Kapitalismus und Marktwirtschaft sind zwei Begriffe, die im Grund nichts miteinander zu tun haben, obwohl sie gerne gemeinsam marschieren. Einige knappe Ausführungen von Ulrike Herrmann aus einem Vortrag im Jahre 2014 verschaffen u.U. mehr Klarheit.
» weiterlesen
Unser Wirtschaftssystem vor dem Kapitalismus war handwerklich geprägt. Selbst große Bauvorhaben wie die Sakralbauten der Gotik (in den Jahren 1150 ff.) wurden durch handwerklich geprägte Wirtschaftsformen errichtet. Es gab zwar mechanische Unterstützung (Kräne und andere Hebewerkzeuge), um die Kraft des Menschen zu vervielfachen. Aber Grundlage des Handelns blieben die menschliche Arbeitskraft und deren intelligenter Einsatz.
Auf den vorkapitalistischen Märkten trafen sich viele Anbieter und viele Konsumenten. Der Markt war die regionale Plattform, auf der sich Angebot und Nachfrage trafen. Da diese Märkte im heutigen Sinne relativ ‚vollkommen‘, sie also transparent, relativ atomistisch und für jedermann überschaubar waren, bildeten sich Preise, die der Mehrzahl der Marktteilnehmer ein Auskommen sicherten, aber die Schaffung von Vermögen war nur langfristig und in kleinen konsequenten Schritten möglich, weil in nahezu ‚vollkommenen‘ Märkten keine außergewöhnlichen Renditen zu erzielen sind. Dazu waren diese Märkte viel zu transparent.
Trotzdem gab es schon in jener Zeit sehr reiche Kaufleute (z.B. die Fugger, die Welser u.a.). Die Erklärung könnte darin liegen, dass diese Familien zweifelsohne ihre Anfangsvermögen und ihren gesellschaftlichen Einfluss über die Märkte aufgebaut haben. Ab einer gewissen Höhe des Vermögens und des damit ausgeübten Einflusses wurden diese Großkaufleute für die damalig Mächtigen interessant, weil sie den Eindruck vermitteln konnten, deren ehrgeizige Projekte (meistens Kriege) finanzieren zu können. Die dort zu erzielenden Renditen waren (wie auch heute) mit den Renditen der klassischen Märkte nicht zu vergleichen und wer zu diesem ‚Macht-Spiel‘ Zugang hatte und die Regeln beherrschte, konnte Vermögen anhäufen, die für damalige (und auch heutige) Vorstellungen außergewöhnlich waren. Man sieht schon hier, dass der Reichtum dieser ‚Leuchttürme‘ der Wirtschaftsgeschichte mit dem Markt nur am Rande zu tun hat. Der regionale Markt war der Tummelplatz für die nichtpriviligierten Teilnehmer des täglichen Wirtschaftsgeschehens. Wer es sich leisten konnte, mied diesen Markt als zu arbeitsintensiv, zu wettbewerbslastig und zu wenig rentabel.
Ulrike Herrmann verlegt in einem Vortrag den Beginn des Kapitalismus in die Jahre um 1760. Ihre Begründungen für diese Feststellung sind technologischer Natur. Die Erfindungen zur Energiegewinnung und die technischen Erfindungen der Mechanik, die nur durch die Energiebereitstellung zur Entfaltung kommen konnte, verändern die wirtschaftliche Landschaft grundlegend. Nach der Sklavenarbeit der ‚Unfreien‘ wurden die ersten technischen ‚Energiesklaven‘ (ein Begriff von Niko Paech) geschaffen, indem man menschliche Arbeitskraft durch externe Energiezufuhr und die menschliche Geschicklichkeit durch präzise mechanisch-repetitive Abläufe ersetzte oder zumindest äußerst wirksam ergänzte.
Die Beschäftigung von Menschen war und ist nicht besonders kapitalintensiv. Alle handwerklichen Aktivitäten reduzieren sich auf eine Kombination von Mensch und Material im Zeitpunkt der Leistungserstellung. Die Vorleistungen sind gering. Erst die neue Technologie, die Großanlagen erforderte, verlangte nach einer anderen Vorgehensweise. Die finanziellen Startsummen, die sich zur Bewältigung solcher Projekte als notwendig erwiesen, erforderten Finanzmittel, die nur mit staatlicher Unterstützung z.B. in Form von Abnahmegarantien denkbar und möglich waren. Sonst wäre niemand im Lande bereit gewesen, diese hohen Risiken bei völlig neuen Strukturen einzugehen.
Hier beginnt die bis heute andauernde Symbiose von Staat und Kapitalismus. Es wird dabei deutlich, dass es zwar Märkte gibt, sie aber mitnichten dazu dienen, Preise festzulegen. Dieser öffentlich gestützte Großanlagenbau ähnelte eher einem Monopol, bei dem die Preise durch den Produzenten frei festgelegt bzw. deren Preise eine gewisse Abhängigkeit zum angestrebten Umsatz aufwiesen. Die Monopole haben aber durch die Skaleneffekte aufgrund des erstmals realisierten Massengeschäftes und durch die Abnahmegarantien des Staates so günstige Gestehungskosten umsetzen können, dass trotz der Monopolstruktur die Preise so attraktiv niedrig waren, dass sich im Lande Unternehmen entwickeln konnten, die auf dieser Energie-Grundversorgung aufbauen und ihre industriellen Produktionen schrittweise in alle Zweige der damaligen Industrie übertragen konnten.
Die Umsetzung der neuen Technologie benötigte Kapital in einem Umfang, dass es nachvollziehbar ist, dass Kapital zu dieser Zeit als knapp eingestuft wurde. Man verfügte über ausreichend natürliche Ressourcen, Arbeitskräfte und Know-how. Einzig das Kapital war der Engpass. Die Institutionen, die zu dieser Zeit über Kapital verfügten, verlangten für die Bereitstellung von knappem Kapital einen entsprechenden hohen Preis. Aus dieser Zeit rührt die Vorstellung des Kapitalismus, dass das Kapital grundsätzlich als knapp zu betrachten sei. Als Folge entwickelt sich zu diesem Zeitpunkt auch das Verständnis, dass das Kapital gegenüber allen anderen Ressourcen zur Bewältigung einer wirtschaftlichen Aufgabe eine Bevorzugung verdiene. Der Kapitalist hatte sich damit in Stellung gebracht und hat diese Position bis zur heutigen Zeit halten können, obwohl die Bevorzugung nicht mehr nachvollziehbar ist, insbesondere in einer Zeit, in der Geldkapital im Überfluss um den Erdball schwappt.
Der Kapitalist baute im Gegenteil seine Stellung noch weiter aus. Da die (vorgebliche) Knappheit des Kapitals die Wirtschaftsprozesse etwa zwei Jahrhunderte lang dominierte, hat der Kapitalist die Möglichkeit genutzt, innerhalb der wirtschaftlichen Kombinationsprozesse seine Einzigartigkeit entsprechend herauszustellen und klarzumachen, dass das Kapital so knapp sei, dass er, der dieses knappe Gut bereitstellt, legitimer Weise auch den Löwenanteil aus der Wertschöpfung der Wirtschaftsprozesse beanspruchen könne.
Ergänzt wird dieses Argument, dass er im kapitalistischen System in Vorleistung gehe und damit ein besonderes unternehmerisches Risiko trage. Vorleistung heißt dabei, dass er sein Vermögen heute einsetzen muss, um künftige, aber tendenziell unsichere Erträge erwirtschaften zu können. Diese Sichtweise ist theoretisch nicht falsch, vernachlässigt aber die Tatsache, dass die Kapitalvertreter natürlich immer bemüht sind, Absprachen zu treffen und Einfluss zu nehmen, um dieses Risiko zu minimieren. Da es sich bei den großen Unternehmen tendenziell um Monopolisten handelte, war auch immer sichergestellt, dass der Staat stützend und schützend im Hintergrund mitwirkte.
Diese oben genannte Vorleistung war dann der Ausgangspunkt für die Entwicklung des kapitalistischen Systems und seinen besonderen Eigenheiten. Wenn der Kapitalist nicht schon aus anderen Quellen über Vermögen verfügt, muss er die Vorleistungen über Kredit finanzieren. Das Produkt enthielt nach Fertigstellung anteilige Kosten aus Vorleistungen, die Materialkosten, die Löhne und Gehälter usw. Auf diese Kosten schlug der Unternehmer seine Gewinnerwartungen auf und ging mit diesem Preis auf den Markt. Wer waren seine Abnehmer? Es waren die anderen Unternehmer und die abhängig Beschäftigten mit ihren Masseneinkommen. Aufgrund der Kalkulation wissen wir, dass die Löhne und Gehälter aber nur einen Bruchteil des Produktpreises ausmachen. Wenn der Unternehmer also seine komplette Produktion zu seinem angestrebten Preis zu Geld machen will, fehlt systematisch ein Betrag, der nach landläufiger Vorstellung durch Verschuldung der Abnehmer gedeckt werden muss. So wie der Kapitalist u.U. einen Kredit aufnehmen musste, um seine Vorleistungen zu finanzieren, muss jetzt der Konsument einen Kredit aufnehmen, um die Ware abnehmen zu können und stellt dadurch sicher, dass der Kapitalist als erstes Glied in der Kette den Kredit für seine Vorleistungen zurückzahlen kann. Damit wird der kapitalistische „Schuldentanz“ eröffnet. Es bleibt immer eine Lücke, die durch Schuldaufnahme eines Folgegliedes in der Kette temporär gedeckt werden muss. Hier taucht erstmals der Begriff Wettbewerb auf. Die Kapitalisten stehen bei der Schuldendeckung wechselseitig im Wettbewerb um die zahlungsfähigen Abnehmer. Bei der systembedingten Lücke werden immer einige scheitern müssen. Den Letzten beißen die Hunde!
Diese Sichtweise erklärt einerseits die Dynamik des Kapitalismus, aber andererseits auch die Tatsache, dass der Kapitalismus aus dieser Falle nicht herauskommt. Die Schulden müssen im System immer weitergegeben werden. Die Schuld wird erst dann gelöscht, wenn am Ende eines der Kettenglieder bereit und fähig ist, die Schuld aus bestehendem Vermögen auszugleichen. Denn immer, wenn eine Schuld kontrahiert wird, gibt es mindestens einen Schuldner und einen Gläubiger und letzterer bekommt das Geld ausbezahlt. Das erklärt, warum die Vermögensverteilung sich so rasant und schief entwickelt. Auf der einen Seite steigen laufend die Schulden beim Staat und bei den Nichtpriviligierten (Bezieher von Masseneinkommen), während die damit verbundenen Gelder bei den Vermögenden kumuliert werden können. Solange die Schuldenlast als erträglich verstanden wird, werden Staat und Nichtpriviligierte immer ärmer und die Vermögenden immer reicher. Das läuft bis zu einem Kulminationspunkt, an dem der Staat und die verbleibenden ‚Habenichtse‘ die Waffen strecken müssen. Dann muss ein Schnitt vorgenommen werden, dort, wo das Geld sich aufgehäuft hat. In der Vergangenheit bezeichnete man so etwas als ‚Lastenausgleich‘.
Es gibt Aussagen, dass in kapitalistischen Systemen etwa alle 70 Jahre dieser Schnitt ansteht, wenn nicht Kriege oder vergleichbare Auseinandersetzungen diese Frage anderweitig lösen. Die 70 Jahre gelten inzwischen als abgelaufen und es gibt zahlreiche internationale Versuche, den Schnitt abzuwenden, indem man nicht den Lastenausgleich anstrebt, (der für die Vermögenden schmerzhaft, aber gesellschaftlich fair wäre); stattdessen leitet man seit den 90iger Jahren Schritt für Schritt die kriegerische Option ein. Dazu muss man die betroffenen Menschen hinführen, indem durch die Betonung des Rassismus (wir sind die Besseren), durch globale Bedrohungsszenarien (Terror und Stellvertreterkriege) und die aggressiv geführten Verhandlungen zwischen den Machtblöcken und ihren Vasallen Feindbilder aufbaut.
Was dem geneigten Leser vielleicht aufgefallen ist: Vom Markt war hier eigentlich selten die Rede. Wenn der Markt definitionsgemäß der Ort ist, an dem Angebot und Nachfrage zusammentreffen, so ist der Markt so selbstverständlich, dass sich daraus keine normativen Sollstellungen ableiten lassen. Der ‚vollkommene‘ Markt der Theorie, der sich wohl noch in kleinen Nischen halten kann, hat aber für die Wirtschaft in keiner Weise preisbildende Funktion. Er hat diese Funktion wohl praktisch auch nie gehabt, auch nicht als wir noch von einer sozialen Marktwirtschaft gesprochen haben. Die Preise bestimmen die Konzerne als quasi Monopolisten untereinander anhand ihrer individuellen Umsatzbedürfnisse und alle anderen Marktteilnehmer richten sich danach aus und suchen ihre Chancen wahrzunehmen.
Selbst wenn wir ein anderes System anstelle des Kapitalismus verwenden würden, würde das nicht zwangsläufig einen Einfluss auf den Austausch von Angebot und Nachfrage (auf den Markt) haben. So wie das handwerklich geprägte vorkapitalistische Wirtschaftssystem funktionierte und seine Märkte besaß, so wird deutlich, dass auch eine postkapitalistische Wirtschaftsform mit ziemlicher Sicherheit Märkte verwenden wird, weil es eine Form der Kommunikation ist, auf die wir nicht verzichten können und wollen.
Ein anderes Problem ist die zunehmende Kommerzialisierung zwischenmenschlicher Transaktionen. Märkte funktionieren über Preise. Jedes gehandelte Wirtschaftsgut hat oder erhält einen Preis, der Grundlage der Transaktionen ist. Wenn nun Wirtschaftskreise im Kapitalismus zu der (begründeten) Auffassung gelangen, dass die bestehenden Märkte keine nennenswerte Volumensteigerung mehr zulassen (also Wachstum ausbleibt), dann kommen sie konsequenter Weise auf die Idee, den Markt nicht mehr nur auf die geschaffenen Wirtschaftsgüter zu beziehen, sondern den Markt auf Sachverhalte auszuweiten, die sich bisher einem Markt bewusst oder unbewusst entzogen haben. Diese Kreise versuchen nun Märkte zu schaffen, wo niemand die Notwendigkeit von Märkten vermutet. Man geht hin und versucht Sachverhalte ‚knapp zu reden‘, um Wettbewerb auszulösen, denn wenn die Dinge nicht als knapp darstellbar sind, sind sie markttechnisch und finanziell uninteressant.
Und hier verknüpfen sich jetzt der Markt als Marktwirtschaft und das kapitalistische System. Der Kapitalismus verkörpert das ständige Streben nach mehr (mehr, schneller, höher), um der Schuldenfalle zu entkommen. Wenn die bestehenden Märkte ausgereizt sind, droht die Kapitalismus-Falle zu zuschnappen. Der Kapitalismus hat nun zwei Alternativen: a) er weitet gezielt den Marktgedanken zur Marktwirtschaft auf Dinge und Sachverhalte aus, die z.B. bisher keinem Markt unterliegen oder b) er manipuliert seinen potenziellen Abnehmerkreis in einer Weise, dass sie glauben, mehr konsumieren zu müssen. Die zweite Alternative ist mit hohen Kosten verbunden und der Erfolg ist nicht gesichert. Die erste Alternative richtet sich z.B. schwerpunktmäßig auf die heute noch mehrheitlich öffentliche Grundversorgung, die unter öffentlicher Verwaltung steht. Das ist die medizinische Versorgung, das ist der Auf- und Ausbau von Infrastruktur, das ist der Bildungssektor und das ist in Teilen auch der Kulturbetrieb. Das Argument der Marktwirtschaftsvertreter ist dabei nicht der Hinweis auf das fehlende Wachstum in den angestammten Märkten, sondern eine alte Leier: „Wir können es besser und billiger.“ Den gültigen Beweis sind sie aber bis heute schuldig geblieben.
» weniger zeigen