Das Personal solcher Beratungsgesellschaften ist hochtrainiert, um das fertige System zu „verkaufen“; es kennt sich in Fragen der Adaptionen und in den Bibliotheken aus, aber die Frage, ob das auch dem Gesamtnutzen ihres Kunden entspricht, wird bei dieser Vorgehensweise i.d.R. nicht beantwortet.

Der Gesamtnutzen des Kunden steht möglicherweise sogar im Konflikt mit dem Gesamtnutzen der beratenden Gesellschaft. Da liegt also ein fundamental anderer Beratungsansatz vor! Zumindest entspricht er nicht dem Idealbild eines agilen Beratungsprozesses.

Ich fühlte mich sehr angesprochen. Erinnerungen aus meiner Studienzeit kamen wieder hoch. Das Problem hatten wir damals (1970) schon mal in einem anderen Zusammenhang diskutiert. Der Unterschied zu damals ist klar: Wir haben uns gegen die Allgegenwärtigkeit des homo oeconomicus gewehrt. Dieses normative Konstrukt kann keine Realität repräsentieren. Also suchten wir nach Beschreibungen, die ein realistischeres Bild zu zeichnen in der Lage waren. Die Erkenntnis der beschränkten Informationsverarbeitungskapazität des Menschen war uns eine Stütze in der Beurteilung von Entscheidungen. ‚Rationale‘ oder ‚optimale‘ Entscheidungen sind auf der beschriebenen Grundlage zwar möglich, aber die krasse Ausnahme.

Parallel gab es zwei Erkenntnisse, die zu unserer Zeit wichtig waren:

  • Die Beschreibung komplexer Entscheidungen folgt nicht dem homo oeconomicus, sondern eher der Ansicht des amerikanischen Politologen Lindblom, der das Entscheiden aufgrund von Beobachtungen als ein „Muddling through“ (Durchwursteln) beschrieb. Das Durchwursteln folgt daraus, dass Menschen wegen ihrer beschränkten Informationsverarbeitungskapazität immer nur das Nächstliegende entscheiden und dadurch dann immer wieder von neuem vor Problemlösungsprozessen stehen. Es folgt damit einer Konzeption des Inkrementalismus. Die Idealvorstellung eines großen Befreiungsschlags zur rationalen und optimalen Lösung bezüglich der anstehenden Entscheidungen ist unter diesen Voraussetzungen nicht denkbar.
  • Karl Popper, einer der damals führenden Philosophen, vertrat einen ähnlichen Ansatz. „Popper weist auf die Unmöglichkeit hin, die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität wissenschaftlich zu erfassen und soziale Ganzheiten umfassend zu planen.“ (W.°Kirsch et.al., Die Wirtschaft, 1978, S. 265) Die Lernfähigkeit eines Systems bleibt aber erhalten, wenn nur kleine und überschaubare Ausschnitte der Wirklichkeit geändert werden. Ursachen und Wirkungen können dann einander zugeordnet werden. (vgl. S.266) Popper bezeichnet diese Vorgehensweise als „piecemeal engineering“ (oder auch Stückwerks-Sozialtechnik). Gestaltungshandlungen sollten in einem System immer nur soweit reichen, als sie experimentell kontrollierbar bleiben (vgl. S. 266).
  • Kahn hat 1966 in einem bahnbrechenden Artikel auf das Phänomen der „Tyrannei der kleinen Entscheidungen“ hingewiesen. Kleine Entscheidungen werden unter dem Diktat des Eigennutzes individuell getroffen und verbauen u.U. die sinnvolle Lösung eines  übergeordneten Problems, weshalb eine ständige Rückkopplung  zur Zielperspektive sinnvoll ist.

Die Ansätze sind hier stark reduziert umrissen. Ich hoffe, dass eine gewisse Parallelität zur Strategie der Agilität erkennbar wird. Für mich ist das Konzept der Agilität eine strategische Umsetzung dessen, was wir in 1970 für wünschenswert hielten. Durchsetzbar war es m.E. zum damaligen Zeitpunkt (noch) nicht. Soviel Demut hinsichtlich der Begrenzung der menschlichen Fähigkeiten überforderte viele Wissenschaftler als auch das Selbstbewusstsein des Managements.

Was hat man heute – 50 Jahre später – mit der Agilität anders oder besser gemacht? Wir waren angesichts der Übermacht der Befürworter des normativen Konstruktes des homo oeconomicus begeistert von Argumenten, die dessen fern jeglicher Realität angesiedelten Annahmen und Voraussetzungen in Frage stellen konnten. Was sich heute als Strategie der Agilität darstellt, ist möglicherweise die Tatsache, dass man aus den damaligen Hypothesen eine Handlungsstrategie gestrickt, sie also in eine Methodik der Praxis eingebaut hat.

Aufgrund der Parallelität hat diese Vorgehensweise m.E. eine Reihe von Folgen, die sich auf den ersten Blick nicht erschließen. Wenn das Muddling through als auch das piecemeal engineering und – ich unterstelle –  auch die Agilitätsstrategie erfolgreich angewendet werden können, sind ein paar wesentliche organisatorische Eigenschaften Voraussetzung:

  • Flache Hierarchien
  • Einfache (unkomplizierte) Kommunikationsstrukturen (-kultur)
  • „Handwerklich“-orientierte Gliederung der Vorgehensweise

Vor 50 Jahren galt die Hierarchie als das selig machende Strukturelement. Eine optimal dimensionierte Hierarchie sollte die Entscheidungsprozesse im System strukturell vorbereiten und vor allem verkürzen. Hierarchie und Kommunikation sind sich aber nicht ‚grün‘. Hierarchie ist meist ein Mittel, um Kommunikation einzuengen und zu kanalisieren. Wenn also innovative Entscheidungen auf ein hierarchisches System treffen, steht die Hierarchie meist im Wege. Die Beobachtung von Lindblom mit seinem Durchwursteln ist insofern bemerkenswert, dass er trotz der Existenz von in seiner Zeit ausgeprägten Hierarchien ein „Durchwursteln“ feststellen konnte. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass Hierarchie in keiner Weise Garant für effektive Entscheidungsprozesse darstellt. Wenn man diese Annahme weiterspinnt, sind flache, wenig ausdifferenzierte Hierarchien ausreichend, um effektiv innovative Entscheidungen zu unterstützen. Dabei sind flache Hierarchien angesichts innovativer Veränderungen viel flexibler als strikte Hierarchien, deren Ursprung in der Bürokratie und ihren unbestreitbaren Erfolgsfaktoren zu finden ist (Max Weber).

Flache Hierarchien können im Gegensatz zur strikten Hierarchie die Kommunikationsstrukturen leichter offenhalten. Das geht manchmal zu Lasten der Effektivität, sicher aber zu Lasten der Effizienz. Effizienz ist dabei eine Kategorie, die allein dem Kreis der repetitiven Aktivitäten eng verbunden ist. Effizienz ist in einem innovativen Entscheidungsprozess bestimmt nicht die erste Priorität. Die gefundene Problemlösung muss aber effektiv (wirksam) sein und das anstehende Teilproblem auf die eine oder andere Weise zufriedenstellend lösen. Effizienz kommt ggfs. dann zum Zuge, wenn immer wieder die gleiche Problemstellung (repetitiv) zur Anwendung kommt. So wie der agile Prozess definiert ist, trifft das nur selten zu. Wenn man sich im Rahmen der Agilität auf die vorgefundene Situation einlässt und sie schrittweise ändern will, so sind innovative Prozesse unvermeidlich. Hierarchien hindern dabei. Der einsetzende Kommunikationsprozess muss idealerweise auf „Augenhöhe“ stattfinden können. Man könnte auch von der Möglichkeit eines „herrschaftsfreien Diskurses“ (Habermas) sprechen. Die Aufgabe steht im Zentrum und die Kommunikation muss ungehindert fließen können, um ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen. Dabei wäre Hierarchie als Ausdruck von Herrschaft zu interpretieren und für den innovativen Prozess hinderlich.

Repetitive Prozesse werden gerne nach der Taylor’schen Maxime analog einer Bandfertigung in Folgeschritte zerlegt (Hierarchie), um die Geschwindigkeit und die Durchsatzmenge steigern zu können. Innovative Prozesse können sich dieser Methode nicht bedienen, weil weder die Geschwindigkeit noch die Durchsatzmenge zu diesem Zeitpunkt eine Rolle spielen. Die „Fertigungsschritte“ müssen erst definiert werden und sind Teil der agilen Aufgabe, die es kreativ zu lösen gilt. Die dafür erforderliche Struktur würde ich als „handwerklich“ bezeichnet, weil aus meiner Sicht das ‚Handwerk‘ den Vorteil hat, dass das Ergebnis für die am Werk beteiligten immer sichtbar ist und die Motivation zur Zusammenarbeit steigert. Es erscheint sehr kritisch, wenn der innovative Prozess organisatorisch in „Scheibchen“ zerlegt wird, weil dann die Kommunikationsprozesse zerschnitten werden und die Identifikation mit der Aufgabe sinken würde. Man muss im Entwicklungsprozess ein Verhalten vermeiden, was man etwas hochtrabend ‚Deprivation‘ nennen könnte, die immer dadurch entsteht, dass man am Ende nicht mehr feststellen kann, wer was zu dem (gemeinsamen) Projekt tatsächlich beigetragen hat.

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