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Politische Führung – gibt es sowas noch?

In den letzten dreißig Jahren gab es aus meiner Perspektive keine politische Führung. Das heißt nicht, dass wir führungslos waren, aber die Politik hat im Sinne von „Laissez faire“ nur dann Ansätze von Führung gezeigt, wenn der „Karren“ drohte, stecken zu blieben oder wenn sich des Wählers Unmut so artikulierte, dass die Wiederwahl der Führungsriege in Frage gestellt war.

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Es haben sich auch die Begrifflichkeiten gewandelt. Man spricht heute gerne von „Governance“ statt von „Führung“, aber erfolgreiche Governance ist in meinen Augen auch erfolgreiche Führung. Wir verbinden mit Führung oft Elitenbildung und versuchen, durch den anderen Begriff dem Phänomen der Führung einen eher demokratischen Touch zu vermitteln. Ob das wirklich hilft, erscheint mir fraglich.

Seit der Finanzkrise 2008/2009 begann sich die Auffassung von Politik langsam zu drehen, weil man gemerkt hatte, dass das Verhalten der „Märkte“ keiner Rationalität entsprach, die die Politik weiter tolerieren konnte.

Parallel zu den schmerzhaften Erkenntnissen vom Versagen der angeblich so idealen Finanzmärkte wurde immer deutlicher, dass unser ursprünglich auf die Ewigkeit gepoltes Wirtschaftssystem (‚ewiges‘ Wachstum bei unbegrenzter Maximierung von privaten Gewinnen) und die Klimakrise klar machten, dass dieser Planet ein solches Wirtschaftssystem nicht tolerieren wird. Diese Erkenntnis ist  zwar schon nahezu 50 Jahre alt, wurde aber geflissentlich überhört und übersehen. Das alles hat sein Ende gefunden. Aber der Neuanfang ist (noch) nicht zu erkennen.

Dann kam dieser verflixte Virus, der unsere gesamte Infrastruktur vor neue Probleme stellte und deutlich machte, dass wir nur mit äußerster Anstrengung den „Karren auf der Straße“ halten können. Neben den medizinischen Grenzen wurde auch deutlich, dass wir seit 15 oder mehr Jahren an der Digitalisierung herumdoktern, aber wenn es darauf ankommt, verlässliche Daten bereit zu stellen, versagt die Infrastruktur in weiten Teilen bzw. es stellt sich dann heraus, dass wir keine einheitlichen bundesweiten Referenzen besitzen, um die Maßnahmen sinnvoll zu steuern. Wir sind jetzt zwei Jahre in der Pandemie und müssen feststellen, dass wir immer noch vielfach mit Methoden arbeiten, die wir schon vor fünfzig Jahren angewendet haben als man Digitalisierung noch nicht einmal buchstabieren konnte.

Die Aufzählung sollte nun nicht dazu dienen, Nachweis zu führen, was alles möglicherweise falsch gelaufen ist. Das ist Vergangenheit und wir sollten großzügig sein. Es lag nur bedingt an den handelnden Personen, die sich, so mein Eindruck, tapfer geschlagen haben, um unter den gegebenen Umständen das Menschenmögliche zu erreichen. Mein Punkt ist, darüber nachzudenken, was wir hinsichtlich unseres bisherigen Verständnisses von politscher Führung ändern müssen, damit wir eine Chance sehen, die kommenden Herausforderungen auch einigermaßen sicher zu beherrschen.

Wir müssen uns hinsichtlich der politischen Führung von der Ideologie des „Laissez faire“ verabschieden. Es genügt nicht, zu führen, indem man einer liberalen Doktrin folgt, ohne sie regelmäßig zu hinterfragen, und nur versucht, als „moderierender Staat“ Reibungen zwischen der realen Welt und der Ideologie zu ‚verwalten‘. Die Aufgabe des „Laissez fair“ bedeutet  nicht, dass die politische Führung ihre Finger in alle Details steckt, sondern es bedeutet einen neuen Wirtschafts- und Sozialrahmen (ein neues „Spielfeld“) zu schaffen, der systemisch unsere Aktivitäten begrenzt und innerhalb der Grenzen, sogenannter Leitplanken, wird dann ein „Laissez faire“ u.U. wieder möglich. Der Aufbau dieses Rahmens wird aber nicht vom Himmel fallen, er muss politisch geschaffen und vermittelt werden. Die hier diskutierten Details zu dieser Erkenntnis stammen aus einem Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU), unter dem Titel „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“, veröffentlicht im Jahr 2011(!), also schon vor gut zehn Jahren, in denen kaum einer der ausgearbeiteten Vorschläge ansatzweise realisiert wurde.

In Kapitel 5 wird eine neue (andere) Form der politische Führung gefordert: „Dem Staat kommt eine bedeutende Rolle im Transformationsprozess zu. Damit Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Ressourcen und Potenziale einsetzen und Maßnahmen wie den Auf- und Umbau der Energieversorgung, die Neugestaltung städtischer Räume und die Veränderung der Landnutzung (Kap. 4) entwickeln, umsetzen und anwenden können, müssen Legislative, Exekutive und Judikative den hierfür erforderlichen Ordnungsrahmen schaffen bzw. ausfüllen und nicht nur rhetorisch-symbolisch die Entwicklung von Innovationen ins Zentrum rücken.“ (WBGU, 2011, S. 215)

Dabei macht der WBGU deutlich, dass die neue Form der politischen Führung hinsichtlich ihrer Legitimation mit einer erweiterten bürgerschaftlichen Partizipation austariert werden muss. „Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise (2007–2009) hat das Scheitern deregulierter Marktmechanismen nachdrücklich demonstriert. Gerade auch mit Blick auf die Umweltqualität zeigen sich die Nachteile deregulierter Marktmechanismen: Das Unvermögen von Unternehmen auf freien Märkten, die langfristigen Dimensionen ihrer Geschäftsmodelle und Technologieanwendungen im Blick zu behalten, macht umweltpolitische Regulierungen durch den Staat unumgänglich (Winter, 2010). Dabei muss man vor jeglicher Planungsillusion warnen. Der Staat kennt selbst nicht die besten Optionen, vielmehr muss er die in Unternehmen, in der Zivilgesellschaft und im politisch-administrativen System liegenden Potenziale aktivieren und sich dabei auch nicht länger – wie für pluralistische Verhandlungsdemokratien typisch – auf eine rein moderierende und nachsorgende Rolle beschränken. Ohne also die Risiken einer interventionistischen Politik zu unterschätzen und ohne einer neuerlichen Steuerungsillusion anzuhängen, regt der WBGU eine Weiterentwicklung des moderierenden zum „gestaltenden“ Staat an, der selbst eine proaktive Transformationspolitik betreibt. Dieses „Mehr“ an Staatlichkeit muss in einer Art neuem Gesellschaftsvertrag (Kap. 7.2) durch ein „Mehr“ an bürgerschaftlichem Engagement ausbalanciert werden. Kern dieses (fiktiven) Vertrags ist, dass er staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure im Blick auf Gemeinwohlziele und globale Kollektivgüter in ökologischer Zukunftsverantwortung mit Rechten und Pflichten versieht.“(WBGU, 2011, S.216)

„Der WBGU ist der Auffassung, dass es eines gestaltenden und zugleich aktivierenden Staatshandelns vor allem in den Bereichen der Klima-, Umwelt- und Energiepolitik bedarf und dass diese Politikfelder ins Zentrum einer neu verstandenen Wohlfahrtsstaatlichkeit rücken sollten. (…)

Zentraler Baustein eines solchen gestaltenden, innovationsoffenen Staates ist u. a. die innovationsfördernde Regulierung, so dass im Hinblick auf die drei Staatsgewalten zuvörderst das Handeln des Gesetzgebers erforderlich ist (Eifert, 2009). Hierzu könnte exemplarisch der deutsche Verfassungsgesetzgeber den Klimaschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufnehmen und zugleich statuieren, dass dieses Ziel insbesondere durch innovationsfördernde Regulierung erreicht und durch entsprechende Klagerechte gestützt werden soll. (…)

Staatliches Handeln soll darauf ausgerichtet sein, die Marktkräfte und das Engagement der Zivilgesellschaft im Dienste der Transformation zu nutzen und zu stärken. (..)“ (WBGU, S. 217).

Diese leicht dahin gesagten Sätze enthalten einen Paradigmenwechsel, weg von der Beschränkung politischer Aktivität auf die Moderation hin zur politischen Gestaltung. Wenn man die Sätze so liest, könnte man die darin verpackte „Bombe“ leicht übersehen. Mindestens eine Generation von Politikern kennt nichts anderes als Moderation. Das neue Ziel „Gestaltung“ stand bisher nicht auf ihrem Lehrplan.

Zudem wird immer nur von mehrheitlich technischen Innovationen gesprochen als ob das ausreicht, um das Ziel zu erreichen. Von Befreiung von Überfluss, von Veränderung des Verhaltens und ggfs. die Reduktion des Outputs aufs Wesentliche als Kennzeichen von Nachhaltigkeit wird nicht gesprochen. Der Wandel wird aber ohne derartige eher „unangenehme“ Sozial-Innovationen nicht vonstattengehen. Darüber zu sprechen erscheint gegenwärtig politisch eher nicht opportun.

Manche glauben, bürgerliche Partizipation würde sich auch durch Umfragen darstellen lassen. Das ist m.E. ein großer Irrtum. Die Mehrzahl der Bürgerschaft ist unzureichend informiert und bildet sich ihre jeweilige Meinung auf dieser extrem schmalen Grundlage. Kommt jetzt eine Umfrage, wird diese „Meinung“ kundgetan und führt u.U. zu Meinungsblasen, die in keiner Weise zu den anstehenden Problemstellungen Lösungsbeiträge darstellen können. Wenn wir Pech haben, wird dieser Unsinn dann auch noch mehrheitsfähig und damit politisch relevant. Solche Meinungen sind kaum wieder aus den Köpfen zu löschen (man denke an die Querdenker-Community).

Partizipation muss neue Wege gehen. Aus der Auswahl von Methoden gefiel mir die sogenannte „Auslosung“ (siehe den Beitrag bei ARTE 42: „Sollen wir losen oder wählen?“) besonders gut. Dabei wird eine überschaubare Zahl von Bürgern durch Los zufällig bestimmt und spiegelt im Idealfall die Schichtung unserer Bevölkerung wieder (u.U. besser als das gegenwärtige Parlament). Diese Bürger (Leute wie Du und ich) werden eingeladen, nehmen freiwillig teil (und werden für ihren ehrenamtlichen Beitrag letztlich auch entschädigt), nehmen an einem Workshop teil, indem sie mit der Problemlage und den vielfältigen Zusammenhängen vertraut gemacht werden. Das Informationsniveau zwischen den Probanden wird auf diese Weise weitgehend ausgeglichen. Danach folgen Gruppensitzungen in wechselnder Zusammensetzung, um Lösungsvorschläge für die anstehende Problemlage zu diskutieren und dann Mehrheitsentscheidungen zu den Lösungsvorschlägen in einem „Bürgergutachten“ zu dokumentieren und dem jeweiligen Parlament vorzuschlagen.

Ich war Teilnehmer einer solchen Veranstaltung auf Kreisebene und war überrascht, wie konkret und ernsthaft die (ehrenamtlichen) Bürger ihre Aufgabe wahrgenommen haben. Gegenüber Umfragen hat dieses Verfahren den Vorteil, dass nicht schlecht informierte Meinungen vervielfältigt, sondern gut informierte, ausdiskutierte und vielfach begründete Meinungen zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden. Das Verfahren hat den schrecklichen Namen „deliberativer Partizipationsprozess“, der von Prof. Peter Dienel (Universität Wuppertal) in den 1970iger Jahren formuliert und auch erfolgreich angewendet wurde.

Weiter bleibt die Frage, warum von staatlicher Seite nicht eine Verstärkung (etwas moderner: ein Empowerment) der Volkshochschulen erfolgt. Es reicht nicht, schlaue Bücher zu schreiben, die hoffentlich von der Politik gelesen werden (hier habe ich meine Zweifel). Der WBGU müsste in die Lage versetzt werden, Information und Bildung auf dem Felde der Transformation unter die „Leute“ zu tragen. Ich denke da auch an die Bundeszentrale für politische Bildung, die diese Aufgabe mit Vorträgen und verständlich gehaltenem Print-Material noch mehr unterstützen könnte.

Zum Schluss drängt sich natürlich die Frage auf, ob unser „Führungspersonal“ auf diese neuen Aufgaben ausreichend vorbereitet ist? Der gestaltende Staat braucht sicher auch Moderatoren, aber Moderation allein ist zu wenig. Es braucht Mut, Schwung, Zuversicht, Perspektive und ein gewisses Maß an intellektueller (und parteipolitischer) Unabhängigkeit, um neue Wege zu gehen. Viele unserer Politiker weisen einen Werdegang auf, der eher einer Ochsentour als einem „Weg zum Lichte“ gleicht. Die Ochsentour macht den Politiker angreifbar: wer viele Jahre in dem Politikbetrieb gearbeitet hat, gleicht oft einem Kieselstein – alle Ecken und Kanten sind abgeschliffen. Und plötzlich soll dieser jahrelang auf Moderation getrimmte „Kieselstein“ auch noch innovative Gestaltungsideen entwickeln? Wie soll das gehen? Hierzu schweigt auch das Gutachten der WBGU bei all den sonst so weitreichenden Überlegungen. Wo nehmen wir das passende Personal her? Die anstehenden Gestaltungsaufgaben sind umfassend und sehr komplex. Wie wäre es, hier temporär Fachkräfte oder Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft mit den Gestaltungsaufgaben zu betrauen bis eine neue Generation von Politikern herangebildet wurde, die sich auch erfolgreich auf den gestaltenden Staat als Handlungsmuster einzustellen versteht?

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Sind erweiterte politische Strukturen notwendig?

Wir müssen beobachten, dass die Idee der Demokratie immer häufiger von Autokraten in Frage gestellt bzw. unterlaufen wird. Dabei keimt der Verdacht auf, dass vielleicht gar nicht die Idee der Demokratie in Frage steht, sondern die Frage, wie Demokratie heute gelebt wird.

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Spiegelt das, was wir als politische Führung konkret erleben, den Gedanken einer „Herrschaft des Volkes“ angemessen wieder? Oder anders gefasst: die Welt verändert sich, müssen sich nicht auch die politischen Strukturen einer Demokratie daran anpassen? Dabei wäre eine Anpassung in Richtung auf die Autokraten grundverkehrt!

Der „Souverän“ soll durch das Parlament repräsentiert werden. Kann das Parlament diese Aufgabe leisten? Wir wählen zwar das Parlament, aber hat das Gremium den Wähler bzw. den „Bürger“ noch im Fokus, oder geht es bei der Diskussion dieses Gremiums nur noch um die Metaebene der sogenannten Marktgesellschaft, bei der die Mitglieder des Parlaments gebannt auf den Markt starren, ihre sozialen Erkenntnisse aus statistischen Durchschnittswerten beziehen, und ihre Maßnahmen aus einem ideologisch fehlerhaften Wirtschaftsverständnis herleiten. Mit den Belangen eines „Bürgers“ wissen die ‚Herrschaften‘ wenig anzufangen: Man diskutiert über Konsumenten, über Verbraucher, über prekäre Verhältnisse, über die Mobilität der Arbeitnehmer und glaubt damit die Lebensrealität der Bürgers erfassen zu können. Weiter glaubt man, dass die Interessen der Bürger durch das perfide Zusammenspiel der Lobbyisten mit ihren selektiven Informationsbereitstellungen und fragwürdigen „Handreichungen“ irgendwo ausreichend Berücksichtigung finden werden. Ich kann mich dieser Auffassung nicht anschließen.

Die Grundlage der Demokratie ist nicht der Verbraucher, ist nicht der Konsument, der Arbeitnehmer, der Unternehmer, der Kapitalanleger, sondern schlicht und einfach der Bürger. Hat unser Parlament noch einen Zugang zum Bürger? Er ist derjenige, der sie wählen soll. Wenn der Gedanke des Bürgers aber nur noch in der Verfassung Erwähnung findet und bei Wahlen strapaziert wird, reicht es nicht aus, dass sich das Wahlvolk mit dieser Demokratie identifizieren kann. Rund 25% der potenziellen Wähler nimmt das Angebot gar nicht mehr an. Da sind die Personen (über 13% der Bevölkerung) schon abgezogen, die aufgrund ihres Alters noch nicht wählen dürfen.

Wir laborieren seit mehreren Legislaturperioden an einer Parlamentsreform herum und die Egoismen der Parteien lassen eine praktikable Einigung nicht zu. Der interne und externe Lobbyismus ist zwischenzeitlich m. E. zu einer Geißel des Parlamentarismus geworden. Eine Vielzahl von Abgeordneten dienen zwei oder mehr Herren, einmal dem Souverän, der sie in die parlamentarische Funktion hebt, sie bezahlt und ihnen den notwendigen Einfluss ermöglicht und dann dient man noch als Lobbyist diversen Verbänden und Einrichtungen. Oder man ist „Unternehmer“, wie es der Abgeordnete Sauter anlässlich seiner Maskenprovisionen verlauten ließ. Als ob Moral teilbar wäre – als Abgeordneter spielt er den Moralapostel oder sollte zumindest Vorbild sein, um dann im Hinterzimmern genau das zu praktizieren, was ein verheerendes Licht auf die Funktion der „Unternehmer“ wirft. Der „Augiasstall“ muss mit einem eisernen Besen ausgemistet werden. Viele Bürger (und auch ich) trauen dieses Aufräumen aus eigener Kraft den Parteien nach all den Jahren nicht mehr zu.

Lobbyismus in eigener Sache

Gibt es eine Alternative? Ich denke ja! Dabei muss man das System des Lobbyismus mit seinen eigenen Methoden „schlagen“. Nicht, indem man sich der Seuche als Don Quichote entgegenstellt, sondern indem den Bürgern (und nicht dem Verbraucher, Konsument, Arbeitsnehmer u.s.w.) die rechtliche Möglichkeit gegeben wird, „Lobbyismus in eigener Sache“ zu betreiben. Wie geht das? Ich beziehe mich hier auf einen Beitrag von ARTE 42 mit dem Titel: „Sollten wir losen statt wählen?“[1], der eine Idee aus den 1970iger Jahren von Peter Dienel unter dem Namen „Die Planungszelle“ aufgreift und deren erfolgreiche Entwicklung bis in unsere Gegenwart verfolgt.

Der Kerngedanke dieses Ansatzes richtet sich gegen den Anspruch des Parlaments den Bürger oder das „Volk“ wirklich zu repräsentieren. Die Mehrzahl der Abgeordneten repräsentieren alles Mögliche, aber den Wähler und Bürger nur marginal. Eben gerade so viel, wie nötig ist, um noch von einer Repräsentation sprechen zu können. Das liegt auch daran, dass die Abgeordneten einer tausendfachen ständigen Einflussnahme durch die Lobbyisten ausgesetzt sind. Diese „Büchse der Pandora“ können wir m.E. nicht mehr schließen. Wer sollte es denn tun? Diejenigen, die dies qua Gesetz tun könnten, würden sich von ihren Pfründen abschneiden. Das wäre wohl ein zu hoher Anspruch. Wir müssen also den Weg des geringeren Widerstandes gehen.

Gesetzt den Fall, das Parlament oder die Regierung benötigt zu einem wichtigen politischen Gesichtspunkt ein reales Bild der Bürgerschaft, das nicht durch Medien oder seichte Umfragen konstruiert wird. Durch ein Zufallsverfahren (also per Los) werden z.B. 100 Bürger ausgewählt, die die Schichtung der Bürger in diesem Lande ziemlich präzise abbildet. Diese 100 „Auserwählten“ treffen sich real (Auge in Auge) an einem zentralen Ort, werden zuerst über alle Aspekte der Fragestellung umfassend informiert und setzen sich danach zusammen, diskutieren in wechselnden Kleingruppen ihre Erkenntnisse, um daraus mit fachlicher Unterstützung ein sogenanntes „Bürgergutachten“ zu erstellen, das öffentlich zugänglich sein muss.

Die Öffentlichkeit des Prozesses macht den gravierenden Unterschied zum professionellen Lobbyismus der Hinterzimmer und der besonderen Netzwerke aus. Dieses Gutachten müsste zudem Priorität vor allen anderen Lobbybeiträgen haben und das Parlament als auch die Regierungen von Bund und Land werden per Gesetz verpflichtet, öffentlich darüber zu beraten und müssen dazu dezidiert mündlich und schriftlich Stellung nehmen.

Wenn wir nun von einer Regierung ausgehen müssten, die diese unliebsame „Einmischung“ der Bürger gerne so gering als möglich halten möchte, so muss es möglich sein, dass auf Antrag von einer ausreichenden Anzahl von Bürgern die Legislative verpflichtet werden kann, hierzu ein Bürgergutachten einzuholen. Es ist ein ähnliches Verfahren wie beim Bürgerentscheid.

Kritisch bleiben die Informationsveranstaltungen, die die „Auserwählten“ sachlich auf Ballhöhe bringen sollen. Es muss sichergestellt werden, dass alle Beteiligten den gleichen Sachstand haben. Hier gibt es ein Einfallstor für Manipulationen. Da die Möglichkeit erfahrungsgemäß auch („gnadenlos“) genutzt werden wird, muss das ganze Verfahren öffentlich vonstattengehen und es muss gezielt auf Neutralität geachtet werden. Das Interesse zur Einflussnahme von Dritter Seite besteht schon deshalb, weil hinsichtlich der professionellen Lobbyisten keine Waffengleichheit besteht. Die „Auserwählten“ finden in jedem Fall das Ohr der Entscheider. Wenn es den professionellen Lobbyisten gelänge, hier „einzugrätschen“, wären die Folgen für das Ergebnis des Prozesses absolut kontraproduktiv.

Wissen oder Mehrheit

In der Pandemie ist ein politisches Dilemma offen zu Tage getreten: Folgt die Politik den wenigen, die wissen oder jenen vielen, die nicht wissen, aber die Mehrheit darstellen. Das Dilemma kann man als das Kernproblem politisch-demokratischer Führung nennen, weil Wahlen i.d.R. nicht durch Wissen sondern durch Mehrheiten entschieden werden. Und die Politik neigt aus Selbsterhaltungsgründen dazu, sich auf die Seite der Mehrheit zu schlagen, was insbesondere bei existenziellen Fragestellung (wie gegenwärtig die Bekämpfung der Pandemie oder künftig bei der Transformation der Gesellschaft zur Nachhaltigkeit) i.d.R. zu sachlich falschen Entscheidungen führt oder führen wird.

Politik ist machtverknüpft. Wenn die Macht fehlt, ist auch die Politik nicht mehr handlungsfähig. Deshalb liebäugelt sie immer mit der Macht der Mehrheit. Es war erfreulich, bei der letzten Wahl festzustellen, dass dieses alte Schema: „Weiter so“ offenbar seine Wirkmächtigkeit verloren hat und der Bürger sich mehrheitlich darüber im Klaren wurde, dass das keine wirkliche Alternative mehr darstellt. Das waren die Bürger und nicht die Verbrauer, Konsumenten, Arbeitsnehmer, u.s.w., denn wenn sie auf diese schmalspurige Identität reduziert werden könnten, hätten sie das „Weiter so“ wohl mehrheitlich akzeptiert.

Wenn der Bürger als Ganzes eben doch ein wesentlicher Faktor in der Politik geblieben ist, wäre die nächste Frage, wie man im Rahmen von schwierigen politischen Führungssituationen auf die Stimmung und Meinungen (und mehr ist es leider bei Wahlen nicht) erfolgreich Einfluss nehmen kann ohne dass Institutionen wie ‚Analytica‘ sowie Werbe- und Marketingagenturen die Köpfe der Mehrheit durch Manipulation und psychologische „Kriegsführung“ zu etwas bewegen können (denken Sie an „Brexit“ oder „Trump“), das im Grunde mittel- und langfristig zu ihrem Nachteil sein wird. Die Lösung sehe ich in dem Instrument des „Lobbyismus des Bürgers in eigener Sache“ (siehe oben) bzw. in der Umsetzung der Idee der Planzellen (Peter Dienel) und deren Weiterentwicklungen.

Die schwierigen Fragen werden einem wechselnden (ausgelosten) Bürgergremium vorgelegt, es werden die notwendigen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgetragen und dieses (ausgeloste) Gremium arbeitet ein Bürgergutachten aus, dass dann in den Medien (z.B. Fernsehen) publikumswirksam zur Diskussion gestellt wird. Es können durchaus mehrere parallele Veranstaltungen zu unterschiedlichen Fragen stattfinden, aber bitte keine Überforderung des Spaßpotenzials. Dann wird es wieder fad.

Die Veranstaltungen müssen professionell geführt werden und den Zuschauer durch Spannung gefangen nehmen. Damit wird auch den klassischen Manipulationen der Boden entzogen. Es wird schwer werden, gegen die Macht des Bürgerlobbyismus, der den Sachverhalt und die notwendigen Entscheidungen in einfacher Sprache so darstellt, dass Wissen und Knowhow der Zuschauer aus der Diskussion erwächst und sich dadurch eine zureichende „Urteilskraft“ (Kant) bei einer Vielzahl von Wählern einstellt. Je mehr „Urteilskraft“ erzielt wird, desto weniger fallen die Bürger auf die manipulativen „dummen Sprüche“ der Gegenseite herein. Der Begriff “Urteilskraft“ ist nicht zu verwechseln mit „Urteilsfähigkeit“. Fähigkeit ist die Möglichkeit zur Erkenntnis, Urteilskraft geht darüber hinaus und bezieht konkret auch die Fähigkeit zur Umsetzung ein.

Angesichts der großen Aufgabe, unsere Gesellschaft und Wirtschaft zur Nachhaltigkeit zu führen, ist es ganz wichtig, eine offene Kommunikation mit den Bürgern zu suchen. Der Kreis der wechselnden „Auserwählten“ (die jeweils ausgelosten Bürger) kann dabei den Nukleus bilden, um daraus einen ständigen und interessanten Austausch zwischen dem „Wissen“ und dem „Meinen“ und letztlich auch „Wählen“ herzustellen. Nur so kann es eine Chance geben, einen Großteil der Nicht-Beteiligten zu erreichen und mitnehmen zu können und die unvermeidlich „uninformierten Meinungsträger“ in Grenzen zu halten.


[1]  https://www.arte.tv/de/videos/101941-006-A/42-die-antwort-auf-fast-alles/  (aufgerufen 24.11.2021)

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Oeconomia – ein ungewöhnlicher Beitrag

3Sat hat am 8.11. einen bemerkenswerten Beitrag gesendet. Das Besondere daran ist, dass Carmen Losmann, die Autorin, nicht den üblichen Gedankengängen der Volkswirtschaftslehre nachspürt, sondern aus einigen wenigen Beobachtungen einfache und nachvollziehbare Fragen aufwirft, und dann versucht, die Antwort auf diese Fragen aus der Mitte der Wirtschaft zu erhalten. Dabei gibt es im Hintergrund einen Kommentator, der die Fragen und Antworten etwas lenkt und interpretiert; zum Ende hin wird auch eine Wertung abgegeben.

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Das für mich Faszinierende an dem Beitrag ist die Tatsache, dass Frau Losmann ein Modell präsentiert, dass die Aussicht hat, die Realität deutlich besser abzubilden als es die klassischen Gleichgewichtsmodelle der Makroökonomie können. Wenn wir andauernd von Wachstum sprechen, sprechen wir immer über Veränderung. Da fällt das Ziel eines Gleichgewichts einfach aus der Zeit.

Die Hypothesen, die der Beitrag zur Diskussion stellt, bilden ein vorläufiges Modell der Erklärung, warum Wachstum geschieht und welche Treiber letztlich Wachstum auslösen. Wenn man diese Zusammenhänge versteht und plausibel machen kann, so ergibt sich erstmals die Chance, sich ernsthaft zu fragen, wo müssen wir angreifen, um eine ökologisch tragfähige Transformation einleiten zu können ohne im Chaos zu landen. Hier wurde ein Stück Theorie geleistet, das ich von der offiziellen Ökonomie erwartet hätte.

Frau Carmen Losmann hat gewagt, sich außerhalb der Ökonomie ein Bild zu machen und hat nebenbei gezeigt, dass wir nur bedingt auf die Vertreter der Big Player in diesem Prozess rechnen können. Es wurde deutlich, dass die Hirne dieser Klientel in Mehrzahl der herrschenden Ideologie verfallen sind. Sie hat aus ihren Erkenntnissen ein schlüssiges Narrativ gestrickt, das im ersten Schritt einfach versucht, die Zusammenhänge frei von den üblichen Annahmen zu beschreiben und zu verstehen.

Ausgangspunkt ihrer Recherche waren die Zahlen zur Höhe des Privatvermögens und zur Höhe der staatlichen Verschuldung. Beide „Bestände“ sind in den letzten Jahrzehnten fast explosionsartig gewachsen. Und beide Bestände sind auch in etwa gleich groß. Und Carmen Losmann wirft die Frage auf: Gibt es da einen begründbaren Zusammenhang?

Die Ausführungen sind nicht quantifiziert. Bisher liegt nur eine m.E. gut begründete Argumentationskette (Narrativ) vor. Die Ausführungen beginnen mit der Finanzierung (als künftige Verschuldung) geplanter Investitionen und der Transmissionsriemen zum Privatvermögen (als Gegenpol) ist in ihrer Darstellung das Wachstum. Wachstum messen wir über die Veränderung des Bruttoinlandsproduktes und erfassen damit indirekt die Entstehung von Einkommen (Privatvermögen). Wichtig erscheint dabei, dass Frau Losmanns Beitrag die Geldmenge als ein wesentliches Element in das makroökonomische Narrativ einführt. Geld spielt in den mir bekannten makroökonomischen Lehrbuchmeinungen (die sind schon etwas in die Jahre gekommen) keine Rolle. Es gibt parallel wohl eine Geldtheorie, die sich seit meiner Studienzeit stark verändert haben dürfte, weil sich auch das Geld-Verständnis nach Bretton Woods (mit Aufgabe des Goldstandards) grundlegend veränderte.

Erklärend ist ohne Frage die Aussage, dass das bestehende Geld-System nur auf Vertrauen beruht; es ist eine Abmachung zwischen den Betroffenen. Seit den 1990iger Jahren wurde dann in einem weiteren Schritt die Geldschöpfung, die bisher ausschließlich bei den Zentralbanken lag, im Rahmen des Neoliberalismus auf die Geschäftsbanken übertragen. Das gilt in der Masse für die privaten Geschäftskredite, die bei Kreditaufnahme die Geldmenge erhöhen und bei kompletter Tilgung wieder aus der Geldmenge ausscheiden. Bei der öffentlichen Verschuldung werden Staatsanleihen vom Staat ausgegeben, die von Banken übernommen und dem Kapitalmarkt zugeführt werden. Diese Schulden werden in der Regel prolongiert, aber nur selten getilgt. Sie stellen also den wesentlichen Teil der jeweils bestehenden Geldmenge dar. Aufgrund dieser Entwicklung wird in dem Beitrag die m.E. richtige Aussage getroffen, dass der Staat insoweit als „Vermögensquelle“ angesehen werden kann.

Das steht im eklatanten Widerspruch zu dem in der Politik gehegten Narrativ, dass Staatsschulden etwas Negatives sein sollen. Wir haben die Regel der schwarzen Null eingeführt und sind offensichtlich ganz stolz darauf. Die schwarze Null bedeutet aber, dass gegenwärtig nur in Ausnahmefällen neue Staatsschulden aufgebaut werden dürfen. Wenn die Staatsschulden als „Vermögensquelle“ ausfallen, müssen die Privaten dafür einstehen, was ganz entscheidend den Vermögens-Status des privaten Sektors negativ treffen würde. Wenn die Privaten die Geldmengenlücke nicht ausfüllen können (oder wollen), sinkt die Geldmenge und es ist erwarten, dass so wie die Geldmengenausweitung Wachstum schafft, ein Rückgang der Geldmenge ein Schrumpfen des Bruttoinlandsproduktes auslösen wird.

Gegen Ende des Beitrags fasst der Kommentator seine Aussagen zusammen und kommt zu klaren Wertungen. (Die folgenden Ausführungen sind eine eigene Mitschrift dieser Ausführungen, ab 1:12 h[1]):

Im Zentrum des Kapitalismus steht die fortlaufende Kapitalmehrung. Wenn das Kapital mehr wird, muss die Geldmenge ausgeweitet werden. Deshalb braucht sie immer neue Investitionsmöglichkeiten. Das Problem dabei ist: Investiert und reinvestiert wird nur in profitorientierte Unternehmungen. Beispiel: Sie wollen ein Stück Wald kaufen. Wenn sie vorhaben, ihn einfach in Ruhe zu lassen, bekommen sie dafür keine Finanzierung. Es gibt nur dann eine Finanzierung, wenn sie den Wald „bewirtschaften“, d.h. dass sie zumindest Teile des Waldes abholzen und das Holz zu Geld machen. Solange der Wald vorhanden ist, scheint die Logik des Profits völlig unproblematisch. Aber das Ganze stößt irgendwann an Grenzen.

Aktuell befinden wir uns in einer zwiespältigen Situation:  wer kollabiert zuerst – unser Ökosystem Erde oder der Kapitalismus, der ein bisher nie erreichtes Spannungsfeld zwischen Vermögen und Verschuldung aufgebaut hat. (Anmerkung VF: Das ist nur die eine Seite. Zwar schafft offensichtlich immer mehr Verschuldung via Wachstum privates Vermögen, aber wo führt das hin? Eine Verschuldung kann möglicherweise weiteres Wachstum schaffen, aber wir untergraben durch weiteres Wachstum die Lebensgrundlagen dieses Planeten. Der Pimco-Vertreter sieht uns hinsichtlich der Verschuldungsproblematik in der „zweiten Halbzeit“, aber noch nicht im letzten Viertel unserer „Spielzeit“.)

Jeder, der genauer hinschaut, merkt, dass es nicht richtig funktioniert. Es ist ein Glaubensgebäude. Man steckt in dem System drin, es ist nicht logisch, man muss nur irgendwie weiter funktionieren.

Es hat sich die Idee durchgesetzt, dass sich Staaten am Kapitalmerkt verschulden sollen. Damit sind Staaten dem Willen  und der Bewertung privater Kapitalgeber unterworfen und die Staaten sind damit genötigt, Wirtschaftswachstum zu fördern, um damit ihre Steuereinnahmen zu erhöhen oder Staatseigentum zu privatisieren, wenn die Schulden zu hoch sind. Das hat zu der Situation geführt, in der wir heute sind. Nämlich, dass viele (öffentliche ) Projekte nicht mehr finanzierbar sind, einfach, weil sie nicht mit den Renditeerwartungen privater Kapitalgeber übereinstimmen. Das könnte z.B. die Bekämpfung von hohen >Arbeitslosenzahlen betreffen oder ausreichend Geld für Bildung, für Pflege, für Infrastruktur, nicht zuletzt die Transformation in Richtung einer ökologisch tragfähigen Wirtschaft: Leider nicht finanzierbar, weil unrentabel!

Wenn es nicht mehr der Staat ist, der Schulden macht, weil die Kapitalgeber eine „schwarze Null“ bevorzugen und die Staatsausgaben in Folge dessen gesenkt werden, dann müssen z.B. die privaten Haushalte einspringen und die Schulden übernehmen, z.B. für die Ausbildung ihrer Kinder, die nicht mehr vom Staat finanziert wird, oder durch höhere Mieten, weil staatlich (geförderter) Wohnraum privatisiert wurde.

Wäre es da nicht sinnvoller, wir als Staat übernehmen diese Schulden direkt und machen uns so von den privaten Kapitalgebern unabhängig?

Demokratische Regierungen können also nicht mehr frei entscheiden, was sie finanzieren, sondern, sie können nur in ihren Haushaltsentwürfen vorschlagen, was sie finanzieren möchten und dann müssen private Kapitalgeber dem zustimmen. Und deshalb ist es eine hochbrisante politische Frage: Sollten wir als demokratische Gesellschaft nicht selbst entscheiden, welche Ausgaben wir für sinnvoll  finden. Und dann erzeugt (schöpft) der Staat einfach das Geld für diese Ausgaben? Wieso sollten wir als Staaten nicht das gleiche Privileg haben wie gewinnorientierte private Banken.

Frage aus dem Off: Wie soll das insgesamt weitergehen?“ (die Antwort bleibt letztlich offen)

Konsequenzen

Soweit der Beitrag „Oeconomia“ mit der Versuch, die Treiber unserer Wirtschaftsform im Zusammenhang zu beschreiben. Es wird durch diese Form der Beschreibung klar, dass wir uns auf einen unkalkulierbaren Endpunkt zu bewegen. Die Verschuldung muss irgendwann ihr Ende finden und damit fällt der wesentliche Treiber des Wachstums aus, der in der Geldmenge identifiziert wurde. In der anstehenden Transformation unseres Wirtschaftssystems geht es darum, den Endpunkt erst gar nicht zu erreichen und vorher (und zwar möglichst rasch) eine Ausweg aus der sich abzeichnenden Sackgasse zu finden.

Der Fernsehbeitrag macht m.E. deutlich, dass das alles bestimmende Moment im Begriff der Rendite konzentriert ist. Dabei ist Rendite durch den simplen Quotienten von Ertrag zu eingesetztem Kapital bestimmt. Trifft die Rendite nicht die Erwartungen, so sind wir i.d.R. geneigt zu akzeptieren, dass das geplante Projekt auch nicht realisiert wird. Wichtig ist dabei, dass dieser Punkt ganz am Anfang jedes wirtschaftlichen Prozesses beurteilt wird, zu einem Zeitpunkt, an dem außer ein paar erklärende Skizzen noch keine weiteren Entscheidungen gefallen sind. Jeder spätere Zeitpunkt erhöht die Komplexität dramatisch und macht die Suche nach Alternativen schwierig und teuer.

Die oben als Kriterium angeführte „Rendite“ ist eine ausschließlich durch die Ökonomie geprägte Kennzahl. Andere Kriterien kennt der Renditebegriff nicht. Angesichts der Probleme, die uns die Ökonomie hinsichtlich unserer Zukunft bereitet, wäre es logisch, den engen monetären Renditebegriff der Ökonomie in Sinne eines Denkens in Kreisläufen mit dem Ziel der Nachhaltigkeit zu erweitern. Dieser erweiterte Renditebegriff kommt aber nicht von selber. Er muss durch „Leitplanken“ politisch definiert und begründet werden.

Ein einfaches fiktives Beispiel: Ein Investor will ein Bauobjekt realisieren. Seine klassische  Rentabilitätsrechnung lässt ihn auf eine „angemessene“ Rendite hoffen. Es ist aber zuvor ein etwa gleichgroßer alter Baukörper abzureißen. Die Abrisskosten sind in seiner Rentabilitätsrechnung erfasst.

Im Rahmen eines erweiterten Rentabilitätsbegriffs müsste man sich jetzt u.a. die Frage stellen, ob das Projekt auch die Rahmenbedingungen einer Nachhaltigkeit erfüllt. Dabei muss man davon ausgehen, dass der abzureißende Altbau bei seiner Errichtung CO2 freigesetzt hat. Auf dem Gebäude ruhen je nach umbautem Raum viele tausend Tonnen CO2, die man sinnvollerweise über die gesamte ehemals geplante Lebensdauer des Altbaus verteilen müsste. Ein vorzeitiger Abriss hätte zur Folge, dass das restliche CO2-Paket, das mit der Restlebensdauer des Altbaus verbunden, dem Neubau zuzuschlagen wäre. Diese CO2-Belastung würde den Neubau erheblich belasten, vorausgesetzt, die CO2 – Bilanz wäre Teil der öffentlichen Beurteilung des geplanten Bauprojektes und der CO2-Verbrauch würde sich dann z.B. kostenpflichtig in den Baukosten wiederfinden.

Eine denkbare Alternative wäre die Grundsanierung des Altbaus. Das CO2-Paket des Altbaus könnte jetzt auf die CO2-Bilanz der Grundsanierung angerechnet und der damit unvermeidbar verbunden CO2-Freisetzung z.B. gutgeschrieben werden. Damit könnte dem „Ex und Hopp“ vieler Investoren ein Riegel vorgeschoben werden.

Das Bauen wird sich dadurch ändern. Wenn die Grundstrukturen von Gebäuden auf Langfristigkeit ausgelegt werden, rücken Sanierungen auf die vorderen Plätze, weil sinnvoll und zweckmäßig.

Damit kommen wir zu einem weiteren Aspekt der Erweiterung des Renditebegriffs. Wir müssen dem Kapitalismus die Langfristigkeit vermitteln. Das oben angesprochene „Ex und Hopp“ muss ein Ende haben. Neben die Mindest-Lebensdauer für Gütern einer bestimmten Preisklasse muss die einfache Reparaturfähigkeit der Güter treten. Das hätte zur Folge, dass der Produzent nicht nur ein Produkt verkaufen, sondern auch regelmäßig Ersatzteile bereitstellen müsste. Der Wettbewerb geht nicht mehr um die niedrigsten Verkaufspreis (um das Verramschen), sondern wird auf das ganze Paket erweitert (Produkt, Reparaturfähigkeit und Ersatzteilgarantie). In der Gestaltung sind der Phantasie des Marktes kaum Grenzen gesetzt. Dadurch, dass die Produktleistung, die Reparaturanfälligkeit und die Ersatzteile zu einem Paket geschnürt werden, wird dann auch offensichtlich, was wirklich preisgünstig und im Sinne der Kunden ein klarer Vorteil ist.

Schwieriger erscheint mir der Fall des Recyclings. Der Begriff Recycling ist m.E. irreführend, bisher werden keine 20 % des Mülls recycled. Wir verwalten den Müll (und ersticken daran), in der Hoffnung, dass wir irgendwann mal eine technische Lösung für das Müllproblem finden, die es m.E. realistisch nicht gibt. Müll ist eine Folge unseres Lebensstils. Alles was in unser Wirtschaftssystem als „nutzlos geworden“ ausscheidet, bildet den gewaltigen Strom des Mülls. Müllverwaltung (das Wort Entsorgung geht mir nur schwer von den Lippen) ist von ihrer Masse her der größte Industriezweig in Deutschland, weil hier alle materiellen „Exkremente“ (Systemausscheidungen) zusammenlaufen. Durch die vielgestaltige Struktur und Abhängigkeiten ist die Branche aus meiner Sicht hochgradig intransparent.

Wir müssen Müll bei seiner Entstehung vermeiden und nicht erst dann, wenn er alle Stufen der „Verdauung“ des Wirtschaftssystems (Konsumtion) durchlaufen hat. Dann ist es zu spät und der Prozess ist auch nicht mehr gestaltbar.

Diese wenige Beispiele sollen den Gedanken vermitteln, dass im Rahmen der Transformation nicht unbedingt in den Wirtschaftskreislauf unmittelbar eingriffen werden muss. Es muss nur klar sein, welche erweiterten Renditevorstellungen künftig allgemein verbindlich gelten sollen. Hierzu muss  – so schwierig es ist – der Begriff der Nachhaltigkeit in vorerst groben Strukturen und mit seinen unstrittigen Grundelementen operationalisiert werden. Das wird nicht auf den ersten Wurf reibungslos funktionieren. Aber wir müssen die Lernkurve erst einmal Realität werden lassen und dann über die Jahre immer besser feinjustieren.


[1]  https://www.3sat.de/film/dokumentarfilmzeit/oeconomia-100.html  (bis 7.2.2022)

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Preissteigerungen oder Inflation – was gilt?

Die Feststellung, dass wir erhebliche Preissteigerungen zu verzeichnen haben, ist Tatsache. Ob es sich dabei um ein Phänomen der Inflation oder nur um Kostenüberwälzungen handelt, ist nicht immer eindeutig zu erkennen. Prinzipiell wäre die Unterscheidung nicht so wichtig, wenn nicht mit dem Begriff der Inflation Konnotationen verbunden wären, die bei einer Reihe von Menschen Zukunftsängste auslösen. Da sollte man sich dann fragen, was bezweckt ggfs. der Verwender des Inflations-Begriffs damit?

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Die beobachteten Preissteigerungen haben unterschiedliche Gründe, die nur teilweise mit dem Sachverhalt, den wir mit Inflation bezeichnen, übereinstimmen. Inflation liegt dann vor, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. Das ist z.B. auf dem Wohnungsmarkt der Fall, auch auf dem Obst- und Gemüsemarkt. Im Fall der Energiekosten (fossiler Brennstoffe wie Kraftstoff, Öl, Gas) ist das schon komplizierter. Was ist fehlendes Angebot und was ist Überwälzung von Kosten? Wir haben es bei den Energiekosten mit oligopolistischen Strukturen zu tun. Da ist das simple Modell einer Inflation auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage im Rahmen eines Marktes fragwürdig.

Unser Land verfügt nur in geringem Maße (mit Ausnahme der Kohle) über fossile Energieträger. Wir müssen zu einen hohen Prozentsatz die Basis unseres gegenwärtigen Energieverbrauchs aus dem Ausland importieren. Gleichzeitig unternehmen wir erhebliche Anstrengungen, von der Abhängigkeit von Importen freizukommen, indem wir uns verstärkt auf die Produktion von erneuerbaren Energien konzentrieren. Dabei müssen wir uns von der einseitig nationalen Sicht der Zusammenhänge lösen: Als Land versuchen wir uns von den fossilen Energieträgern unabhängig zu machen. Wir sind dabei aus der Sicht der Erdöl- und Erdgasproduzenten höchst fragwürdige Kunden, die mittelfristig, wenn die eingeleiteten Schritte zur erneuerbaren Energie erfolgreich sind, gegen die wirtschaftlichen Interessen dieser Produzenten arbeiten. Wir können nicht erwarten, dass die Produzenten diesen (aus unserer Sicht zweifelsohne sinnvollen) Schritt klaglos hinnehmen. Sie werden auf jede Maßnahme unsererseits mit einer Maßnahme reagieren, die zu mindestens temporär dafür sorgt, dass ihre Interessen gewahrt bleiben. Im Grunde arbeiten wir am ‚Untergang‘ ihres in der Vergangenheit sehr erfolgreichen Geschäftsmodells und wir können nicht erwarten, dass sie das erfreut zur Kenntnis nehmen. Zumal sie oftmals wenig wirtschaftliche Alternativen haben. (Doch das ist ein Kapitel für sich.)

Eine engere Zusammenarbeit der EU-Länder in Fragen der Energiepolitik, so die neuesten Nachrichten, wird von vielen Stellen und manchen Staaten in der EU abgelehnt. Als Begründung wird ein ziemlich ausgeleiertes neoliberales Argument verwendet, man (die Politik) dürfe nicht in den Markt eingreifen! Wo, bitte schön, ist in diesem System der Oligopole so etwas wie ein Markt im klassischen Sinne. Klar, es erfolgt ein Austausch von Energieträgergütern, aber nicht jeder Austausch ist dann gleich ein Markt. Hier herrschen Monopole, Oligopole und Staatswirtschaften, deren Einfluss sich entscheidend nach der Macht der einzelnen Teilsysteme richtet. Wenn man nicht sinnvollere Argumente einzuwenden hat, sollte man sich erst gar nicht zu Wort melden.

Eine Reihe von veröffentlichten Äußerungen versuchen, bei den Preissteigerungen den schwarzen Peter den CO2-Zertifikaten zu zuschieben. Sie seien wesentlich verantwortlich für die Preiserhöhung auf dem Energiesektor. Da dieses System noch mit sehr moderaten Preisen arbeitet und der geplante CO2-Verbrauchsdeckel m.W. noch gar nicht zur Anwendung kommt, ist das ein Versuch, den Zorn der Massen auf dieses von allen Seiten der Wissenschaft unterstützte System zu lenken. Es ist doch nachvollziehbar, dass wir (ohne Verbote) eine Reduzierung der Verwendung von fossiler Energie nur dann erreichen, wenn der diesbezügliche Kostendruck für die Unternehmen steigt. Und es ist absehbar, dass die Unternehmen diesen Kostendruck auf ihre Abnehmer überwälzen. D. h. es muss Preissteigerungen geben, damit das Klimaziel nicht aus den Augen verloren wird.

Die andere Frage ist, was mit dem aus dem Verkauf der Zertifikate eingenommenen Geld geschieht. Es ist m.E. noch immer nicht klar, wo das Geld gesammelt wird. Es ist auch noch nicht klar, für was das angesammelte „Kapital“ Verwendung finden soll und wer bestimmen wird, was mit dem Geld geschieht. Wer kontrolliert das System? Immer dann, wenn sich große Geldmengen kumulieren, sind oft ganz schnell Figuren zur Stelle, die sich an diesen Geldern bereichern oder über die Gelder Einfluss nehmen. Denken sie an die FIFA, denken sie an die Vergabe von millionenschweren Großveranstaltungen, denken sie an die Formel 1 mit Herrn Ecclestone – das Spiel hat schon System. Umso wichtiger ist es, diese Gelder einer strikten Transparenz und Kontrolle zu unterwerfen.

Unser Land steht aufgrund der Veränderungen durch die Klimakrise vor gewaltigen Infrastrukturinvestitionen. Konkret heißt das, das zu dem Rückstau von Infrastrukturmaßnahmen der vergangenen Jahre noch zusätzlich Infrastrukturaufgaben hinzukommen. Und nun denken Sie bitte an die lockere Haltung von Olaf Scholz, dass man aufgrund der klientelpolitischen Zusage der FDP keine Steuererhöhungen machen könne. Angesichts der zunehmenden Zertifikat-Gelder kann ich die entspannte Haltung gut nachvollziehen. Das, was man über Steuern finanzieren wollte (und natürlich auch müsste), wird jetzt über die einlaufenden Gelder aus dem Zertifikatehandel finanziert. Der Topf steht ja zur Verfügung und er wird wachsen, sobald der CO2-Deckel, dessen Anwendung m.E. die EU definiert, gesenkt wird. Es ist sogar zu erwarten, dass dann durch die Verknappung der Zertifikate (insbesondere aufgrund des Deckels) deren Preis deutlich über die gesetzliche Vorgabe hinaus “schwappen“ wird.

Das ist die Finanzierungsseite. Preissteigerungen, wie wir sie gegenwärtig sektorial erleben, treffen auf Menschen, deren Einkommen sich nicht im gleichen Maße erhöhen. Neben der sozialen Unwucht nimmt natürlich auch die Massenkaufkraft durch diese Preissteigerungen ab. Und das wird die Politiker (nach meiner Erfahrung) viel nachhaltiger beschäftigen als die soziale Frage.

Die Lösung könnte darin liegen, dass man einen Teil der Gelder für notwendige Infrastruktur-Investitionen reserviert und den anderen Teil den Bürgern als „Kopfgeld“ oder „Bürgergeld“ in gleichen Beträgen ausbezahlt, damit die Preissteigerungen für die Bürger sozial akzeptabel bleiben und die gegenwärtig verfügbare Massenkaufkraft (vorerst) erhalten bleibt.

Die Vertreterin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, hat die Meinung geäußert, dass die gegenwärtigen Preissteigerungen nur vorübergehend sind. Eine nachvollziehbare Begründung wurde m.W. nicht geliefert. Aus meiner Sicht lässt sich die Auffassung nicht begründen, weil alle klimarelevanten Maßnahmen darauf gerichtet sind, die fossilen Energieträger systematisch zu verteuern, um den notwendigen Druck zu einem Wandel aufzubauen. Diesen Sachverhalt als vorübergehend zu bezeichnen, ist wenig stichhaltig. Man sollte sich aber fragen, warum die EZB eine derartige Aussage macht? Dazu muss man wissen, dass i.d.R. die gängige Maßnahme zur Bekämpfung von Preissteigerungen und insbesondere von Inflation eine Zinserhöhung wäre. Das wird gegenwärtig nicht erwogen, weil nach meinem Verständnis die Verschuldungsgrade der öffentlichen Haushalte in Europa eine Höhe erreicht haben, die bei der Wiedereinführung von Zinsen sofort die Beantragung von Ergänzungshaushalten in den unterschiedlichen Ländern auslösen würde. Die Zinslast müsste aus dem laufenden Haushalt bezahlt werden und die gegenwärtigen Haushalte sehen nur unbedeutend geringe Zinsaufwendungen vor. Der Handlungsspielraum der öffentlichen Hand in Europa würde durch die Zinserhöhung für die nächsten Jahre stark eingeschränkt werden. Damit wäre der Finanzierungsspielraum für die notwendigen Klimamaßnahmen sehr gering.

Deshalb nochmals zurück zu dem Zertifikatehandel, der bei richtiger Anwendung dem Bund erhebliche Zuflüsse sichern könnte. Der Taschenspieler-Trick dabei ist, dass die Zertikathandelserlöse eben Erlöse sind und keine Steuern, d.h. die klientelbezogene Zusage der FDP kann nach dem Wortlaut von der absehbar neuen Bundesregierung eingehalten werden, weil die Handelserlöse wie eine Verbrauchsteuer wirken, aber definitionsgemäß keine „Steuern“ sind.

Für Steuern wäre es klar, dass sie Gegenstand des Haushalts und damit Gegenstand der parlamentarischen Haushaltskontrolle wären. Da es sich aber um Erlöse handelt, ist mir nicht klar, wo und wie die Gelder letztlich verwaltet werden. Ich kenne kein Gesetz, das den Umgang mit Zertifikatserlöse regelt. Hier braucht es noch viel zusätzlicher Transparenz und ggfs. Kontrolle.

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Alternative Ansätze einer Problemlösung

Das Fach ‚Economics‘ ist ganz stolz auf seine Entscheidungstheorie. Sie baut auf dem Konstrukt des homo oeconomicus auf und unterstellt, dass im Falle einer Entscheidungssituation alle Entscheidungsalternativen vorhanden sind, diese unabhängigen Ereignisse (die sich also wechselseitig ausschließen) bewertbar sind und das Ziel (maximal, optimal, effizient) bekannt ist.

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Dann kommt der Ökonom und stellt ein Modell auf, wie die Entscheidung zwischen den Alternativen rational zu bewerkstelligen ist. Ist das ein realistischer Ansatz, wenn man bedenkt, dass das zu lösende Problem nicht in der Auswahl der „richtigen“ Alternative liegt, sondern in der Aufbereitung der in Frage stehenden Alternativen?

Wenn ein Problem auftaucht, das diesen Namen zurecht trägt, sind erst mal alle Beteiligten ‚ratlos‘. Dann werden die ersten Vorschläge für Lösungsansätze entwickelt: Ist das Problem schon einmal aufgetreten, ist das Problem ggfs. ausreichend und angemessen definiert? Gilt es als wohl- oder schlecht definiert. Für ein wohldefiniertes Problem existieren i.d.R. schon bekannte Lösungsansätze. Bei einem schlecht definierten Problem kann man nicht davon ausgehen, dass das Problem schon von anderen gelöst wurde. Dann gilt die Devise: Löse das Problem!

Was heißt das? Für das Problem muss erst Mal eine tragfähige Definition gefunden werden, die mit dem Auftraggeber oder Initiator so abzustimmen ist, dass man eine gemeinsame Basis hat. Das Ziel der Problemlösung ist es nicht, eine maximale, eine optimale oder effiziente Lösung zu finden: es geht darum, überhaupt eine Lösung zu finden, die dem vereinbarten Definitionsrahmen entspricht. Das Ziel ist nicht Optimierung oder gar Maximierung, das Ziel ist schlicht eine Lösung zu finden.

Gehen wir nochmals zurück zur Ökonomie: Deren Vorstellungen kennen m.E. keine schlechtdefinierten Probleme! Es wird nur ein Auswahlprozess unter mehr oder weniger fertigen Alternativen beschrieben und bewertet. Bei einem schlecht definierten Problem gibt es möglicherweise nur eine Lösung, weil eine weitere Lösungssuche nicht aussichtsreich erscheinen oder zu kostspielig sind. Und das ist bei dieser Art der Problemstellung oft der Fall. Dann ist aber das Entscheidungsmodell der Ökonomie in diesem Zusammenhang überflüssig.

Erschwerend kommt hinzu, dass diese Kategorie von Problemen natürlich auch nicht rational im Sinne der Ökonomie gelöst werden können, weil die Beteiligten gar nicht wissen, ob sie alle denkbaren Möglichkeiten durchgespielt haben. Ebenso sind Erwartungen von Effizienz und Optimalität unsinnig. Man ist ggfs. froh, eine (vorerst) tragfähige Lösung gefunden zu haben, auf die sich weitere Schritte gründen können.

Mit der Suche nach Kriterien für eine Transformation einer ganzen Gesellschaft mit einer extrem schlecht definierten Problemstellung wird deutlich, warum die Mainstream-Ökonomie so wenig zu diesem Prozess beizutragen hat, da eine dogmatische Mainstream-Ökonomie nicht in Alternativen zu denken gewohnt ist. Eine Ideologie kann sich nicht selbst in Frage stellen und das wäre bei dieser Aufgabenstellung aber unumgänglich. Deshalb gibt es für die Transformation in der Mainstream-Ökonomie auch keine sinnvollen Kriterien. Das wirkt alles eher hilflos.

Modelle, die lineare Bezüge unterstellen (also Rückkopplungen oder Rebound-Effekte als irrelevant betrachten), Kollateralschäden externalisieren, sind zu schlicht gebaut, um einem Transformationsgeschehen gerecht zu werden. Die Prozesse, die bei einer Transformation ablaufen, sind so gestaltet, dass sich nicht nur die Mittel, sondern u.U. auch die Ziele durch bessere Erkenntnis verändern. Man weiß, wo man beginnt. Man hat ein grob definiertes Ziel, aber ob man am Ende dorthin gelangt, bleibt lange offen.

Aus diesen Gründen wird der ganze Prozess als „inkremental“ beschrieben (Charles Lindblom, 1959): Das ist der Akzeptanz des Risikos geschuldet. Man geht „kleine“ Schritte in eine definierte Richtung, überwacht die erwarteten Ergebnisse und achtet insbesondere auf die überraschenden Nebeneffekte, die man nicht einkalkuliert hatte. Die Vorgehensweise erscheint dem Außenstehenden langweilig und mühselig, sie gibt aber den Beteiligten ein gewisses Maß an Sicherheit, denn jeder Schritt und jede damit verbundene Erkenntnis kann die Struktur des Problems in ein neues, ggfs. anderes Licht tauchen.

Der Inkrementalismus ist eine Beschreibung der Vorgehensweise auf dem Feld sozialer oder politischer Prozesse. Viele Menschen stören sich an der „Stopserlei“. Dem Ansatz fehlt die große Geste des Visionärs. Lindbloms Untersuchungen haben gezeigt, dass die große Geste sicherlich ein attraktives Element des Prozesses darstellen kann, aber ihr Einfluss auf den Prozesserfolg ist minimal. Der Wunsch nach dem großen Wurf ist durchaus verständlich, verpufft aber erfahrungsgemäß rasch und was dann im positiven Falle übrig bleibt, ist empirisch gesehen Inkrementalismus – „die Strategie der kleinen Schritte“.

Der englische Premier Johnson macht uns das gegenwärtig vor. Brexit war sein großer Wurf, jetzt muss das Militär die Brocken zusammenlesen und am Ende werden wir feststellen, die Lösung der zahllosen Probleme erfolgte, wenn überhaupt, inkremental – nur hatte man die Kollateralschäden nicht unter Kontrolle wegen der dicken Hose von Herrn Johnson.

Wir wissen wenig über die evolutionären Schritte der Natur, aber es ist durchaus sinnvoll, sich vorzustellen, dass der Inkrementalismus, den Lindblom als ein Phänomen beschreibt, eine „Erfindung“ der Natur ist. Das Fatale dabei ist, dass die Natur zeitlos agiert und wir in unserer Klimakrise mit einem Zeitfenster von etwa einer Dekade kämpfen. Man kann dieses Zeitfenster angesichts der Aufgabe nicht gerade als besonders komfortabel bezeichnen.

Interessant ist dabei auch die Frage, welche Art von Wert bestimmt unser heutiges Weltbild und welche Art von Weltbild könnte denn eine erfolgversprechende Lösung sein? Ökonomen gehen ganz automatisch davon aus, dass der von ihnen favorisierte Tauschwert immer Grundlage für eine sinnvolle Lösung sei. Wer sich die Frage nach der Wertkategorie im Zusammenhang mit der Frage nach einem gültigen Lösungsansatz ehrlich stellt, wird feststellen, dass es durch den Wegfall ewigen Wachstums, dem damit verbundenen Wegfall der Gedankenwelt der Maximierung und Optimierung deutlich mehr Alternativen gibt und geben muss als es uns die überkommenen ökonomischen Kategorien erwarten lassen.

 Die Beurteilung eines Sachverhalts aus der Perspektive des Nutzens bzw. seines Korrelats, des Geldes, führt regelmäßig in eine fatale Einseitigkeit der Betrachtung. Mit Geld wird gern und pauschal unterstellt, dass alle Individuen chrematistisch (auf der Suche nach Reichtum, vgl. Aristoteles) unterwegs sind, dabei gibt es aufgrund sozialwissenschaftlicher Studien einen großen Anteil der Menschen, die bisher keine genuine „Krämerseele“ entwickelt haben, sich aber der chrematistischen Haltung aus Unwissenheit oder Gewohnheit unterwerfen. Sie wundern sich nur, dass sie so selten zu den Siegern zählen. Mit anderen Worten: Die Vorstellung der Ökonomie, dass der Nutzen bzw. sein Pendant, das Geld, der alleinige Maßstab des Handelns sind, ist zumindest für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung nicht richtig.

Die Ökonomie umgeht diese Fragestellung, indem sie sich nicht mit Menschen oder Individuen befasst, sondern von Unternehmern, Kunden, Konsumenten und Arbeitnehmern. Viele Menschen treffen ihre Beurteilungen nicht auf Grundlage der ökonomischen Nutzenmaximierung, noch teilen sie den Wettbewerbsgedanken oder die allgegenwärtig zum Ausdruck gebrachte und gepflegte Gier. Politisch gesehen wird dabei ein nicht unbedeutender Teil der Wählerschaft einfach übersehen bzw. kommt mit ihren Anliegen im politischen Spektrum bisher überhaupt nicht vor. Als Beispiel könnte man den Pflegebereich ansprechen.

Wenn man aber akzeptieren würde, dass der bewusst chrematistisch orientierte Bevölkerungsanteil viel kleiner ist als uns die Wirtschaftsvertreter glauben machen wollen, so könnte man davon ausgehen, dass im Rahmen eines neuen, geänderten Narrativs die nicht chrematistisch orientierten Bevölkerungsteile ganz anderen Alternativen offen gegenüber stehen, als das heute erkennbar ist. Zumal die ‚Oikonomie‘ mit ihren fünf Grundsätzen (vgl. A. W. Stahel: Oikonomics: towards a new paradigm in economics, aus: RWER No. 96, pp 234, oder auch Karl Polanyi, The Great Transformation, 1944) der Selbstgenügsamkeit oder dem Unabhängigkeitsstreben (self-sufficency), der Reziprozität, der Redistribution, des Handels mit dem Ziel einer Versorgung (commerce) und der Vermeidung von Plünderung (plunder) seit über 2.500 Jahren unser Zusammenleben geregelt haben, ohne dass dabei eine globale Klimakrise auftrat. Das haben wir erst in den letzten 200 Jahren durch eine komplette Übertreibung der chrematistischen Lebensauffassung geschafft.

Das erstaunliche ist, dass die fünf genannten Grundsätze unter der marktschreierischen Oberfläche  unverändert gelten, aber eben nicht dominant genug sind, um den Verlauf von wirtschaftlichem Handeln heute nachhaltig zu beeinflussen. Ökonomie versteht sich vielfach als wertfrei. Aber die fünf Grundsätze sind ohne Frage moralisch gegründete Verhaltensweisen, die ein komplexeres Phänomen abbilden statt sich als Handlungsmaxime ausschließlich auf Nutzen und Geld als Nutzenäquivalent zu beziehen. Der Nachteil ist, dass dann die „schön formulierten“ mathematischen Modelle ziemlich hilflos daherkommen.

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Mythen als Grundlage unseres Wirtschaftssystems

Dieser Zusammenhang drängt sich mir auf als ich mich mit den Mythen unserer Altvorderen und der Frage beschäftigt war, wie es möglich sein kann, dass vernünftige und relativ gelassene Menschen sich inkonsistente Geschichten über Sachverhalte zu eigen machen und dann noch der Meinung sind, die „anderen“ müssten ebenfalls diese Meinung teilen.

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Bei Religionen erscheint dieses Sendungsbewusstsein noch nachvollziehbar, aber bei Wirtschaftssystemen kommen Zweifel auf. Und ich spreche bewusst nicht von Wahrheit, sondern begnüge mich mit der Erwartung von Konsistenz in der Beschreibung der jeweiligen Sachverhalte.

Dabei scheint sich das Wirtschaften im Sinne von ‚Haushalten‘ und ‚Sicherung der Versorgung‘ nicht zum Mythos zu eignen. Beim Wirtschaften in diesem Sinne bewegen wir uns in der handfesten Wirklichkeit. Und diese Aktivität nutzen wir notwendig seit vielen Jahrhunderten ohne theoretische Voraussetzungen und Grundlagen.

Aristoteles unterschied schon vor rd. 2.500 Jahren sehr treffend die Oiconomie (als die Kunst des guten Lebens) von der Chrematistik als der Kunst des Reichwerdens. (vgl. Andri W. Stahel, Oiconomics: towards a new paradigm in economics, in: Real-World Economics Review, No. 96, 234 ff.) Mit anderen Worten: Sogenannte differenzierte Wirtschaftssysteme sind demnach eine Erfindung der Neuzeit, die mit der Ausweitung der Technologie und der parallelen Verfügbarkeit von fossiler Energie (seit ca. 1760) sowie der Einführung von Privateigentum (ab 1848 als Folge der Enteignung großer Teile der Aristokratie und deren praktizierter Lehenswirtschaft) zur Wirkung kommen.

Die Anwendung der neuen Technologie und der verfügbaren Energie und das Privateigentum schaffen neue Institutionen und damit ein Netzwerk von zusätzlichen Beziehungen technischer, energetischer, sozialer und gesellschaftlicher Art, das es sinnvoll erscheinen lässt, von einem abgrenzbaren Wirtschaftssystem zu sprechen. Dabei ist meist nicht das Wirtschaften als solches Gegenstand des Systems, sondern die Meinung über das „richtige“ Wirtschaften und die rabulistische Vorstellung, wie wirtschaften angesichts von Privateigentum von statten gehen solle. Die Diskussion hat mit der unmittelbaren Versorgung der Menschen nur noch am Rande zu tun.

Die Entwicklung solcher Systeme unterliegt der kritischen Beobachtung von Befürwortern und Kritikern. Es wäre das Einfachste, das System und seine Elemente neutral zu untersuchen, um dann zu einem ausgewogenen, begründbaren Ergebnis zu kommen. Dem stehen mehrere Gesichtspunkte entgegen:

  • Persönliche u. wirtschaftliche Interessen der Systembeteiligten
  • Gewachsene Strukturen und Privilegien
  • Institutionen, deren Struktur ausgewählte Betroffene besonders begünstigen
  • Sozialer Status der jeweils Beteiligten aufgrund ihrer Stellung im System
  • Macht, Geld, Gier und politischer Einfluss.

Jede dieser Interessenlagen ist weder an der Wahrheit, noch an der oben angesprochenen Konsistenz ihrer Verhaltensnormen interessiert. Ihr Ziel ist es, ein Narrativ zu vertreten, das so beschaffen ist, dass es nicht offensichtlich falsch, aber doch ihren Standpunkt bevorzugt und einfach darstellt, damit ihre Sicht der Dinge gute Chancen hat, zu einem ‚Mythos‘ zu werden, zu einem Glaubenssatz, den möglichst niemand mehr so recht in Frage stellt. Dann gewinnt diese Sicht der Dinge die „Lufthoheit“ und die Sichtweise herrscht erfolgreich über die Mehrzahl der Hirne oder besser, über deren emotional geprägtes Weltbild.

Wir erwarten, dass Wirtschaft uns ein gutes Leben möglich macht. Das war in der Vergangenheit wohl unbestreitbar der Fall. „Aber seit einiger Zeit berichtet uns die Wissenschaft, dass bald das Gegenteil stattfindet, dass die Wirtschaft nun eine existenzielle Bedrohung der Zivilisation darstellt. Mit anderen Worten, noch nie wurde ein theoretisches System so von Grund auf falsifiziert wie das des neoliberalen Ökonomieansatzes.“ (Edward Fullbrook, Economics 999, in: Real-World Economics Review No. 96, S. 256, eig. Übersetzung)

Und unser Wirtschaftssystem ist nach dieser Auffassung als ein Mythos anzusehen. Es gibt eine große Zahl von Glaubenssätzen in den Wirtschaftswissenschaften, die weder im Studium noch später im täglichen Wirtschaftsleben jemals wieder in Frage gestellt wurden. Wir sind gegenwärtig an einem Punkt, an dem wir erkennen müssen, dass trotz oder gerade wegen der mythischen Grundlagen unserer Wirtschaftsweise im Rahmen der Klimakrise irgendwas grundsätzlich falsch läuft. Die Sozialwissenschaften haben die Zusammenhänge unabhängig von den Wirtschafswissenschaften detailliert ausgearbeitet und Hypothesen über die vielfältigen Gründe entwickelt. Es steht nun der fehlerhafte, aber emotionsgeladene Wirtschaftsmythos des Neoliberalismus gegen die Erkenntnisse der Sozialwissenschaft. Und die Wirtschaftswissenschaften sind dann noch mehrheitlich der Auffassung, dass sie nicht zur Sozialwissenschaft gezählt werden dürfen. Ihre „schönen“ mathematischen Modelle und ökonomischen „Gesetze“ prädestinieren sie angeblich dafür, im Grunde als „naturwissenschaftlich“ gelten zu können. Den gegenwärtig bestimmenden Mythos abzubauen und aufzulösen, ist also eine Herkulesaufgabe, weil sozialwissenschaftlicher Sachverstand gegen einen emotionsgeladenen Mythos ankämpfen muss, der primär die persönliche Gier bedient.

Wir stehen vor einer großen Transformation und müssen feststellen, dass der Mythos vom ewigen Wachstum, der Mythos der nicht hinterfragten Märkten und deren Versagen, der Mythos, dass Wettbewerb kreativ sei, der Mythos, dass der Preis einer Sache deren Wert bestimme, der Mythos vom linearen Fortschritt in eine bessere Zukunft, (u.v.a.m.) unsere Gehirne vernebeln und es nur schwer möglich ist, diesen Fehleinschätzungen zu entkommen. Der Mythos ist so schön simpel und er ist nicht grundsätzlich falsch. Wenn man die Zusammenhänge sauber analysiert, ist Wachstum (in begrenztem Maße) darstellbar, hat der Markt gewisse regulative Vorteile, mobilisiert Wettbewerb Aktivität, u.s.w.. Aber unter welchen stark einschränkenden Nebenbedingungen die Aussagen gelten und welche Kollateralschäden (externalisierte Kosten) die Vorgehensweise auslösen, wird regelmäßig weggelassen. Das ist vorsätzliche Blindheit.

Im Rahmen der großen Transformation stehen sich jetzt der Mythos und die Sozialwissenschaft unversöhnlich gegenüber. Hier die großen Vereinfacher des Mythos und dort eine angestrengte Sozialwissenschaft, die den Pfad der wissenschaftlichen Tugend nicht verlassen möchte, aber so kompliziert daher kommt, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie eine breite Bevölkerungsschicht dieser Betrachtungsweise folgen kann oder will. Aber genau das wäre von eminenter Bedeutung für den Erfolg der anstehenden Transformationsprozesse!

Es geht nicht darum, rückblickend einen neuen Mythos zu identifizieren. Es ist der Widerspruch zu lösen, einen Mythos aktiv und gewissermaßen proaktiv zu schaffen, der so gestaltet ist, dass er einerseits die wichtigen Elemente der sozialwissenschaftlichen Analyse angemessen erfasst, aber dieses Ergebnis so präsentiert, dass es auch unabhängig vom Intellekt emotional eine breite Bevölkerungsschicht ansprechen kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die große Transformation allein über die Vernunft und den Verstand realisiert werden kann. Dabei sind weite Teile der Bevölkerung nicht zu dumm, sondern werden gezielt mit anderen Fragen des Lebens (wie Wettbewerb, Gier, Selbstdarstellung, Machtspiele u.ä.) so beschäftigt, die ihnen schlicht keine Zeit bleibt, ihren Verstand und ihre Vernunft auf die Erfordernisse einer Transformation unserer aller Gesellschaft zu richten.

Ich bin mir auch nicht sicher, ob es möglich ist, ‚vorsätzlich‘ einen neuen Mythos zu schaffen. Einen neuen Mythos, der nicht der Vergangenheit verpflichtet ist, sondern der für eine Mehrzahl von Menschen interessant genug erscheint, um ihr bestehendes Paradigma (oder Weltbild) als unzulänglich zu erkennen und freiwillig durch ein neugeschaffenes zu ersetzen. Diesem Wechsel kann man sicherlich mit Mitteln einer fragwürdigen Propaganda nachhelfen, aber letztlich bleibt es eine freiwillige Entscheidung.

Der oft unterstellte deduktive Ansatz zu einer Transformation erscheint vor diesem Hintergrund nicht erfolgreich. Für den sogenannten „großen Wurf“ die notwendige Zustimmung der Betroffenen zu finden, erscheint unrealistisch. Die befassten Wissenschaftler haben einen anderen, eher induktiven Weg eingeschlagen: Sie wollen den Transformationsprozess in kleinen Schritten vornehmen, wobei der Handlungsspielraum des alten neoliberalen Mythos Schritt für Schritt eingedämmt wird. An Ende verliert der Mythos mangels Masse seine Strahlkraft und wird irrelevant. Die schrittweise Einengung des Spielraums erfolgt über sogenannte „Leitplanken“ (engl. rail guards).

Jede Leitplanke, die politisch sanktioniert eingezogen wird, schmälert das Terrain, auf dem sich der alte Mythos austoben kann. Diese Leitplanken darf man sich dabei nicht nur zweidimensional (in der Fläche) vorstellen. Leitplanken sind gesellschaftliche Grundsätze, die eingehalten werden sollen und die nicht nur einer ausschließlich wirtschaftlichen Perspektive huldigen. Manches kann als Angebot präsentiert werden, andere Leitplanken werden aber verbindlich sein müssen. Eine Nichteinhaltung wird sanktioniert werden.

Um es bildlich zu machen: man fängt beim gegenwärtigen definierten Aktionsraum ganz außen an und schränkt in kleinen, kontrollierbaren Schritten ein bis das erreicht ist, was z.B. gegenwärtig mit Klimaneutralität definiert wird. Dabei sollen die jeweiligen Maßnahmen einer ständigen Kontrolle unterliegen, einerseits um sicherzustellen, dass die Wirksamkeit garantiert ist und andererseits, um eventuelle Fehlentwicklungen noch im laufenden Prozess korrigieren zu können. Eine solche Vorgehensweise bezeichnet man als ‚inkremental‘, weil sie keinen großen Wurf repräsentiert, sondern kleine, kontrollierbare Maßnahmen in Richtung des angestrebten Zieles einleitet, die bei einer Fehlentwicklung auch wieder zurückgenommen bzw. verbessert werden können.

Der Ansatz unterscheidet sich grundsätzlich von der deduktionistischen Vorgehensweise der Wirtschaftswissenschaften, die fernab von der wirtschaftlichen Realität ein Modell „gebastelt“ hat, diesem Modell aufgrund deduktiver Grundsätze den Status der Allgemeingültigkeit zuwies und dann an die Umsetzung ging. Das Ergebnis war oft kläglich, weil ohne „Netz und doppeltem Boden“ (Abstimmung mit realen Tatsachen) gearbeitet wurde.

Die Vertreter des eher induktionistischen Ansatzes der Sozialwissenschaften sind sich darüber im Klaren, dass die anstehende Aufgabe zu komplex ist, um sie ohne erhebliche Nebenwirkungen „in einem Guss“ umsetzen zu können. Der induktionistische Ansatz versucht deshalb sicherzustellen, dass keine zu großen Schritte unternommen werden, die irreversible Folgen auslösen, sondern strebt nur inkrementale (d.h. kleine, in ihrer Wirkung überschaubare) Schritte an.

Allein schon der ungewohnte inkrementale Ansatz braucht ein gutes Narrativ, das die Vorgehensweise so darstellt, dass die zu erwartenden Anpassungen nicht von vornherein als Unfähigkeit oder gar als Ratlosigkeit ausgelegt werden. Die Politik handelt in den meisten Fällen (ähnlich der klassischen Ökonomie) deduktionistisch, in dem sie von einem Ideal, einer Vision oder von einem Dogma ausgeht und daraus die Maßnahmen deduktiv ableitet und so gerne den „großen Wurf“ konzipiert. Wie das ausgehen kann, sehen wir am Neoliberalismus – seine Kollateralschäden (u.a. Klimakrise) und seine soziale und gesellschaftlichspolitische Blindheit werden absehbar sein Ende einleiten.

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Transformation und politische Wirklichkeit

Die gegenwärtigen Diskussionen über die notwendige Transformation unseres Gesellschaftssystems werden interdisziplinär geführt. Viele Ergebnisse sind m.E. überzeugend, aber auch sehr komplex. Um die Transformation Realität werden zu lassen, fehlt mindestens ein wichtiges Bindeglied. Jene, die glauben, Transformation zu verstehen, können nicht davon ausgehen, dass sich ausreichend Bürger für eine Transformation unter demokratischen Prämissen interessieren.

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Es gibt eine wachsende Gruppe, die sich für Umweltfragen interessieren, ja sogar engagieren, aber deren Kenntnisse über Transformation und deren Konsequenzen sind i.d.R. sehr begrenzt. Der Fokus liegt eher im emotionalen Moment einer „kranken Umwelt“, die es zu „heilen“ gilt, denn in der intellektuellen Durchdringung der komplexen Zusammenhänge.

Der Verweis auf propagandistische Untersuchungen, die davon ausgehen, dass zehn Prozent Aktive (sogenannte ‚Champions‘) genügen würden, um in einer demokratisch verfassten Struktur eine Grundsatzentscheidung herbeizuführen, springt zu kurz. Die Entscheidung zur Transformation ist doch nur der Anfang. Da sich Änderungen in der Struktur des Zusammenleben nicht vermeiden lassen, kommt es m.E. darauf an, ein Narrativ zu „komponieren“, das der breiten Bevölkerung die Veränderungen plausibel macht und dem es gelingt, sie als vorteilhaft darzustellen. Die Haupteigenschaft des Narrativs muss eine „grandiose Vereinfachung“ der komplexen Vorgänge bei der Transformierung leisten, ohne mit den wissenschaftlichen Grundlagen im krassen Widerspruch zu stehen.

Der Neoliberalismus hat eine solche Simplifizierung in den letzten 50 Jahren erfolgreich geschafft. Die meisten seiner Aussagen, die im Wirtschaftsteil der Gazetten ständig wiederholt werden, liegen irgendwo zwischen „Falsch und Richtig“. Richtig waren die Aussagen nur in ganz speziellen Fällen, unter ganz bestimmten Nebenbedingungen, die in der realen Welt meist nicht anzutreffen sind. Da die Nebenbedingungen regelmäßig bzw. konsequent weggelassen wurden, waren die Aussagen in den meisten realen Fällen schlicht falsch, was aber für ihrer Wirkmächtigkeit als eine Art Mythos kaum negative Folgen hatte.

Zu der Zeit, als der Neoliberalismus seine ersten Erfolge einstrich, kamen 1972 die „Grenzen des Wachstums“ zur Veröffentlichung. Seit der Zeit bemühen sich die Ökologen deutlich zu machen, wo die fehlerhafte Entwicklung hingeht. Der Neoliberalismus konnte jedoch ungehindert seine Kreise ziehen, bis endlich der Druck der Wissenschaft einerseits und andererseits die negativen Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftsweise auf unseren Lebensraum so deutlich wurden, dass m. E. die Tage des Neoliberalismus gezählt sind.

Alle seine grandiosen Ziele (unbegrenztes Wachstum, der Markt regelt alles, Wettbewerb ist kreativ, unser System funktioniert nur bei Gewinnmaximierung, Fortschritt definiert sich linear, u.a. m.) werden Stück für Stück kassiert und auf breiter Basis als schädlich für unsere Lebensgrundlagen erkannt. Der Neoliberalismus ist absolut blind für seine externalisierten Effekte, die allmählich überproportional zu Buche schlagen und ihm seine politische Glaubwürdigkeit entziehen[1].

Der Neoliberalismus hat sich in den letzten Jahrzehnten in den Köpfen der Bürger festgebissen. Die Ausbildung zum Wirtschaftsdiplom ist gepflastert mit neoliberalen Aussagen und der Lehrkörper ist mehrheitlich Diener dieser Auffassung. Mindestens 16 Studenten-Generationen wurden seit 1970 so ausgebildet, das hinterlässt Spuren in den Köpfen und Karrieren. Selbst Bürger, die diese Indoktrination nicht ‚genossen‘ haben, haben sich dank der Medien das einfache 1 x 1 des neoliberalen Ökonomieverständnisses angeeignet. Sie können die Axiome des Neoliberalismus gebetsmühlenartig aufsagen, ohne dass sich die Menschen über die inhaltlichen Konsequenzen ihrer Gebetsmühle im Klaren sind.

Wenn man also die erschreckende Ökonomisierung unserer Lebensumstände zurückdrängen oder gar zerschlagen will, wird man das nicht mit hochkomplexen Sachverhalts-Darstellungen schaffen. Die Wissenschaft, die bisher den wesentlichen Teil der Veränderungsansätze geschaffen hat, sollte sich ein Beispiel an der Vorgehensweise des Neoliberalismus nehmen. Man muss die ökologischen Zusammenhänge in ihrer Komplexität auf so einfache Aussagen reduzieren, dass man erwarten darf, dass jeder halbwegs orientierte Bürger die wesentlichen Aussagen der Transformation meinetwegen in fünf oder sieben „knackigen“ Sätze als Monstranz vor sich hertragen kann. Damit würden die Erkenntnisse auch ‚medienfähig‘. Diese Aussagen dürfen stark vereinfachen, aber sie müssen im Prinzip „wahr“ bleiben.

Es wird einem Versuch gleichkommen, einen Mythos zu einer Zeit zu schaffen, wenn er noch gar nicht von jedermann als solcher erkannt geworden ist. Mythen werden üblicherweise erst im Nachhinein geschaffen, hier gilt es nun einen zukünftigen Mythos zu schaffen. Mythen sprechen den Menschen primär über die Emotion an und weniger über den Verstand – das macht sie universeller einsetzbar.

Oder: die Ökonomisierung kann auch dadurch unterlaufen werden, dass man eine Initiative startet, die sich gezielt die Zerstörung des neoliberalen Mythos zur Aufgabe macht. Der Angriff erfolgt, indem man die neoliberalen ‚Axiome‘ in ihrer Einfachheit auf die „richtigen“ Füße stellt:

  • Es gibt kein unbegrenztes Wachstum. Die Bäume wissen das! Jeder Physiker kennt das!
  • Der Markt kann nur Dinge regeln, die knapp sind und einen Preis haben. Warum sind die Dinge knapp? Waren sie das schon immer? Was ist mit den vielen Dingen, die keinen Preis haben oder keinen Preis haben sollen? Wer regelt diese Seite unseres Lebens?
  • Wettbewerb macht kreativ. Warum eigentlich? Der Satz stammt sinngemäß von Friedrich von Hayek. Der Satz wurde nie verifiziert. Kooperation ist eine deutlich bessere Grundlage für kreatives, angstfreies Handeln. Nur der inhärente Disziplinierungseffekt der Wettbewerbsstruktur geht dabei verloren; das ist auch eine Art der Befreiung.
  • Fortschritt als linearen Prozess im Sinne von Mehr vom Gleichen zu denken, führt in die Irre. In einer endlichen Welt ist Veränderung nicht eindimensional; das zugrunde liegende Bild ist grundlegend falsch.
  • U.s.w.[2]

Jede kommende Bundesregierung ist an den inzwischen einklagbaren Klimaschutz gebunden. Klimaschutz und die damit verbundenen Veränderungen müssen aber den Bürgern positiv „verkauft“ werden. Dies kann nur zu Lasten des neoliberalen Mythos geschehen. Dazu sind Mittel einzusetzen, die die Werbung und die Propaganda schon seit Jahrhunderten praktizieren. Die dreisten Feststellungen des Think-Tanks „Neue Soziale Marktwirtschaft“ zur Unterstützung des neoliberalen Mythos sollten einerseits Mahnung sein, die Verdummung der Bürger nicht zu übertreiben und sollten andererseits dazu führen, das Instrument der Propaganda maßvoll für die eigene Sache einzusetzen.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Transformation müssen so auf ihren Kern reduziert werden, dass sie werblichen Aussagen zugänglich werden. Gelungene Formulierungen sind m.E. so Titel wie „Befreiung vom Überfluss“ (Niko Paech) oder „Was mehr wird, wenn wir teilen“ (Elionor Ostrom). Oder denken wir an eine Aussage des Vater unser: „…und befreie uns von dem Übel…“. Der Mythos des Neoliberalismus kann nur „überholt“ werden, indem schrittweise ein neuer Mythos zu einem völlig anderen Lebensgefühl geschaffen wird. Ein Lebensgefühl ist aber sehr schwer über Vernunft und Verstand allein zu vermitteln. Dabei dürfen die Skrupel nicht zu groß werden, wenn man Methoden in Anspruch nimmt, die auch der Gegenspieler dauernd einsetzt. Man kann Gewohnheiten nicht dadurch brechen, dass man sie permanent verteufelt. Daran sind schon die Kirchen vor Jahrhunderten gescheitert. Man muss sie intelligent in Positive drehen. Das Motto dabei sollte aus dem Kampfsport übernommen werden: ‚Führe die Kraft deines Gegners an den Punkt, an dem du ihn mit wenig Aufwand zu Fall bringst‘.

Die Kraft des Neoliberalismus liegt in seinem zwar kraftvollen, aber intellektuell schlichten Mythos. Bauen wir an einem neuen, besseren Mythos, der näher an der „Wirklichkeit“ liegt. Wir haben dabei leider nicht alle Zeit der Welt, die Uhr tickt. Und machen wir keine falschen Versprechungen. Das ungebremste Handeln im Rahmen des neoliberalen Mythos mit seinen immensen Kollateralschäden, blinden Flecken und negativen Verhaltensmaximen wird mittelfristig unsere Kultur, unsere Umwelt oder ganz einfach unsere Lebengrundlagen zerstören.

In knapp zwei Wochen wird gewählt. Die meisten Parteien trauen sich nicht in die Offensive zu gehen, aus Angst, ihre Machtgrundlage zu verlieren. Ich kann das nachvollziehen, aber nicht akzeptieren. Was sollen die kommenden Generationen von uns Altvorderen denken? Wollten wir nicht die Erde in einem Zustand weitergeben, der wenigstens dem entspricht, den wir vorgefunden haben? Hier ist noch viel zu tun! Und es ist an der Zeit, nicht mehr darüber zu reden, sondern endlich zu handeln! Ich glaube behaupten zu können, das Nichthandeln ins Chaos führt. Ob aber die heute erkennbaren Handlungsstrategien im Rahmen der Transformation unser Wohlstandsniveau sichern, kann nur eine von mehreren Optionen sein, aber immer noch besser als das Chaos! Lieber einen gesteuerten und beherzten Umbau „by design“ als einen chaotischen Prozess „by desaster“! Eine eigenständige dritte Alternative kann ich nicht erkennen. Das sogenannte „Muddling through“ (das Durchwursteln) ist keine anzustrebende Alternative, sondern eine realistische Methode, die sich in der rechtverstandenen Praxis einstellt.


[1] Vgl. John Komlos, Humanistic economics, a new paradigm for the 21st century, in: Real World Economics Review Issue No. 96, S. 201 ff. und die dort angeführte Literatur.

[2]  Vgl. die Auszählung bei John Komlos, a.a.O., S. 204 ff.

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Paradigmenwechsel als strategische Aufgabe

Wer sich mit der Klimakrise beschäftigt, kommt an der Frage nicht vorbei: Wie kann es gelingen, eine saturierte, alternde und relativ vermögende Gesellschaft im Rahmen einer demokratischen Verfassung zu überzeugen, einen grundsätzlich notwendigen Paradigmenwechsel zu akzeptieren? Maja Göpel hat sich dieser Aufgabe gestellt und hat nach begründbaren Antworten gesucht und ich finde, ihr Buch „The Great Mindshift“ (2016) stellt hierzu eine beachtliche Reihe von bemerkenswerten Gedanken zur Verfügung.

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Nun bin ich kein Wissenschaftler und muss feststellen, dass dieser Vorgang in seinen Details ungeheuer komplex oder besser kompliziert erscheint, weil ich in die Vernunft in unserer Weltgesellschaft wenig Vertrauen habe. Und es braucht nicht nur Vernunft, es braucht auch ein hohes Maß an Einsichtsfähigkeit in die Zusammenhänge.

Als pragmatisch denkender Mensch habe ich mich nach Beispielen aus der unmittelbaren Vergangenheit umgeschaut. Die Klimakrise fällt ja auch nicht vom Himmel. Dabei fielen mir Aussagen über unseren wohl größten Gegenspieler, den 1992 verstorbenen Neoliberalen F. A. von Hayek ein, die aus den 50iger Jahren des letzten Jahrhunderts stammen. Von Hayek war m.E. die treibende Kraft, die hinter den bescheidenen Anfängen der Mont Pelérin-Gesellschaft stand. Von Hayek soll seinen damaligen ausgemachten Gegner, die sozialistische Bewegung, detailliert strategisch (weniger inhaltlich) analysiert haben, um sicher zu stellen, dass der Mont-Pelérin – Gesellschaft bei dem geplanten kick-off eines Gedankenkomplexes zur politischen Ökonomie (der unter dem Namen des Neoliberalismus firmiert) nicht die gleichen politischen Fehler unterlaufen.

Auch von Hayek hatte das Problem, wie er es schaffen könnte, dass die neoliberale Idee Eingang in die Köpfe der Handelnden findet. Auch ihm war klar, dass es ihm und seinen Mitstreitern gelingen musste, die Eliten in den westlichen Ländern für seine Ideen zu begeistern. Neben einer regen Vortragstätigkeit hat die Mont-Pelérin Gesellschaft versucht, in den Ländern der westlichen Welt wissenschaftliche Institute für ihre Idee von Wirtschaftspolitik zu gewinnen. Der Institutsbegriff ist dabei etwas unter die Räder gekommen, viele der Institute waren letztlich Propaganda-Einrichtungen, sogenannte „Think-tanks“, die von finanzstarken Anhängern der Idee finanziert wurden. Mir ist erinnerlich, dass am Ende weltweit über fünfhundert solcher Institute existierten. Das ist ein geballter intellektueller Machtapparat!

Der Durchbruch gelang für mein Verständnis als Ronald Reagan in USA und Margret Thatcher in UK dieser politisch-ökonomische Ideologie ihren Segen erteilten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt galt der Neoliberalismus als etabliert. Das war m.E. in der 1970iger Jahren, also vor rund 50 Jahren.

Diese Entwicklung erklärt aber nicht, warum die viele Politiker und Wirtschaftslenker dieser Ideologie wie dem Rattenfänger von Hameln hinterherliefen. Der Neoliberalismus hat es offensichtlich verstanden, die Ökonomie aus ihrem selbstverschuldeten Elfenbeinturm zu befreien. Der Neoliberalismus pflegt sein Narrativ mit einfachen und einprägsamen Bildern, die so geschaffen sind, dass sie dem uninformierten, aber staunenden Publikum eine ‚schöne, neue Welt‘ des unendlichen Wachstums, der Nutzen – bzw. Gewinnmaximierung für einige wenige und den Wettbewerb als angeblichen Innovator vermitteln konnten. Nun, die Idee des unendlichen Wachstums ist „gestorben“, die Mär, dass die Gewinnmaximierung über ‚Trickle-down‘ allen Wohlstand bringt, glaubt niemand mehr und der Wettbewerb wirkt eher als ein Mittel zur Arbeitsdisziplinierung der Massen, denn als Motor der Innovation.

Ohne auf Einzelheiten einzugehen, gibt es u.a. das „geschönte“ Bild (mit Sonnenuntergang) und dem Narrativ: „Wenn die Flut kommt, hebt sie alle Boote“. Klingt begeisternd und sagt nichts über die unterschiedliche Größe der Boote, die je nach Höhe der Flutwelle ggfs. sogar in Schwierigkeiten kommen können. Das Bild suggeriert, dass die Flut „die Fischer aufs Meer“ fahren lässt, aber es unterschlägt schlicht die Tatsache, dass das Meer kaum mehr Fische aufweist. Und um im Bild zu bleiben: das Narrativ erwähnt auch nicht, dass derjenige, der kein Boot besitzt, an der ‚Hebung‘ nicht partizipieren kann.

Es ist im täglichen Leben erkennbar, dass in der Verfolgung dieses Gedankenmodells der politische Einfluss der Wirtschaft überproportional wuchs und der der Politik ständig sank. Der Grund liegt u.a. darin, dass die Ökonomie der liberalen Demokratie strikt auf einem Nutzenkalkül aufbaut (Utilitarismus) und den Eindruck erweckt wird, alle politischen Auseinandersetzungen wären nur eine Frage der Optimierung einer alternativlosen Gesamtsituation.

Der Neoliberalismus hat sich strategisch so positioniert, dass ein klassisches Modell übernommen wurde und dieses Modell wurde hammerartig, ohne auf theoretische Einwendungen zu achten, auf wenige Kernaussagen reduziert. Man hat diese dann politisch geschickt verkauft und ist vor das staunende Publikum getreten, um das goldene Zeitalter, das „Ende der Geschichte“, auszurufen. Der Ansatz lief ein stückweit recht erfolgreich bis die externalisierten Kosten für den Verbrauch unserer Lebensgrundlage und durch den Mangel an sozialem Ausgleich für jeden, der sehen will, den möglichen Ertrag weit überstiegen. Man kann zu dem Schluss kommen, dass die Idee an ihrer Produktion externalisierten Kosten implodiert.

Ein Paradigmenwechsel, d.h. das bewusste und gesteuerte Auswechseln des herrschenden Weltbildes, das weitgehend durch den vom Neoliberalismus geprägten Denk- und Handlungsansatz geformt wurde, hat seine Tücken. Die Ökonomisierung versprach beim „richtigen“ Einsatz von schlechten menschlichen Eigenschaften wie Egoismus, asozialem Verhalten, Ausgrenzung, Gier, Selbstüberschätzung, Begrenzung des Ziels auf den rein materiellen Nutzen und damit auf das Geld, harten Wettbewerb als eine verdeckte Form der Aggressivität, u.a.m. ein goldenes, aber vielleicht auch inhumanes Zeitalter. Keynes hat diese Entwicklung seiner Zeit sinngemäß mit der Frage verknüpft, „warum widerwärtige Menschen, die aus widerwärtigen Motiven handeln, die beste aller Gesellschaften schaffen sollten“?

Nun diskutieren die Menschen seit 1972 den Klimawandel, der sich inzwischen zu einer Klimakrise entwickelt hat und im Zustand des Diskutierens verharren wir noch heute. Maja Göpel hat sich dieser Situation in ihrem Buch „The Great Mindshift“ (2016) der strategischen Frage angenommen, wie dieser Wechsel des Weltbildes eingeleitet werden kann. Auch dieses Buch ist schon wieder 5 Jahre alt und hat an seiner Aktualität nichts eingebüßt. Aber dieses Buch, das wissenschaftlichen Standards gerecht wird, zeigt dem Leser einerseits wie filigran und vielschichtig die Zusammenhänge sind und andererseits wirft das Buch für den praktisch denkenden Leser die Frage auf, wie können wir das umsetzen? Gemessen an dem Vorgehen des Neoliberalismus seit den 1950iger Jahren (Gründung der Mont-Pelérin-Society) fehlt heute der politisch-ökonomische Figurenkreis, der die seit 1972 erkannten und notwendigen Strategien so herunterbricht, dass man damit vor das ‚staunende Publikum‘ mit einer zündenden Zusage zur nachhaltigen Entwicklung treten könnte. Selbst wenn es gelänge, diese Aussage zu formulieren, wäre sie angesichts der durch den Neuliberalismus „gezüchteten“ (R. D. Precht) und oftmals internalisierten Denk- und Verhaltensweisen der Menschen erfolgreich? Wäre es denkbar und machbar, dass diese Strategie genau jene Menschen anspricht, die Aristoteles als jene identifiziert, die nicht den Idealen der „Kaufmannsseele“ folgen. Meine These lautet, dass die ‚Kaufmannsseelen‘ bei genauerer Betrachtung zwar ökonomisch erfolgreich, aber zahlenmäßig in der Minderheit sind. Die durch den Gedanken des Wettbewerbs geprägte, aggressive Denk- und Handlungsweise der Minderheit lässt die Mehrheit der Menschen nur nicht zu Wort kommen.

Der Neoliberalismus hat versucht, soviel wie möglich zu deregulieren, hat aber gleichzeitig Institutionen geschaffen, die es Politik und Wirtschaft möglich machen, Verantwortung oder besser Verantwortlichkeit und politischen Druck auf diese neu geschaffenen Institutionen zu übertragen. Ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt hierbei ist der Markt, der im Grunde nur ein Mechanismus ist, aber den die Politik geschickt einsetzt, um schwierige und gewissermaßen politisch unangenehme Entscheidung nicht treffen zu müssen. Die Entscheidung überlässt man dem anonymen Markt. Und die Politik und die Wirtschaft können sich auf die Regelung herausreden, dass das nicht zu ändern sei, es sei eben alternativlos der „göttliche Markt“. Wenn wir wieder unser Schicksal angesichts der fehlenden Nachhaltigkeit in unsere eigenen Hände nehmen wollen, müssen solche Ausreden, die seit über zwanzig Jahren die Politik beherrschen, als solche erkannt und auch thematisiert werden. Und das muss so thematisiert werden, dass es eine Mehrheit versteht und als richtig und angemessen anerkennt.

Hier liegt ein großer Unterschied zwischen Ökologie und Ökonomie, insbesondere wenn sich letztere als alternativlos darstellt. Die Ökonomie hatte sich in eine Position gebracht, in der sie ungeniert von den „Gesetzen der Ökonomie“ sprechen konnte, ohne dass gewichtige Kreise aufgemuckt und dieses Ansinnen zurückgewiesen hätten. Ökonomie ist ein soziales Konstrukt und es gibt dort keine „Gesetze“, die nicht von Menschen gemacht und deshalb beeinflusst werden können. Der Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ist in dem kapitalistischen Ökonomie-Ansatz nicht vorgesehen. Die Realisierung der Nachhaltigkeit wird uns durch die teilweise selbst geschaffene Krisenentwicklung aufgedrängt und wir stehen vor der Aufgabe, wie im ökonomischen Denken sinnvoll Nachhaltigkeit verankert werden kann. Maja Göpel vermittelt die Erkenntnis, dass das möglich und wünschenswert ist. Das Problem beginnt aber im Kopf – wir müssen das alte, überholte, mittelfristig nicht mehr haltbare Weltbild durch ein anderes, moderneres ersetzen. Der Weg dorthin ist mit einer Vielzahl von neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen gepflastert, was aber m.E. fehlt, ist ein Narrativ, dem es gelingt, diese Erkenntnisse einer Mehrzahl von Menschen als „das Huhn“ zu präsentieren, „das nachhaltige Eier legt“. Und auch noch erstrebenswert ist. „Golden“ müssen die „nachhaltigen Eier“ nicht sein, aber das gilt es zu vermitteln. Das ist die Umwertung aller Werte. Die ‚neuen‘ Werte existieren schon; sie existieren vielfach schon seit Jahrhunderten, aber die falschen und nicht nachhaltigen Werte dominieren immer noch die gegenwärtige Arena. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir die Umwertung realisieren, ich bin mir aber nicht sicher, ob uns die Zeit bleibt, hier geordnet den „Mindshift“ umzusetzen.

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Postneoliberalismus u. Klimakrise – gibt es einen Zusammenhang?

Ende Juli 2021 veröffentlichte die Vereinigung von Wissenschaftsvertreter einer „Real World Economics“ ihren Review Nr. 96 im Internet mit Beiträgen zum Thema „Post-Neoliberalismus“ (rd. 250 Seiten) und will damit zum Ausdruck bringen, dass der Neoliberalismus zumindest in ihren Kreisen mehrheitlich wohl ausgedient hat. Real World Economics war m.E. nie Mainstream. Wir werden jedoch noch eine ganze Weile mit den Ideen des Neoliberalismus leben müssen bis die Vertreter dieser Auffassung der biologischen „Extinction“ zu Opfer gefallen sein werden.

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Jamie Morgan (Universität Leeds, UK) hat den Einführungsaufsatz für den Review geschrieben und führt u.a. aus (eigene Übersetzung): „Was haben wir mit den erstaunlichen Fortschritten in Wissenschaft und Technologie und mit der Zeit von vierzig Jahren gemacht? Wir haben gelernt, mehr und schneller in Wegwerfkulturen zu konsumieren, um Arbeit zu fordern, um die Wirtschaft am Laufen zu halten und in denen Wachstum zum expliziten Ziel geworden ist, als wäre dies das notwendige Korrelat von „Fortschritt“. Die Kollateralschäden dieser beobachtbaren Mechanismen und Trends waren Schuldenabhängigkeit, ein unter Druck stehendes Arbeitsleben, das zunehmend die psychische und physische Gesundheit beeinträchtigt, und beobachtbare Verteilungsfolgen.“

Nach einer ausführlichen Diskussion der Folgen des Neoliberalismus für die Gesellschaft stellt er u.a. vier Punkte für einen Post-Neoliberalismus vor (S. 17f., eigene Übersetzung):

  1. Ökonomie ist das Studium der sozialen Vorsorge (…). Eine Ökonomie ist in eine Ökologie eingebettet und es gibt materielle Grenzen der Entwicklung, die nicht ignoriert werden können(… ). Ökonomie ist eine ethische Wissenschaft. Die Wirtschaft ist integraler Bestandteil politischer Prozesse (…). (Sie) ist immer auch politische Ökonomie.
  2. Die Ökonomie ist (…) pluralistisch. Pluralismus ist letztlich eine Verpflichtung, die auf dem anerkannten Wert konstruktiver Auseinandersetzung (…) beruht. (…) Sie wurzelt in der Komplexität, Kontingenz und Formbarkeit der sozialen Realität.
  3. Die soziale Realität ist ein integriertes Ganzes (…). Ihre Erkenntnisse sollten dann mit denen anderer Sozialwissenschaften übereinstimmen, (…).
  4. Die Ökonomie (…) stellt Realismus und Relevanz vor Präzision. Sie anerkennt, dass es viele Methoden gibt, die Einblicke in ein wirtschaftliches Problem geben können. (…) Dabei anerkennt sie, dass die Fähigkeit, Theorien zu konstruieren sowie Methoden zu bewerten und anzuwenden, ein kritisches Bewusstsein erfordert.

Diese stark gekürzten Ausführungen sind positiv und sehr konstruktiv formuliert und vielleicht zu kurz gefasst, um einem allgemeinen Leser die weitreichenden Konsequenzen verständlich zu machen. Im Grunde fasst diese Aufstellung die Defizite der Mainstream-Ökonomie zusammen. Sie können jeden Satz ins Negative drehen und schon sind sie beim realen Zustand der Ökonomie. Die Entwicklung lässt aber hoffen. (vgl. www.real-world-economics.com )

Mein Eindruck ist, dass auch der Klimawandel und auch die Folgen der Pandemie zu dieser veränderten Sichtweise beigetragen haben. Die Mainstream-Ökonomie war und ist nicht in der Lage, angesichts des Klimawandels sinnvolle und umfassende Lösungen vorzuschlagen. Die Idee einer großen Transformation überfordert die Methodik und das Selbstverständnis der Disziplin. Sie verheddert sich in ihrem eigenen Gedankengebäude und kann begrifflich nicht zum Kern des Problems vorstoßen, weil der Zugang ideologisch verbaut wurde.

2020 hat Maja Göpel ihre Leserschaft aufgefordert, die „Welt neu zu denken“. Ohne Frage ist es ein gelungenes populärwissenschaftliches Buch. Auf ihrer Website fand ich dann ihre Veröffentlichung „The Great Mindshift“ (2016), die als Epub oder PDF unter Open Access kostenfrei zum Herunterladen und Lesen zur Verfügung gestellt wird. Die Ausführungen haben leider einen Nachteil: Es gibt das Buch m.W. nur in englischer Sprache. Deshalb bin ich längere Zeit darum herumgeschlichen und habe mich erst entschlossen, mich der Sache anzunehmen, nach dem ich mich mit dem „Real World Economics Review“ wieder ins Englische habe einführen lassen.

Maja Göpel versteht sich als Verfechterin einer großen Transformation, die notwendig ist, um auf die Herausforderungen des Klimawandels i.w.S. eine Antwort zu finden. Ihr Ansatzpunkt sind nicht irgendwelche Modelle, die sie detailliert kritisiert. Sie geht aufs Ganze. Sie fordert einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel (Mindshift) und macht sich auf, diese Notwendigkeit daran festzumachen, dass sie die elementaren Grundlagen, das Paradigma der Mainstream-Ökonomie, radikal in Frage stellt. Sie ist der Meinung, dass sich die Ökonomie in eine entfernte Ecke der Sozialwissenschaften so verrannt hat, dass sie da ohne grundsätzliche Veränderung ihrer Methodik nicht mehr heraus kommt.

Der Ansatz von Göpel spricht von eingebetteten Systemen (embedded systems) und meint dabei, dass die Führungsrolle, die die Mainstream-Ökonomie beansprucht, zu Unrecht besteht. Göpels Ansatz unterscheidet mindestens drei Systeme: das soziale, das ökologische und das ökonomische System, die gleichberechtigt nebeneinander stehen („embedded“). Die Realisierung von Veränderungen dürfen in allen drei Systemen keine dysfunktionalen Effekte auslösen. Als Folge dieser Sichtweise wird die Ökonomie ihre heute bestimmende Machtstellung verlieren.

Gegenwärtig haben wir eine Ökonomie, die in vielen Fällen die Politik dominiert, weil sich ökonomische Denkkategorien in unser tägliches Leben oft unbemerkt eingeschlichen haben. Wir leben gegenwärtig unter einem ‚Regime‘, dass etwa folgende Abstufungen toleriert: Wirtschaft als erste Priorität, dann die Politik und als Additiv können auch ökologische Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Die Wirtschaft entscheidet, was gemacht wird, die Politik sekundiert in aller Regel diensteifrig und die Ökologie wird in dem globalen Spiel als weitgehend störend empfunden. Ökologisch notwendige Maßnahmen werden gemäß des herrschenden Paradigmas nach ökonomischen Kriterien einer kurzfristigen Nutzen-Kosten-Analyse beurteilt und haben keine Chancen, diese Sichtweise zu durchbrechen, weil die ökonomischen Kriterien für sich in Anspruch nehmen, die einzig richtige Rationalität zu verkörpern.

Das Problem ist nur, dass genau diese Kriterien uns absehbar vor die Wand fahren, weil durch diese Sichtweise das Problem Klimakrise als Reaktion auf die Ausblendung externalisierter Faktoren entstanden ist. Um diese Faktoren wieder Teil der Entscheidungen und des Handelns zu machen, braucht es einen Paradigmenwechsel. Ökonomie muss über ihren Schatten springen und die Externalitäten nicht ausblenden, sondern zum Gegenstand ihrer Modelle (ihres Denkens) machen. Das bedeutet, dass die Ökonomie in manchen Fragen fünfzig oder hundert Jahre in ihrer Methodengeschichte zurückgehen müsste, um die Leitgedanken neu zu entwickeln.

Weil diese Externalitäten in unserer gegenwärtigen Ökonomie modelltechnisch keine Rolle spielen können, hat unsere Wirtschaftsweise dazu geführt, dass wir uns u.a. mit einer Klimakrise befassen und uns von kompetenter Seite vorrechnen lassen müssen, dass zur Fortführung unseres Lebens- und Wirtschaftsstils statt des einen Planeten umgerechnet und je nach Argumentation zwei oder drei Planeten von Nöten wären. M.a.W., die Wirtschaft hat ihren Führungsanspruch leichtfertig verspielt, weil sie keine Lösung bereitstellen kann, wie diese Mangel überbrückt werden könnte.

Was heißt das? Gegenwärtig hat uns unser Wirtschaftsverständnis in eine Lage manövriert, dass wir mehr vom Planeten verbrauchen, als uns zusteht oder wir gegenüber künftigen Generationen rechtfertigen können. Gesucht wird also ein zukunftsfähiger, ökologisch sicherer „Betriebsrahmen“, in dem sich Wirtschaft abspielen kann. Damit wird klar, dass sich die Entscheidungskaskade grundlegend ändern muss: die politischen Governance (Führung) hat einen ökologisch sicheren „Betriebsrahmen“ zu schaffen, den sie der Wirtschaft zur Verfügung stellen kann. Der Rahmen wird nur in ganz engen Grenzen verhandelbar sein. Ob unser politisches Personal gegenwärtig diesen Governance-Anforderungen intellektuell gewachsen ist, muss hier offen bleiben.

Die Mainstream-Ökonomie hat keine realistischen Vorstellungen, wie das anstehende Problem „Klimakrise“ gelöst werden soll. Man kann auch davon sprechen, dass die Denkweise (das Paradigma) aufgrund dessen wir uns in das Problem hineingeritten haben, kaum dafür taugt, kreative Lösungen zu bieten. Seit Jahrzehnten redet man von Entkopplung der Wirtschaft von den Grenzen, die die realen Ressourcen uns setzen. Diese Entkopplung ist physikalisch-energetisch einfach nicht darstellbar.

Die Mainstream-Ökonomie glaubt nun, durch die Schaffung von unterschiedlichen Formen von Kapital die Nachhaltigkeit erfassen zu können. Ganz entscheidend steht aber m.E. die Monetarisierung der realen Welt einer Lösung im Wege. Alle realen Dinge werden durch die Monetarisierung nicht mehr direkt angesprochen, sondern bekommen ein Preisschild, weil man glaubt, über den Preis die Dinge des Lebens vereinheitlichen zu können. Man verliert dadurch ein Stück weit den Bezug zur Realität: ein Euro bleibt ein Euro, aber die dahinterstehende Qualität geht dabei verloren: Ein Euro Brot ist nicht das gleiche wie ein Euro Strumpf. Die Reduktion von Realität ist bei der Monetarisierung gewaltig; als Folge wird die Bedeutung der Realität schlicht unterschätzt und verschwindet aus dem Blick der Handelnden.

Wie kommt die Monetarisierung in die Ökonomie? Die folgenden Argumente sind nicht neu, sie folgen in den wesentlichen Teilen sinngemäß den Ausführungen von Maja Göpel.

Die Mainstream-Ökonomie macht von dem Begriff „Bedürfnisse“ nicht oft Gebrauch, sondern hat stattdessen den Begriff „Nutzen“ übernommen. Da es keinen (greifbaren) „Utility“ (Nutzen) gibt, wurde die abstrakte Nutzenformel in Geld umgesetzt: „Die Kaufentscheidungen der Menschen geben an, was sie wollen und der Preis bzw. die Zahlungsbereitschaft gibt an, wie hoch der Nutzen auf ihrer Präferenzliste steht.“

Im Mainstream-Paradigma sind Handel und Tauschhandel die Essenz aller Beziehungen. Menschliche Existenz bedeutet folglich, die eigene Bilanz ständig zu verbessern. Damit dieses Modell funktioniert, wird davon ausgegangen, dass die Akteure diese Verbesserung rational vornehmen, obwohl dieses Paradigma nur eine sehr enge, im Grund unrealistische Definition von Rationalität zugrunde liegt: Es wird so verstanden, dass der Entscheider alle möglichen Strategien kennt, die in einer bestimmten Situation verfügbar sind, und er die Ergebnisse jeder dieser Maßnahmen kennt – einschließlich des Verhaltens anderer – und er die Rangfolge aller möglichen Ergebnisse gemäß den Präferenzen, gemessen am Nutzen (Geld), bestimmen kann. Ein Ding der Unmöglichkeit, aber Grundlage von vielen Entscheidungsmodellen.

Nach all den Mainstream-Modellen ist mehr Produktion immer die bessere Alternative und der bezahlte Preis soll den Nutzen anzeigen, der durch den Konsum dieser Produktion gewonnen wird. Die politischen Schlussfolgerungen sind einfach: Um den (in der Vorstellung der Mainstream-Ökonomie) unbegrenzten Bedürfnissen heutiger und künftiger Generationen gerecht zu werden, bedeutet es, die Produktivität ständig zu steigern. Dies war das Hauptziel der Politik und des Geschäftsgebarens. Diesem Verhalten werden jetzt ökologische Grenzen gesetzt. Die Irritation ist dabei riesig. Was dabei mit den (wirklichen) menschlichen Bedürfnissen geschieht, ist nicht Teil der Modelle, sie gelten aber der Einfachheit als grundsätzlich unbegrenzt. Letztere Annahme stimmt nicht:

In einem Interview erklärte Manfred Max-Neef, dass eine Rückkehr zur Erfahrung, anstatt theoretische Modelle abzuleiten, ihn zu dem Schluss brachte, dass wir eine völlig neue Sprache brauchen, um besser zu verstehen, was die Menschen wirklich brauchen.

Um zu verdeutlichen, welche grundlegenden menschlichen Bedürfnisse er stattdessen beobachtete, hat Max-Neef eine Matrix entwickelt. Die Matrix begrenzt die Zahl der existentiellen menschlichen Bedürfnisse auf etwa neun. Er argumentiert nicht, dass die Liste der neun existenziellen Bedürfnisse endgültig oder in Stein gemeißelt ist, aber er ist zuversichtlich, dass eine Änderung dieser Grundbedürfnisse bestenfalls sehr langsam erfolgen würde.

Wenn wir tief genug graben, stellen wir fest, dass Glück ein existenzielles Gefühl ist, das eigene Leben und seine Herausforderungen im Griff zu haben. Weder der Nutzen eines Produkts noch das Glück einer Person lässt sich an dem Preis messen, den die Menschen für etwas zu zahlen bereit sind. Wenn man jedoch ständig Kosten und Nutzen berechnet und sein Leben durch den Vergleich von Zahlen als Ausdruck von Werten lenkt, verlieren die Menschen ihren Sinn für Wertschätzung (also Qualität), Verbundenheit und Fürsorge.

Wer noch weitere Gesichtspunkte entwickelt haben möchte, der wende sich dem 3. Kapital von Göpels „The Great Mindshift“ (2016) zu. Wer sich mit der englischen Sprache schwertut, kann den Google Translator des Internets verwenden. Aber Achtung, wenn er etwas nicht zuordnen kann, springt er in den nächsten Satz. Die Übersetzung hat dann Lücken, die Sie durch Eigenarbeit wieder füllen müssen.

Insgesamt ein anspruchsvolles Buch, aber die Mühe lohnt sich.

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Entscheidungsfreiheit oder Sachzwang

Bei wirtschaftlichen Entscheidungen sollte man die Mikroökonomik von den makroökonomischen Zusammenhängen abgrenzen. Um es plastischer werden zu lassen, müssen wir die lokale (regionale) Wirtschaft der „nationalen“ (oder globalen) Ökonomie gegenüberstellen. Und wir werden feststellen, dass es viele Entwicklungen gibt, die auf lokaler Entscheidungsebene erstaunlich gut funktionieren, auf nationaler Ebene mangels einer sinnvollen systemischen Führung sich dysfunktional entwickeln.

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Was auf lokaler Ebene als ein Sieg der Freiheit der Entscheidung gefeiert wird, kann auf die nationale Ebene übertragen, einem Desaster gleichkommen. Insbesondere dann, wenn der nationale (oder globale) Aktionsraum nicht mehr grenzenlos erscheint; er war es nie, aber wir konnten es uns aber lange leisten, so zu tun als ob es hier keine Grenzen gäbe. Das gilt für die scheinbar unbegrenzte Verfügbarkeit von Ressourcen, das gilt für die Erwartung gesunder Lebensverhältnisse, ausreichender Räume zur Erhaltung der Artenvielfalt, und das gilt auch für die Idee der Globalisierung, die sich oft als Kolonialisierung mit anderen Mitteln entpuppt hat, u.a.m.

Wirtschaftssysteme besitzen entgegen der neoliberalen Weltsicht mit ihrem verfälschten Freiheitsbegriff eine klare Führung. Sie ist dadurch gegeben, dass zwar keine materiellen Ziele definiert werden, aber durch die Ideologie klare Verhaltensziele installiert wurden: Überzogener Individualismus, Egoismus, absolute Nutzen- bzw. Geldorientierung, und der Glaube an den ‚Glücksbegriff‘ des Utilitarismus im wirtschaftlichen Handeln reichen aus, um eine Moral zu etablieren, die den „Laden“ weitgehend lenkt und ethisch auf eine Einseitigkeit festlegt, die fatal ist.

Wir müssen als Gesellschaft immer wieder von neuem sicherstellen, dass die lokalen Teilsysteme nicht das Ziel des übergeordneten Systems unterwandern. Das setzt voraus, dass es in der Gesellschaft ein Ziel gibt, das breite Zustimmung findet. Wenn ich unsere Verfassung richtig interpretiere, so können wir wohl den Gedanken des Gemeinwohls als rudimentäres Gesamtziel verstehen. Hier werden jetzt manche Leser tief durchatmen und ihre Sorge zum Ausdruck bringen, dass die bürgerliche Freiheit bzw. die „freie Marktwirtschaft“ in Gefahr seien. Sie springen schnell in ihre vorbereiteten „Schützengräben“ und die Argumente werden stereotyp.

Wir sind uns einig, dass Freiheit ein hohes Gut ist, aber lasst uns woanders beginnen: Die erste Frage ist doch, ob die Freiheit des Einzelnen, der egoistisch seinen Nutzen für sich beansprucht automatisch zu einem Zustand führt, den eine große Mehrheit der Gesellschaft als das „höchste erreichbare Glück“ (auf Erden) erfahren kann. Das ist vereinfacht die Idee des Utilitarismus und wesentlich auch Grundlage unseres gegenwärtigen neoliberalen Ökonomieverständnisses. Ob diese Idee tatsächlich stimmt, hat noch niemand belastbar nachgewiesen. Die Idee ist unter idealen Bedingungen zwar denkbar, aber keinesfalls mit den begrenzten Eigenschaften konkreter Menschen umsetzbar:

  • Alle Beteiligten müssten sich auf Augenhöhe begegnen, sie haben die gleichen Rechte und könnten diese auch tatsächlich wahrnehmen.
  • Alle Beteiligten müssten einsichtig (freiwillig) akzeptieren, dass ihre persönliche Freiheit dort endet, wo die Freiheit des Nächsten beeinträchtigt ist.
  • Bei der Verfolgung ihres persönlichen Nutzens müssten sie die Rechte der anderen Beteiligten achten und müssten wechselseitig fair und im Sinne des guten Willens handeln.

Jeder, der ein bisschen Lebens- und Wirtschaftserfahrung mitbringt, weiß, dass diese Ideen und Ideale im täglichen Leben (leider oft) zum Scheitern verurteilt sind. John Maynard Keynes hat diesen Sachverhalt aus seiner Perspektive sinngemäß kommentiert: es besteht die Frage, ob der Glaube realistisch sei, dass die widerwärtigen Motive von widerwärtigen Menschen auf irgendeine Art die besten Ergebnisse in der angeblich besten aller möglichen Welten bringen werden. Keynes hat die Frage klar verneint. Und nicht nur er.

Es gibt dabei noch ein weiteres Moment, das diese verabsolutierte Idee der Freiheit ins Wanken bringt, weil die zugrundeliegende Annahme von einer freier Entscheidung in Frage steht: die Forderung nach Freiheit entsteht immer erst dann, wenn der Einzelne sich in Gesellschaft bewegt. Den solitären Menschen berührt diese Fragestellung naturgemäß nicht. Wenn wir uns von der territorialen Aufteilung dieser Welt freimachen, so können wir ohne große Theorie feststellen, dass die Freiheit des Einzelnen mit wachsender Bevölkerungsdichte dieses Planeten tendenziell laufend abnimmt:

Die Menschheit zählte 1950 auf diesem Planeten etwa 2,5 Mrd. Menschen; heute sind wir etwa beim Dreifachen und für 2050 liegen die Schätzungen bei 10 bis 11 Mrd. Menschen. Bezogen auf die Freiheit des einzelnen können wir sagen, dass die Freiheit, die dem einzelnen bei gleichbleibendem Raum zugewiesen werden kann, seit 1950 objektiv geringer geworden ist. Unter ökonomischen Gesichtspunkten sollte die verbliebene Freiheit für den einzelnen zwar deutlich wertvoller, aber deren Ausübung keinesfalls einfacher geworden sein. Es wird nun Einwendungen geben, dass man Freiheit als einen qualitativen Begriff so nicht abhandeln kann. Dem würde ich gerne zustimmen, wenn ich eine andere Form der Darstellung des virulenten Problems gefunden hätte.

Der Gedanke lässt sich ja noch weiter spinnen: Die Folgen der Klimakrise laufen der Bevölkerungsentwicklung entgegen – auf der einen Seite wächst die Bevölkerung und auf der anderen Seite reduzieren sich durch die Klimakrise Schritt für Schritt jene Flächen, auf denen Menschen künftig gefahrlos ihren Lebensmittelpunkt bzw. ihr Auskommen finden können. Als Folge wurde weltweit eine gewaltige Migrationswelle ausgelöst. Die Menschen suchen nach Chancen, einen sicheren Platz zum Leben zu finden und nehmen dabei auch größte persönliche Freiheitseinschränkungen in Kauf.

Man kann nun auf der dogmatischen Seite stehen und der Auffassung sein, diese Fakten können doch unser abgehobenes Verständnis von („unserer“) Freiheit nicht in Frage stellen. Als ob es eine deutsche oder europäische Freiheit und eine (andere) Freiheit Afrikas oder Indiens gäbe. Hier sitzen wir im gleichen Boot. Wir haben nur den eindeutigen Vorteil, dass wir es uns leisten können, das Boot nur als Metapher zu sehen, während die vielen anderen das Boot sehr konkret nutzen müssen, um ihr Überleben zu sichern.

Nun ist der weitere Gedanke ganz einfach: je weniger Anteile an Freiheitschancen global auf den Einzelnen entfallen, desto mehr Gewicht erhält die persönliche Freiheit, die es zu erhalten gilt. Und je weniger Freiraum für den einzelnen übrig bleibt, desto interessanter und wichtiger wird die Frage, wie Politik aussehen müsste, die unter diesen Rahmenbedingungen unser Zusammenleben künftig formt und reguliert.

Heute gehen wir davon aus, dass die Politik ihr politisches und wirtschaftliches Handeln ganz wesentlich auf eine Art „Laissez-faire“ beschränkt sieht, die eventuell durch Anreize und Vorschläge, aber keinesfalls durch Verbote Einfluss nehmen will. Dabei herrscht unverändert der Glaube vor, dass die „Tyrannei der kleinen (dezentralen) Entscheidungen“ (siehe oben) das Glück der Welt quasi automatisch schafft. Voraussetzung wäre auch, dass für diese Vorgehensweise grundsätzlich genügend Freiraum bestünde, um die erwarteten Vorteile der Freiheit zu nutzen.

Die Fehlerhaftigkeit dieses Gedankens wird besonders offensichtlich, je mehr wir uns der wachsenden Begrenztheit unseres Lebensraumes bewusst werden. Und diese Einschränkungen folgen aus Sachzwängen, die niemand bewusst will oder anstrebt. Sie sind m.E. eine Folge der „Tyrannei der kleinen dezentralen Entscheidungen“ von der viele immer noch glauben, dass damit unsere Zukunft als Gesellschaft  gestaltet werden könne.

Die noch sehr junge Transformationswissenschaft diskutiert hierzu u.a. folgende Lösung: die Freiheit der „kleinen (und dezentralen) Entscheidungen“ soll weitgehend erhalten bleiben. Stattdessen sollen große gesellschaftliche Entscheidungen, vergleichbar mit „Führungslinien“ oder „Leitplanken“, dafür Sorge tragen, dass sich die allgemeine Entwicklung in eine für das Gesamtwohl gewünschte bzw. sinnvolle Richtung entwickelt. Wir haben heute schon unbemerkt „Leitplanken“ aufgrund von Sachzwängen geschaffen, die uns über die „Tyrannei der kleinen Entscheidungen“ immer wieder in zahllose kleine Sackgassen geführt haben.

Statt des Versuchs unser Handeln mit vorausschauender Weitsicht zu verbinden, führen die kurzfristigen und kurzsichtigen, kleinräumigen und egoistischen Tagesentscheidungen uns Stück für Stück in immer größere Sachzwänge, die das Gegenteil einer Freiheit der Entscheidung darstellen, weil die Zahl der noch möglichen Alternativen ständig geringer werden.

Freiheit drückt sich auch in der Fähigkeit aus, bewusst zwischen Handlungsalternativen zu entscheiden. Sachzwänge vernichten Schritt für Schritt (oft unbemerkt) an jeder Ecke ein wenig mehr von unserer Freiheit. Eine sinnvolle Form der Führung kann Sachzwänge zwar nicht ausschließen, aber der Versuch, weitsichtiger und sachlich begründeter zu handeln, reduziert die Zahl und die Heftigkeit der entstehenden Sachzwänge.

Die Politik  – so mein Eindruck – schätzt im Grunde Sachzwänge. Sie entheben die Politik nämlich der Notwendigkeit Entscheidungen treffen und umsetzen zu müssen. Sachzwänge sind deshalb auch ein Mittel der Politik, wenn sie sich nicht traut, offen Stellung zu nehmen. Der Sachzwang schafft Fakten, die viele (vielleicht sogar die meisten) achselzuckend akzeptieren. Der Sachzwang ist, so gesehen, ein in Aktion umgesetzter ‚fremder‘ Wille, der jedoch die Freiheit der Entscheidung allgemein einschränkt. Es fehlt ihm die demokratische Legitimation. Und nur selten steht jemand auf, und findet die Kraft, diese quasi faktische Entwicklung in Frage zu stellen.

Nüchtern betrachtet ist unsere vieldiskutierte Entscheidungsfreiheit durch das Ausblenden grundsätzlich bekannter längerfristiger Konsequenzen mangels Urteilskraft ein trunkenes Torkeln von Sachzwang zu Sachzwang. Und das wird uns dann viel zu oft als ‚Freiheit‘ verkauft.

Die Idee der Leitplanken ist nun nichts anderes als eine bewusste und politisch gewollte, rechtzeitige Entwicklung von existentiellen „Sachzwängen“. Im Unterschied zu der „Tyrannei der kleinen Entscheidungen“ werden hier „Leitplanken“ und ihre Folgen hinsichtlich großer gesellschaftlicher Entscheidungen sichtbar gemacht. Die „Leitplanken“ werden von wissenschaftlicher Seite mit der Verpflichtung zur Unabhängigkeit als Alternativen ausformuliert, die absehbaren Konsequenzen neutral dargestellt und begründet, und zur öffentlichen Diskussion gestellt. Den Rahmen der Diskussion muss die Politik bereitstellen.

Die vorgestellten „Leitplanken“, die in dem diskutierten Stadium ja regelmäßig auch noch gestaltbar sind, erlangen durch diese Vorgehensweise eine gewisse demokratische Legitimation zur Umsetzung. Der wissenschaftlich orientierte Einfluss abseits des direkten politischen Klienteleinflusses der Parteien und der dort oft angesiedelten großen finanziellen Interessengruppen gibt der Diskussion hoffentlich eine neue Wendung zum Besseren mit der Chance, dass die Diskussionen mit mehr Vernunft auf einem der Problemstellung angemessenen Niveau zuführen.

Was heißt das im Einzelnen? Je komplexer unsere Lebensumstände werden, desto wichtiger wird das langfristige Urteil der Wissenschaft. Wir merken es in der Pandemie, wir merken es bei der Digitalisierung, bei den Kriterien zur Künstlichen Intelligenz (KI), in einer Medizin, die leider statt Patienten nur noch Kunden sehen will; wir spüren, dass der Klimawandel nicht mehr durch schöne politische Formulierungen umgangen werden kann. Es darf nicht noch mehr geredet, sondern es muss endlich gehandelt werden.

Die Politik hat m.E. über die letzten dreißig Jahre ihre Glaubwürdigkeit hinsichtlich der notwendigen und insbesondere richtigen Maßnahmen verspielt. Die Zukunftskommission Landwirtschaft hat beispielsweise jüngst einen (einstimmigen) Konsens über die Entwicklungsziele der Landwirtschaft herbeigeführt, den eigentlich die Politik hätte schaffen müssen. Die einzig beteiligte Politikerin machte sich nach meinen Informationen durch Verweigerung der Mitarbeit einen Namen. Diese und ähnliche Entwicklungen nähren die Erwartung, dass wir im Sinne einer Verbesserung der ‚Governance‘ unsere politischen Strukturen verbessern, ergänzen oder umstrukturieren müssen.

Eine Idee wäre ein interdisziplinärer Wissenschaftlicher Beirat, dem die Aufgabe zufiel, als „Watchdog“ (Wachhund) nüchtern und und unaufgeregt (ohne das übliche Empörungsritual) darüber zu wachen, dass die Politik (in ihrem Kleinklein und ihren „Vier/Fünf Jahres-Legislaturperioden“) nicht die großen und langfristigen Zusammenhänge aus den Augen verliert. Der Beirat hätte das Ziel, unsere staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen laufend danach zu durchleuchten, wo sich Entwicklungen abzeichnen, die im Hinblick auf das Gemeinwohl aus dem Ruder laufen könnten.

Das ist eine heikle und schwierige Aufgabe, weil nicht nur Veränderungen festgestellt werden, sondern auch das sehr allgemeine Ziel ‚Gemeinwohl‘ in operationale Parameter zerlegt werden müsste. Diese Zielaufgliederung in sinnvoll erachtete Einzelparameter ist aber selbst wieder in Abhängigkeit von den Ergebnissen eine hoch politische Bewertung. Deshalb wird neben der Untersuchung der Zusammenhänge immer wieder auch die Frage auftauchen müssen, ob der Parameter noch als sachgerecht anzusehen ist.

Diese Watchdog-Funktion des Beirats hätte den Charme, dass regelmäßige sachliche Berichte (alle zwei oder drei Jahre) erstellt würden, die nicht nur den leitenden Gremien zugestellt werden, sondern deren Konsequenzen sowohl in der wissenschaftlichen Community als auch in der interessierten Öffentlichkeit intensiv diskutiert werden. Das hätte zur Folge, dass die Berichte so formuliert und ausreichend erläutert werden müssen, dass sie nicht nur von Akademikern gelesen und verstanden werden können.

Durch die öffentliche Diskussion dieser Berichte hat die Politik die Chance, sich die richtigen Fragestellungen zu erarbeiten. Die Politik gewinnt dabei die Chance, aus ihrer Blase herauszutreten und zu erfahren, was unter Beachtung stichhaltiger sachlicher Argumente zukunftstauglich sein könnte. Dabei bleibt noch genug Raum für konkrete Politik. Aufgrund des Evidenzgebotes der Wissenschaft könnte die Politik aber inhaltlich einen gewaltigen Sprung nach vorne machen. Es wäre zu hoffen, dass die ganz alten Zöpfe und fatal schlichten Glaubenssätze als Folge mangelnder Urteilskraft aufgrund besserer Information und neuerer Erkenntnisse endlich abgeschnitten werden. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Der Irrtum wird deshalb nicht ausbleiben können, aber allein die Offenheit gegenüber dem Irrtum wäre ein großartiger Gewinn im gesellschaftlichen Diskurs über unsere Zukunft.

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