Alle Beiträge von Volker Frühling

Infrastruktur – noch einmal!

Wir haben ein Infrastrukturproblem. Die veröffentlichten Wirtschaftsdiskussionen drehen sich nach neoliberaler Ideologie um die Frage, wie wir den gebeutelten deutschen Unternehmen in der sich möglicherweise abzeichnenden Rezession helfen können: es werden Steuersenkungen und neue Subventionen heiß diskutiert. Das Infrastrukturproblem wird immer wieder beiseite geschoben, weil die gewichtige Funktion der Infrastruktur in der ökonomischen Theorie überhaupt nicht vorkommt. Infrastruktur wird vorausgesetzt, sie hat einfach da zu sein. Und genau da beißt sich die Katze in den Schwanz.

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Die Funktion des Staates wird nur unter der Prämisse der Steuererhebung betrachtet. Und es wird unterstellt, dass die Steuern nur deshalb erhoben werden, um viele „unproduktive“ Dinge zu realisieren. Die Tatsache, dass unsere Gesellschaft (und nicht nur die Wirtschaft) über diese Maßnahme Investitionen tätigt, die dafür Sorge tragen, dass die vielen und unterschiedlichen Geschäftsmodelle unserer Wirtschaft realisiert werden können, wird als unbeachtlich betrachtet. Und das schon seit mindestens 35 Jahren:

Der Abgeordnete der Linken, Viktor Perli, hat neben seinen Aufgaben als Bundestagsabgeordneter sich mit der Frage beschäftigt, wie verläuft eigentlich die deutsche Nettoinvestitionsquote in den letzten 35 Jahren (vgl. SZ, 7. Februar 2025, S. 14). Es wäre Aufgabe der Bundes- und Landesregierungen, sich dieser Frage zu stellen. Sie wird nicht gestellt, weil vermutlich das Ergebnis so niederschmetternd ist, dass man dieses Fass ab besten gar nicht aufmacht.

1990 verfügte Deutschland noch über eine Nettoinvestitionsquote von etwa 10% des Bruttoinlandsproduktes (BiP). Im Jahre 2024 beläuft sich die Nettoinvestitionsquote nur noch auf 0,4%. Die Nettoinvestitionsquote erfasst dabei die getätigten öffentlichen und privaten Investitionen abzüglich der Abschreibungen und setzt diesen Betrag der Nettoinvestitionen ins Verhältnis zum BiP. Die SZ überschreibt dieses Bild mit der Überschrift: „Deutschland fährt auf Verschleiß“.

Um sich den Inhalt dieser dürren Zahlen klar zu machen, muss man sich ein Unternehmen vorstellen, bei dem in jedem Jahr das Anlagevermögen schrumpft, weil die Abschreibungen auf den Bestand die Summe der Neuinvestitionen überschreitet. Wer sich jemals mit dem Gedanken getragen hat, ein Produktionsunternehmen zu erwerben, schaut als erstes auf das Anlagevermögen und versucht grob zu überschlagen, wie alt das produktive Anlagevermögens einzuschätzen ist. Bei Unternehmen wird der Anschaffungswert der Investitionen vor Abzug der kumulierten Abschreibung aufgezeigt. Wenn der Restwert (Nettowert nach Abzug der Abschreibungen) unter 50 % der Anschaffungskosten liegt, ist das ein Punkt, dem der potenzielle Erwerber kritische Aufmerksamkeit widmen wird, weil der Verdacht besteht, dass das Unternehmen über mehrere Jahre schon nicht mehr ausreichend investiert hat. Und das zeigt die Nettoinvestitionsquote auf (einer etwas anderen) Basis des BiPs.

Wenn man davon ausgeht, dass in den letzten 35 Jahren die privaten Investitionen aufgrund der Tatsache, dass unsere Wirtschaft in dieser Zeit recht gut verdient hat, wohl mindestens auskömmlich gewesen sein müssen, bleiben nur die öffentliche Investitionen übrig, um die Talfahrt der Nettoinvestitionsquote zu erklären. Und wo sollte der Staat investieren? – natürlich in seine Infrastruktur! 1

Aus der Relation von Nettoinvestitionen und Bip lässt sich jedoch sehr klar ablesen, dass die Politik als das Organ, das als Mindestanforderung die Funktionsfähigkeit unseres Gemeinwesens im Auge behalten muss, hier in den letzten 35 Jahren zunehmend versagt hat. Selbst dann, wenn man der Politik keine führende Aufgabe zubilligt, sondern die bequemere Rolle einer Dienstleistung unterstellt, ist das Ergebnis unzureichend. Die Dienstleistung besteht ja gerade darin, dafür zu sorgen, den „Laden“ zumindest am Laufen zu halten.

Die Schuld ausschließlich den Politikern in die Schuhe zu schieben, ist zu einfach. Aus meiner Sicht gibt es mindestens zwei Gründe für diese Entwicklung: eine historische und eine strukturelle Perspektive.

Die historische Perspektive ist relativ schlicht. In den vergangenen etwa 200 Jahren haben immer wieder aufflammende Kriege dafür gesorgt, dass die Frage der Überalterung der Infrastruktur kein wesentliches Thema der Politik war. Jetzt haben wir es geschafft, in Europa bis zum Einmarsch von Putins Soldaten in die Ukraine so etwas wie einen fragilen Frieden zu erhalten. Damit wird aber auch die Frage nach dem Alter der Infrastruktur virulent. Die Frage war bisher durch regelmäßig auftretende kriegerische Zerstörungen überflüssig, weil die Infrastruktur in nahezu jeder Generation wieder neu aufgebaut werden musste.

Die strukturelle Perspektive fordert m.E. zwei Fragen heraus:

1. Ist die Infrastruktur überhaupt Gegenstand des ökonomischen Diskurses oder ist das ein Fall, über den alle Welt redet, aber über den aus unerfindlichen Gründen keine adäquate theoretische Untersuchung und Beurteilung stattfindet und

2. sind unsere Verwaltungsstrukturen und die dort verwendeten Hilfsmittel zur Überwachung in der Lage, den jeweiligen Zustand der Infrastruktur angemessen zu beurteilen?

Zu 1: Mein Eindruck ist, dass die Fragestellung, die um die Infrastruktur kreist, in der theoretischen Ökonomie wenig Bedeutung hat. Meine Begründung dazu ist recht simpel gestaltet: Ich habe Google und die KI „Phind“ in Anspruch genommen und nach einer wirtschaftlichen Bewertung der Infrastruktur gefragt. Die Reaktion war enttäuschend. Verwendbar war ein Gutachten aus Österreich (2010)2 und aus Münster (2008)3, die mir einige Ideen und Ansätze liefern.

Die Autoren der Gutachten versuchen Infrastruktur durch eine Klassifizierung diverser Formen von Infrastruktur (technische, soziale, usw.) zu beleuchten. Mir scheint ein anderer Ansatz sinnvoller.

Nehmen wir ein Produktionsunternehmen, so haben wir je nach Größe des Unternehmens Produktionslinien, die Produkte oder Teile eines Produktes herstellen. Nachdem der Unternehmensaufbau erfolgreich abgeschlossen ist, ist der Zweck des Unternehmens seine Produkte herzustellen und am Markt zu verkaufen. Intern kann man dann eine Produktionsfunktion und eine Funktion unterscheiden, die ich mit „Erhaltung der Infrastruktur“ umschreiben würde. Die Linie produziert und die Funktion der Infrastruktur ist es, sicherzustellen, dass die Linie ihre Aufgabe möglichst reibungslos erledigen kann. Ich beschreibe nicht irgendwelche „Trümmerstücke“, sondern ich gehe davon aus, dass mit der Infrastruktur die Funktion oder die Aufgabe verbunden ist, dafür Sorge zu tragen, dass ein bestehendes Primärsystem sich seiner Funktion zuwenden kann und das Infrastruktursystem dabei die Funktion realisiert, dass das Primärsystem „reibungslos“ seine Aufgabe wahrnehmen kann. Systeme haben den Vorteil, dass sie auf eine Funktionserfüllung gerichtet sind und nicht immer wieder Einzelfälle beschrieben werden müssen. Infrastruktur ist nach dieser Vorstellung ein System zur Systemerhaltung. An der materiellen Struktur des Unternehmens muss sich dadurch nichts grundsätzlich ändern. Nur für einen Teil des Unternehmens ändert sich die Perspektive zu einer Aufgabenstellung durch die neue Funktion zur Erhaltung der Infrastruktur. Es geht nicht mehr um Auf- und Ausbau des Primarbereiches, sondern um die Erhaltung und Entwicklung der unbedingt dazugehörigen Infrastruktur.

Man kann diesen Ansatz auch grob mit einer Kostenrechnung vergleichen. Die Hauptkostenstellen sind die Produktionslinien. Das unverzichtbare System zur Erhaltung der Infrastruktur wird in der Kostenrechnung gewissermaßen durch die sogenannten Gemeinkosten repräsentiert, die anfallen und nach unterschiedlichen Kriterien auf die Hauptkostenstellen verteilt werden, damit die Kosten der Erhaltung der Infrastruktur dem Produkt angemessen zugerechnet werden können.

Der Gesichtspunkt der Infrastruktur wird oft bei der Diskussion von Wirtschaftsfragen übersehen. Es ist die Frage, welche Bedeutung die Qualität der (öffentlichen) Infrastruktur für den Erfolg von Wirtschaftsunternehmen hat? Großmann und Hauth kommen zu dem Schluss, dass „Infrastruktur (…) alle Einrichtungen (u. a. Verkehr, Energie, Telekommunikation, Bildung, Gesundheitssystem, Rechtssystem) umfasst, die für ein reibungsloses Funktionieren von modernen, arbeitsteiligen und hoch spezialisierten Volkswirtschaften notwendig sind. Durch die besonderen Merkmale von Infrastruktur, wie z. B. die Netzeigenschaft bei Straßen, Rohr- oder Energieleitungen, wo der Nutzen des gesamten Netzes die Summe des Nutzens seiner Einzelkomponenten übersteigt, aber hohe Fixkosten bei der Erstellung vorliegen (natürliches Monopol), kann Marktversagen ausgelöst und dadurch staatliche Intervention begründet werden.“

Die Infrastruktur ist also ein sehr weiter Begriff, ähnlich dem Begriff des Unternehmers oder der Wirtschaft, der viele Einzelaktivitäten erfasst, um sicherzustellen, dass unternehmerische Aktivität überhaupt möglich wird. Aber die Wertschätzung der Infrastruktur reicht bei weitem nicht an die Begrifflichkeit des Unternehmers oder der Wirtschaft heran, weil vielen nicht klar ist, dass ohne ein Infrastruktursystem unternehmerisches Handeln nahezu unmöglich ist. Man müsste die Bedeutung der meist durch das Gemeinwesen finanzierten Infrastruktur für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik auf Augenhöhe mit der unternehmerischen Aktivität betrachten. Das unterbleibt, weil sich Infrastruktur im Konkreten in zahllose Einzelaktivitäten auflöst, die bei keiner identifizierbaren öffentlichen Institution zusammen laufen.

Zu 2: Unsere Verwaltung ist hinsichtlich der Infrastruktur überfordert, weil wir zwar über ein Wirtschaftsministerium verfügen, aber die Kompetenzen für die Infrastruktur auf eine Vielzahl von Ministerien verteilt sind und jedes Ministerium hat so seine Lieblingsthemen. Infrastruktur rutscht da hoffnungslos durch die Ritzen. Jede Einzelmaßnahme in den Ministerien zur Infrastruktur mag unbedeutend und oft im Kreise der Ministerkollegen auch nur schwer durchsetzbar sein, aber wenn man die Vielzahl der Einzelmaßnahmen in den Ministerien zu einem Infrastrukturprojekt zusammenfassen würde, wäre die Bedeutung und das Gewicht der Infrastruktur für den wirtschaftlichen Erfolg offensichtlich. Und dann wird auch offensichtlich, dass die öffentlichen Nettoinvestitionen im Rahmen der Infrastruktur einfach aus dem ‚Radar‘ gerutscht sind. Und da es in der politischen Bürokratie kein Infrastrukturprojekt gibt, das die Notwendigkeiten zusammenfasst und für jeden Politiker erkennbar macht, wird kurzfristig hier nichts Wesentliches geschehen. Das offensichtliche Problem wird zwischen den Einzelinteressen der verschiedenen Ministerien zerrieben.
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1 Vgl. meinen Artikel „Unsere Infrastruktur könnte besser sein.“ in diesem Blog vom 14.2.2021.

2 B. Grossman u. E. Hauth, Infrastrukturinvestitionen: Ökonomische Bedeutung, Investitionsvolumen und Rolle des öffentlichen Sektors in Österreich, 2010

3 Centrum für angewandte Wirtschaftsforschung, Münster, Bedeutung der Infrastrukturen im internationalen Standortwettbewerb und ihre Lage in Deutschland, 2008

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Rezession?

Haben wir den richtigen Fokus? Die Gazetten landauf und landab sprechen von Angst. Aufgrund der Statistiken wird die Wirtschaftslage als beginnende Rezession interpretiert. Die Stimmung in der Bevölkerung ist recht mies. Die politische Entwicklung trägt auch nicht zur guten Laune bei. Eine überaus kurzfristige Sicht dominiert unsere EU-weite langfristig eingeleitete Entwicklung eines Umbaus der Wirtschaft hin zu energiesparenden Technologien, weil erkennbar ist, dass die fossile Grundlage keine Zukunft hat.

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Der Umbau lässt sich nicht nur als Erfolg gestalten, Wir können nicht erwarten, dass ein Umgestaltung ohne Verlierer erreicht werden kann. Aber wir müssen uns klar machen, dass einige alte Technologien verlieren werden, aber die neu entwickelten Technologien diese Einbußen mittelfristig ausgleichen können. Die Unternehmen, die von den alten Technologien gut gelebt haben, sind natürlich nicht bereit, das Feld kampflos zu überlassen. Sie drohen mit dem Verlust von Arbeitsplätzen, entwickeln gewaltige Zahlen und Schreckensszenarien und schüren damit die Angst. Und die Gazetten hinterfragen dieses Verhalten nicht, sondern greifen diese scheinbar griffigen und giftigen Argumente gerne auf.

Und die Politik ist im Wahlmodus. Es ist schwer, eine politisch ausgewogene Meinung zu gewinnen, wenn in vier Wochen eine Wahl ins Haus steht, bei der Versprechen gemacht werden, deren Finanzierung eigentlich nicht darstellbar sind.

Wenn die Ökonomen von Rezession sprechen, so gibt es dafür ziemlich einfache Regeln, aber ob diese Regeln auch dann gelten können, wenn wir in einem Umbau unserer Wirtschaft stehen, erscheint mir fraglich. Die Kennzahl für eine Rezession ist die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes, wobei der Zustand als Beginn einer Rezession eingestuft wird, wenn das BiP drei Mal in Folge nicht wächst. Wir bewegen uns um ein Nullwachstum herum und allein die Tatsache, dass es kein Wachstum gibt, lässt manchen Ökonomen schon ausflippen. Aber das sind statistische Mittelwerte über alle Branchen. Mit anderen Worten, es muss doch offensichtlich auch Bereiche geben, die sich gut entwickeln. Aber darüber spricht keiner. Gute Nachrichten sind offensichtlich wenig wert.

Europas Versuch eines Umbaus der Wirtschaft hat starke Gegner, insbesondere jenen Herrn, der mit „drill, baby drill“ glaubt, die Position der Vereinigten Staaten insbesondere dadurch auszubauen, dass er die fossilen Industrien puscht und dem Klimawandel keine Beachtung schenkt. China baut um, Indien baut um, Europa baut um – die USA meinen, sie können ihre Vorreiterstellung durch die Forcierung einer Industrie, die auf fossiler Energiegewinnung fusst, halten oder gar ausbauen. Ich habe da meine Zweifel. In vier Jahren ist Trump in seinem 83. Lebensjahr. Wenn seine Nachfolger dann feststellen müssen, dass das der komplett falsche Weg war, dann ist der Zug für „MAGA“ („Make America great again“) wohl endgültig abgefahren.

Was braucht unser Umbau, um schnell und erfolgreich ans Ziel zu kommen? Unternehmer, die begriffen haben, dass der Umbau riesige Chancen bereithält. Aber das ist nur die eine Seite. Unsere Gesellschaft muss über unsere staatlichen Strukturen auch eine Infrastruktur liefern, die eine solide Grundlage für eine positive Wirtschaftsentwicklung bereit stellt. Und hier bin ich im Zweifel, ob wir die Kurve kriegen.

Die Politik versteht sich als Dienstleister, wo Führung oder wenigstens eine Definition von „Leitplanken“ gefordert wäre. Das Konzept der Leitplanken ist schon über zwanzig Jahre alt und harrt auf seine Realisierung. Leitplanken ersetzen keine Führung, aber sie sind die Quintessenz aus Vergangenheit und Gegenwart, sind hoffentlich wissenschaftlich begründet und begrenzen negativ, was aus der Erkenntnis der Geschichte heraus für die Zukunft als Tabu gelten soll. Leitplanken versuchen Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und definieren einen wünschenswerten Raum für künftige Entwicklungen. Da Leitplanken aus Erkenntnissen der Vergangenheit zehren, müssen sie in bestehende Lebens- und Geschäftsmodelle eingreifen; also braucht jede Leitplanke, die eingeführt wird, eine Zeitspanne in der den bestehenden, jedoch schädlichen Modellen eine Chance zur Besserung einräumt wird. Die Leitplanken sind dann aber danach für die Träger der Modelle nicht mehr verhandelbar. Grenzen führen nur dann zur gewünschten Verhaltensänderungen, wenn sie fix oder absolut verstanden werden.

Die Wirtschaftspolitik redet gerne von „Anreizen“, die in aller Regel die Steuerzahler viel Geld kosten und oft nicht viel nutzen. Klare Grenzen sind auch eine Form des (negativen) Anreizes, sind aber in aller Regel finanziell deutlich günstiger und wirksamer. Sie erfordern aber Mut; daran fehlt es oft, weil ‚Grenzen setzen‘ gerne als Einschränkung der persönlichen Freiheit missbraucht wird. ‚Grenzen setzen‘ erfolgt doch nicht willkürlich, sondern in der Erwartung eines kollektiven Vorteils. Die Grenze sollte die persönliche Freiheit von Wenigen einschränkten und den Vielen sowie der Biosphäre und den künftigen Generationen Freiraum sichern.

Wir haben unsere Infrastruktur in der Nachkriegszeit massiv und erfolgreich aufgebaut und dabei, so scheint es, vergessen, dass Infrastruktur in die Jahre kommt und einen genauso massiven Erhaltungsservice verlangt. Brücken werden gesperrt oder stürzen sogar ein. Es scheint so, als ob diesem Fakt einfach zu wenig Beachtung geschenkt wird. Unsere Infrastruktur ist notleidend, teilweise, weil das Neue politisch als attraktiver wahrgenommen wurde als die Erhaltung und Pflege von bestehendem Vermögen. Erst die Forcierung der Nachhaltigkeit hat uns als Gesellschaft klargemacht, dass etwas schaffen, schnell nutzen und wieder wegwerfen keine sinnvolle Option sein kann. Der ‚schnelle‘ oft unnötige Umsatz (im Wegwerf-Modus) hat nicht nur viel Geld in die Kassen der Hersteller geschwemmt, sondern hat auch eine ganze ‚Reparatur‘- und Ersatzteil-Industrie zerlegt. Sie muss erst wieder mühsam aufgebaut werden und passt trotzdem nicht so recht in unsere Billig- und Schnäppchenwelt, mit der der Konsument täglich auf lästige Weise penetriert wird.

Schon seit vielen Jahren wird versucht, die bürokratischen Strukturen unserer öffentlichen Verwaltung zu straffen. Durchaus bekannte Politiker haben sich daran versucht und sind im Grunde gescheitert. Das Misstrauen gegenüber dem Bürger und der hoheitliche Modus sind diesen Strukturen nicht auszutreiben. Weniger Kontrollanstrengungen und mehr Kooperation wären wünschenswert. Wer dann glaubt, dass er die Verwaltung bei dieser geänderten Haltung hintergehen könne, muss dann auch hart angefasst werden können.

Auch die Digitalisierung ist ein Trauerspiel. Man spürt es insbesondere dann, wenn im Falle der Corona-Pandemie im Fernsehen zu erkennen war, dass dort dicke Listen im Stift und Papier geführt wurden, (wie vor hundert Jahren) und der Überblick ganz schnell verloren ging. Es muss eine digitale Grundstruktur in Deutschland geben, die einfach und effizient ist und die in Sonderfällen mit wenigen Handgriffen relevante Daten verknüpfen kann. Die Gebietskörperschaften haben sich an dieser Grundstruktur zu orientieren und können sie sinnvoll für ihre Zwecke ergänzen. Es kann aber nicht sein, dass jedes Land seine eigenen Strukturen aufbaut, die dann nur mit erheblichem Aufwand verknüpft werden können. Wir sollten nicht den Normalfall zu Grund legen, sondern den Notfall – wenn es gilt, deutschlandweit schnell und effizient, Anpassungen zu realisieren.

Die meisten dieser Punkte werden Sie mit ziemlicher Sicherheit in den bunten Parteiprogrammen nicht finden. Hier handelt es sich ja eine Aufzählung von Herausforderungen und in den Wahlprogrammen werden nur sogenannte Erfolgsmeldungen publiziert und von einer rosigen Zukunft geschwärmt. Die Realität wollen viele lieber nicht sehen, sie holt uns so oder so ein.

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Die Qual der Wahl

Die Ampel-Koalition hatte richtig erkannt, dass sich wohl eine Zeitenwende ankündigt. Das diese Zeitenwende nur sehr bedingt gelungen ist, hat viele Gründe. Wegen einem dieser Gründe werden wir im Februar 2025 wählen und die Parteien haben für die nächsten vier Jahre (und leider nicht darüber hinaus) ihre Vorhaben ausformuliert. Man könnte den Eindruck gewinnen, sie hätten in den letzten dreißig Jahren den Zustand der Bundesrepublik nicht mitverantwortet und die „Zeitenwende“ noch immer nicht kapiert. Sie haben scheinbar nichts oder nur wenig dazugelernt.

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Was der allgemeine Tenor der Parteiprogramme als Politikmix aufscheinen lässt, lässt sich am besten mit dem Begriff “Politik als Dienstleistung“ umreißen. Was aber nötig wäre, wäre eine politisch-demokratische „Politik der Führung“. Das ist in einer Demokratie deutlich schwieriger als nur eine „Dienstleistung“ bereit zu halten, die immer nur dann zum Zuge kommt, wenn der Karren droht, im Dreck stecken zu bleiben. Den Rest überlässt man lieber dem „Marktgott“, der es dann richten soll.

Intellektuell völlig daneben ist der angestrengte Dualismus „Staat vs. Markt“ oder noch krasser „Staat vs. Freiheit“, eine verhängnisvoll dumme Entwicklung. Man trennt hier etwas, was nicht zu trennen ist. Eine erfolgreiche Gesellschaft versteht es, Staat und Wirtschaft in einen sinnvollen Ausgleich zu bringen.

Was ist die Aufgabe des Staates? Neben vielem anderen ist es seine Aufgabe Infrastruktur vorzuhalten, weil sie den wirtschaftlichen und privaten Aktivitäten eine gesicherte Grundlage zu bieten hat. Ohne ausreichende Infrastruktur ist jede wirtschaftliche Aktivität und jedes komplexeres Geschäftsmodell obsolet. Haben wir eine vernünftige Infrastruktur, die diesem Anspruch gerecht wird? Ich würde das verneinen, weil wir ein Defizit in der Digitalisierung haben, in der Energieversorgung und bei der Bürokratisierung. Zur Infrastruktur gehört auch die Lösung der Renten- und Pflegeproblematik, unsere maroden Straßen und Brücken, nicht zuletzt auch der Wiederaufbau der von der Politik vor etwa dreißig Jahren bewusst kaputt sanierten Bundesbahn.

Die Pläne der Parteien sehen große Ausgaben vor, aber nicht für Infrastruktur, sondern für Steuersenkungen. Angesichts des Aufgabenüberhangs in Bezug auf die Infrastruktur fragt man sich natürlich, wo das Geld für die offenen Wunden der Infrastruktur herkommen soll, wenn riesige Geschenke in Form von Steuersenkungen gemacht werden. Nach meinem Kenntnisstand hat keine der Parteien zu diesem Phänomen ein ehrliches Wort verloren. Das Geheimnis wird erst nach der Wahl gelüftet.

Wir haben eine Zeitenwende. Das haben m.E. sowohl Teile der Politik als auch der Wirtschaft erkannt und auch verstanden. Die Populisten in der Politik tun so, als gelte das nicht für sie. Sie leben auf einem andere Stern, der einer Scheibe gleicht! Die Programme der sogenannten Alt-Parteien tun so, als ob es diese Zeitenwende und deren Konsequenzen nicht gäbe. Daraus ergibt sich die Qual der Wahl.

Alle Blicke richten sich gegenwärtig auf die Automobilindustrie, die zu spät die falschen Maßnahmen ergriffen hat. Neben den Details hat diese Industrie m.E. ihre ureigensten Ziele verraten: Das Ziel der Automobilindustrie ist es, einen wesentlichen Beitrag zur Mobilität zu leisten. Stattdessen hat sich diese Industrie den Profit zum alleinigen Leitstern erkoren und hat versucht, jene Produkte zu produzieren, die den maximalen Profit versprachen und haben dabei die Funktion der Mobilität aus den Augen verloren. Das haben andere einfach besser gemacht. Jetzt stehen tausende von Arbeitsplätzen zur Disposition und die politischen Wahlangebote einer große Zahl von Parteien beschränkt sich im Wesentlichen auf Steuersenkungen für Mittelstand und Wirtschaft. Was ist mit der Erhaltung der Kaufkraft? Man kann nicht nur dank Steuersenkungen billiger produzieren wollen, man muss auch dafür sorgen, dass Einkommen generiert werden, die es zulassen, die Produkte zu kaufen. Insbesondere, wenn aufgrund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit das Ausweichen in den Export schwieriger wird.

Der Bürokratieabbau wird seit Jahrzehnten diskutiert. Trotzdem haben sich seit dem Jahr 2000 die Bauvorschriften lt. einer Aussage eines Betroffenen vervierfacht, auch deshalb, weil jedes Land in Deutschland glaubt, seine eigenen Vorschriften entwickeln zu müssen. Aber das Bauen ist nicht 16-mal anders in dieser Republik. Setzt Euch zusammen, bestimmt einen sinnvollen Standard und der ist von allen Ländern (ohne Ausnahmen) zu realisieren! Sonderregelungen sind möglich, aber nur, wenn sie mit dem Bundesausschuss abgestimmt, vereinheitlicht und genehmigt werden.

Es fällt anlässlich der „Dry January“-Kampanie auf, dass in der Öffentlichkeit verstärkt darauf gedrungen wird, den Alkoholkonsum in der Getränkewirtschaft massiv zurückzudrängen. In der öffentliche Community wird rauf und runter zu Recht darauf hingewiesen, wie gefährlich der Alkoholkonsum leider generell eingestuft werden muss. Dagegen laufen die Hersteller Sturm, weil sich alkoholfreier Wein und Sekt aufgrund seiner geschmacklichen Schwäche nur schlecht vermarkten lässt. Bei Bier läuft es gegenwärtig offensichtlich besser. Alkoholfreie Biersorten wurden vielfach zu isotonen „Sportgetränken“.

Es gibt einen Dreiteiler in der ARD-Mediathek, der einerseits die Gesundheitskosten anführt, die der Alkohol auslöst und wie die Hersteller über Lobbyarbeit in der EU sicherzustellen versuchen, dass sich möglichst wenig ändert. Und die Gesundheitskosten sind gigantisch im Vergleich zum wirtschaftlichen Erfolg alkoholischer Getränke. Alkohol ist eine Droge und er muss auch als solche in der Öffentlichkeit erkannt werden. Man sucht auch dieses Problem mangels Lösungsansätzen wahrscheinlich vergeblich in den Parteiprogrammen.

Die Babyboomer gehen oder sind schon teilweise in Rente. Die Zahl der alten Mitbürger wird absehbar in den nächsten Jahren sprunghaft ansteigen. Die Rentenlast als auch die unweigerlich ansteigende Pflegelast bringen die Systeme an ihre Grenzen. Hat irgend eine Partei einen Vorschlag, wie das gelöst werden könnte, oder wo gibt es einen Hinweis, dass dieses Problem zur Lösung ansteht. Eher Fehlanszeige!?

Aber es werden gewaltige finanzielle Zusagen in Form von Steuererleichterungen in Aussicht gestellt, Wie soll das finanziell funktionieren? Was passiert, wenn die Populisten, wie immer wieder betont, es fertig bringen, Tausende oder gar Millionen sogenannter Migranten „abzuschieben“? Es fehlen uns schon heute Tausende von Arbeitnehmern, um den bestehenden Personalbedarf in Handwerk und Industrie zu decken.

Was bleibt, ist die Qual der Wahl, denn die „bunten“ Parteiprogramme umschiffen im großen Bogen die wirklichen Probleme unseres Landes und malen ein optimistisches Bild in falschen Farben. Das wird ein böses Erwachen geben. Deshalb ist es wichtig, wählen zu gehen. Wir können nur auf die Problemlösungsfähigkeiten der Parteien hoffen, wenn die Realität die „schönen“ Programme einholt haben werden.

Hans-Joachim Schellnhuber, Klimafolgenforscher (im SZ-Magazin vom 10. Januar) schließt in einem Beitrag über Klimawandel mit den Worten: „Schauen Sie zurück auf die 1930er Jahre. Geschichte kann schiefgehen. Es gab eine Zeit, als die Menschen entschieden, nicht auf die Fakten, nicht auf die Vernunft zu hören, sondern auf extreme Ideologien zu setzen. Deshalb sollte jeder sich Mühe geben, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Auch wenn es manchmal schmerzvoll, ja demütigend ist.“

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Ein erfolgreiches Neues Jahr!?

Das Jahr geht zu Ende. Wahlen stehen ins Haus. Dabei fragt man sich, ob die zur Wahl stehenden Parteien durchgängig den Ernst der geopolitischen Lage verstehen und verantwortlich agieren. Es gibt Stimmen, die den Eindruck erwecken als ob größere Teile der Wirtschaft verstanden haben, was ansteht. Der Umbau hat offensichtlich begonnen und wir müssen feststellen, dass wir darauf nicht vorbereitet sind. Es addieren sich die Folgen der Untätigkeit der letzten drei Jahrzehnte im Bereich der Infrastruktur mit einem energiebedingten Umbau der Wirtschaft, der uns geopolitisch plötzlich ein Tempo abverlangt, das die Mehrzahl unserer Politiker erst für die nächsten 20 Jahren erwartet haben (wenn überhaupt).

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Die zum Ausdruck gebrachte Ratlosigkeit der Politik drückt sich in einem Hin und Her aus: es werden Jahrzehnte alte Konzepte ausgegraben (z.B. Atomenergie) oder es soll der Neoliberalismus forciert werden, der auf Annahmen beruht, die eher religiös denn wissenschaftlich hinreichend begründbar sind. Der Neoliberalismus hat seine Schwächen in den vielen Krisen der letzten Jahre bewiesen. Der Markt soll es richten, aber ein funktionierender Markt braucht eine intakte Infrastruktur und klare Regulierungen, die in Zeiten des Umbaus Leitlinien für die Wirtschaft bereitstellen.

Wer glaubt denn, dass die großen Technologieumbrüche in den letzten zweihundert Jahren ohne eine massive staatliche Unterstützung erfolgt wären? Die wirtschaftlichen Risiken solcher Umbrüche werden von der Privatwirtschaft nicht übernommen. Die Kurzfristigkeit des ökonomischen Denkens braucht hier politisch längerfristige Unterstützung. Aber – wie viele Wahlperioden muss diese staatliche Unterstützung anhalten, um nachhaltig zu wirken? Das ist mit vier oder fünf Jahren nicht getan. Welcher Politiker traut sich, über diesen Zeitraum hinaus die Weichen zu stellen? Ist sich die Politik in diesen Grundfragen soweit einig, dass auch nach einem Regierungswechsel diese grundlegenden Entwicklungslinien eines Wirtschaftsumbaus künftig sinnvoll fortgesetzt werden können? Oder fangen wir alle vier bis fünf Jahre wieder mit der Diskussion von vorne an?

Und es ist wichtig!: Gehen Sie bitte wählen und wählen Sie mit Bedacht und Verstand. Und misstrauen Sie den einfachen Scheinlösungen, die uns die Parteien des Rechts Außen präsentieren wollen.

Ein frohes gesundes Neues Jahr!

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Bürokratieabbau – aber wie?

Die Kettensäge sollte man in einem prinzipiell funktionierenden, aber komplexen Staatsgefüge zuhause lassen. Argentinien hat komplett andere Problemlage als die USA oder Europa. Ebenso scheint Elon Musk nur bedingt für den Job zu taugen, für den Trump ihn „gebrauchen“ will. Musk ist ohne Zweifel ein Macher, aber ob er die filigranen Zusammenhänge einer bestehenden Struktur durchschaut und sinnvoll verändern kann, bleibt abzuwarten.

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Musk erscheint als Manager eher der Typ zu sein, der Bestehendes nicht geschickt korrigiert, sondern der gerne den einfacheren Weg des „Bulldozers“ nimmt: platt machen und dann insbesondere wieder mit viel Geld neu aufbauen. Klappt es, ist er der öffentlichen Bewunderung sicher, klappt es nicht, zieht er schnell weiter zu neuen Abenteuern. Es steht bei dieser Vorgehensweise viel auf dem Spiel. Das ganze System könnte aus den Fugen geraten und kollabieren. Und wir bewegen uns auf der Ebene von staatlichen Strukturen und nicht auf der Ebene von Unternehmen, bei denen ein solches Scheitern bitter, aber Teil des kapitalistischen Lebensrisiko ist. Und was viele Unternehmen nicht anerkennen wollen: Ohne eine funktionierende Infrastruktur fehlt die Geschäftsgrundlage unserer Wirtschaftsordnung und eine funktionierende Bürokratie ist wesentlicher Teil dieser Infrastruktur.

Also scheint es so einfach nicht zu funktionieren! Bürokratieabbau darf im ersten Schritt nicht bei der Bürokratie selbst ansetzen (bottom up), sondern muss dort ansetzen, wo die Grundregeln gemacht werden (top down), also bei den politischen Gremien.

Wir müssen uns darüber klar sein, dass Gesetze nicht nur nach der sachlichen Notwendigkeit entwickelt werden. In einem zu schaffenden Gesetz wollen die unterschiedlichen politischen Strömungen ihre Ideologie wiederfinden und vergessen dabei oft die sachliche Schlichtheit des Grundproblems. Welches Gesetzesvorhaben ist nicht durch die Interessen der diversen Lobbyisten geprägt? Schauen Sie sich z.B. die Mieterschutzgesetzgebung an: Wenn Sie hier ihre Rechte wahrnehmen wollen, verlangt das Verfahren vom Mieter viele Kontakte, die er bespielen muss, um die Voraussetzungen zu schaffen, um in den Genuss der Vorteile des Gesetzes zu kommen. Die Mehrzahl der berechtigten Mieter gibt auf, sein Recht einzufordern. Und das ist oftmals der intendierte Zweck der Übung! Die Vermieterseite gibt vor, mitzuspielen, sorgt aber durch hohe Mitwirkungshürden für den betroffenen Mieter, so dass das Gesetz möglichst selten zur Anwendung kommt.

Boris Palmer, Oberbürgermeister in Tübingen, hat in einer Stammtischsendung des BR ein Beispiel gebracht: Seit dem Jahr 2000 haben sich die Bauvorschriften grob gesprochen vervierfacht und er fragt sich zu Recht, ob sich dadurch die Bauqualität im vergleichbaren Maße verbessert habe? Dabei muss man wissen, dass im deutschen Föderalismus jedes Land seine eigenen Bauvorschriften herausgibt. Es gibt also 16 unterschiedliche Regelsätze für die Bauvorschriften. Das ist sachlich nicht nachvollziehbar.

In meiner aktiven Zeit habe ich öfters mit US-Managern zu tun gehabt und konnte immer wieder feststellen, dass die cleveren Damen und Herren immer dann. wenn es um Steuern ging, ihren ‚Drive‘ verloren. Da hörte plötzlich der übliche wirtschaftliche Interpretationsspielraum auf. Auf meine Rückfrage wurde ich aufgeklärt: Der US-Amerikaner (ebenso Unternehmen) erstellt die Steuererklärung auf eigene Verantwortung, d.h. die Steuererklärung wird von Amt wegen nur in wenigen Stichproben überprüft. Die US-Steuerverwaltung geht davon aus, dass der Steuerpflichtige ehrlich ist. Warum sind dann die US-Manager in Steuerfragen so vorsichtig? Ganz einfach: Die Steuerverwaltung vertraut der Erklärung des Steuerpflichtigen, schlägt aber ziemlich erbarmungslos zu, wenn sich hernach herausstellt, dass der US-Bürger (oder das Unternehmen) versucht hat, die Staatskasse vorsätzlich zu betrügen. Dabei sind die Strafen, die mir genannt wurden, existenzgefährdend, weil nicht die Schadenhöhe bewertet wird, sondern offensichtlich der Tatbestand des Betrugs an der Gesellschaft, also der Mangel an Ehrlichkeit. Ob das heute noch so ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber das dahinter stehende Prinzip halte ich hinsichtlich eines Bürokratieabbaus für bedenkenswert.

Parallel gibt es einen Artikel in der SZ (Wolfgang Jantsch, 7./8.12.2024) der ähnliche Ansätze vertritt. Er fordert die Realisierung des Prinzips der Verantwortung und meint, in dem bürokratischen Verhalten der öffentlichen Verwaltung ein grundlegendes Misstrauen gegenüber dem Bürger ausmachen zu können, was am Ende dazu führt, dass die Verwaltung mehr mit Kontrolle als mit der eigentlichen Problemlösung befasst ist.

Das von Jantsch postulierte „Prinzip Verantwortung“ würde davon ausgehen, dass im Grunde die Mehrzahl der Bürger an einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der Verwaltung interessiert ist und der Anteil, der sich hier verweigert, als klein zu bezeichnen ist. Niemand kann die Verweigerer verhindern, aber der krampfhafte Versuch der Verhinderung blockiert das Handeln der Bürokratie. Also leben wir lieber mit den Verweigerern und kehren das Positive heraus und lösen Probleme.

Das „Prinzip Verantwortung“ muss aber streitbar sein(siehe oben). Wer sich der Verantwortung als Bürger nicht stellt, muss mit dem Druck von Seiten der Rechtsprechung rechnen. Und der Druck muss beachtlich sein. Ehrlichkeit bzw. korrektes Verhalten muss sich dadurch lohnen, indem Bewegung in die öffentliche Bürokratie kommt. Es soll in anderen EU-Ländern öffentliche Verwaltungen geben, die nicht nur kontrollieren, sondern primär mit dem Bürgern und der Wirtschaft erfolgreich kooperieren.

Wenn wir von Bürokratie sprechen, sollten wir die kommerzielle Bürokratie nicht vergessen. Wer kennt nicht den Service kommerzieller Konzerne, der über Call-Center abgewickelt wird. Ein Service, der in der Regel nichts taugt, aber unter der Bezeichnung „Service“ läuft. Man kann Fragen dort abladen und erhält oft antrainierte Standardantworten, die aber das angesprochene Problem in der Mehrzahl der Fragen gar nicht lösen kann. Expertise sollte man dort nicht erwarten. Das Wort „Service“ wird dabei bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet.

Werden wir etwas abstrakter: Bürokratie kann man vergleichen mit einem Algorithmus. Ihre Effizienz und Präzision gewinnt die Bürokratie durch festgefügte wiederholbare Abläufe. In jeder Organisation gibt es nach herrschender Meinung ein bürokratisches „Herz“, das sicherstellen muss, dass gewisse Basisprozesse verlässlich immer gleich ablaufen. Die Umwelt dieser Organisation ist in aller Regel komplex. Und Komplexität ist sehr eng mit dem Begriff des Chaos verknüpft. Trifft die Komplexität der Umwelt ungefiltert auf das bürokratische „Herz“, versucht der bürokratische Organisationsteil oft vergeblich, sich der Komplexität anzupassen, wobei die Effizienz und die Präzision stark darunter leiden. Es braucht also einen Filter zwischen der komplexen Umwelt und dem bürokratischen „Herz“, dessen Aufgabe darin besteht, die Anforderungen einer komplexen Welt sinnvoll so zu kanalisieren, dass das bürokratische „Herz“ effizient und präzise seiner Aufgabe nachkommen kann. Diese Idee ist sicherlich mehr als 50 Jahre in der Diskussion, scheint sich aber in der Praxis bisher nur bedingt umsetzen zu lassen.

Hier wäre es m.E. denkbar, künftig mit künstlicher Intelligenz (KI) zumindest Teile der komplexen Einflüsse im Hinblick auf die Bürokratie zu kanalisieren. Dieser Eindruck drängt sich mir auf, weil ich mit der Telekom in Kontakt kam und eine sinnvollen Zugang für mein Problem suchte. Das Ergebnis war nicht befriedigend und recht zeitraubend. Aber KI soll ja auch besser werden können. Bis dahin ist der ‚face to face‘-Kontakt mit einer menschlichen Intelligenz unschlagbar schneller und erfolgreicher. Es kommt mir so vor, als ob Call-Centers weniger an den Problemen der Kunden interessiert sind, dafür aber jene Funktion einer hoffentlich sinnvollen Kanalisation von Komplexität für das „bürokratische Herz“ der Organisation übernehmen. Nur sollte man das nicht als „Kunden“-Service verkaufen, weil der Nutzen liegt doch eindeutig bei der Unternehmung.

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Konferenzen, Konferenzen…

Erst geht es in Baku um die Finanzierung von absehbaren Umweltschäden, nun in Südkorea um den Plastikmüll, ein nächster „wichtiger“ Termin ist absehbar und immer wird von Neuem erzählt, wie erfolgreich die jeweilige Konferenz war. Nur, konkret geschieht nichts und das ist frustrierend. Wie viel Nachsicht und Geduld sollen wir als Bürger noch aufbringen, dass es auf diesem Planeten Menschen, Organisationen, Nationen gibt, denen ihr persönlicher Geldbeutel so viel bedeutet, dass diesen Einrichtungen das Schicksal ihrer eigenen Spezies gleichgültig ist.

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Vor etwa fünf oder sechs Jahren, so meine Erinnerung, stand das Thema Plastikmüll in Deutschland schon mal auf der Agenda und die damaligen politischen Vertreter waren sich nicht zu schade, dieses Problem einfach dem Verbraucher in die Schuhe zu schieben, weil der Begriff „Verbraucher“ suggeriert, als ob hinter dieser Institution eine ‚Macht‘ stünde, etwas zu ändern. Dass die Mehrzahl der Verbraucher gezielt über einen falschen Freiheitsbegriff individualisiert und von Marketing und Werbung vor sich hergetrieben werden, wird geflissentlich übersehen.

Man folgt der Ideologie der Freiheit, indem man unterstellt, dass sich Verbraucher mehrheitlich frei entscheiden können. Das „Können“ will ich gerne akzeptieren, aber ob sie es auch angesichts der penetranten Einflussnahme von Marketing und Werbung durchsetzen können, bleibt offen. Würde die Wirtschaft Milliarden Euro in diese Maßnahmen stecken, wenn sie nicht nachweislich erfolgreich wären? Und da schließt sich der Kreis und es wird hoffentlich jedem Leser deutlich, dass diese ‚freiheitliche‘ Argumentation falsch und absolut unredlich ist.

Diese Fehler in der Argumentation hat man inzwischen erkannt, nur in neoliberalen Kreisen wehrt man sich vehement dagegen, weil dann zugegeben werden müsste, dass der Markt diesbezüglich zu regulieren sei. Das wäre ein Sünde wider dem Neoliberalismus. Die Konferenz in Südkorea hat diesen Punkt m.W. schon längst abgehakt: Es geht darum, die Produktion von immer neuem Plastik zu unterbinden bzw. erheblich einzuschränken.

Das ist aber nur der Teil des Problems, der dazu beiträgt, dass das Anwachsen der Plastikmüllberge gegen Null geführt wird. Der andere Teil der Herausforderung ist die Frage, was macht die Welt mit dem Gebirge (weil der Begriff ‚Berge‘ zu niedlich ist) von Plastikmüll, die heute schon existieren und dort aufpoppen, wo sie mehrheitlich nicht produziert werden. ‚Einsammeln‘ ist so eine laienhafte Reaktion, die wir im Kleinen aus jeder Säuberungsaktion unserer Umwelt kennen.

Und jeder kennt das befriedigende Gefühl, wenn ein Streifen Natur wieder ursprünglich und vordergründig müllfrei aussieht. Der gesammelte Müll wird dann in einer Größenordnung von 10 oder 20 Säcken dankenswerter Weise von der Stadtverwaltung entfernt (aus den Augen, aus dem Sinn). Das Problem ist aber nicht gelöst, nur verschoben.

Weltweit liegen viele Millionen Tonnen Müll in der „Landschaft“ (Meer, Flüsse inbegriffen), der größte Teil besteht aus Plastik. Plastik ist kein organischer Stoff, er löst sich zwar über die Zeit kleinteilig auf (Mikroplastik), aber eine Absorption in den natürlichen Kreislauf gibt es dort auf absehbare Zeit nicht. Also muss das Plastik eingesammelt werden, um es wieder aus der Biosphäre zu entfernen.

Wenn die Menschheit diese Aufgabe bewältigen will, muss sichergestellt sein, dass nicht vorne weggeräumt und hinten lustig weiterproduziert wird. Die Produktion muss nicht komplett untersagt werden, aber die verbleibende Produktionsmenge muss deutlich reduziert und strikt überwacht werden.

Wie müssen wir uns das vorstellen? Wer sammelt ein und wer trägt die Kosten? Was ist mit der Logistik – wo werden die nationalen Müllberge denn aufgeschichtet? Wer will denn da wohnen und leben in Zeiten, in denen die Unwetter an Stärke nachweislich zunehmen? Was ist, wenn der Müllberg im Starkregen anfängt wegzuschwimmen.Wenn ich da an das Polit-Theater mit den „Spargeln“ im Zusammenhang mit der Windkraft denke, oder an die Diskussion über das atomare Endlager, dann wird die Logistik zu einem nahezu unüberwindbaren Problem.

Dann werden die reichen Länder das Problem möglicherweise so lösen, wie viele dieser Länder in der Asylfrage agieren wollen: wir verschieben den Plastikmüll in die ‚armen‘ Länder, die sich nicht ausreichend wehren können und zahlen für diesen schmutzigen Deal. Wenn wir dann genug gesammelt und aufgeschichtet haben, so dass der Plastikmüll vordergründig in der Biosphäre kein offensichtliches (öffentliches) Problem mehr darstellt, kommt die nächste Frage: Was machen wir mit den hoffentlich geordnet kartographierten Müllbergen? Recyclen oder gibt es eine Alternative?!

Was heißt das konkret? Es gibt das technische Recyceln mit dem Anspruch, den Plastikmüll zumindest teilweise aufzuarbeiten, um es einer Wiederverwendung zuzuführen und alternativ die thermische Variante – es wird verbrannt! Plastikmüll lässt sich m.W. nur in einem relativ geringen Umfang technisch wieder aufarbeiten. Die Aufarbeitung verbraucht viel Energie und macht dadurch das recycelte Plastik teuer im Vergleich zum Ausgangsprodukt der Erstverwendung.

Wenn ich die Fakten richtig verstanden habe, so bleibt für einen großen Anteil des erfassten Plastikmülls nur die sogenannte thermische Entsorgung, wenn man die Erwartung hat, dass der Müll von der Erdoberfläche verschwinden soll. Bei der thermischen Entsorgung bleibt m.W. aber das Problem, dass der physische Müll zwar weitgehend verschwindet, aber bei der Verbrennung CO2 entsteht, das als überaus kritisch für den Klimawandel angesehen wird. Man kann es auch umdrehen: Der Plastikmüll übernimmt hier in fataler Weise die ähnliche Funktion wie z.B. ein hinreichend gesunder Wald; er ist in gewisser Weise ein CO2-Speicher und aufgrund der unvorstellbar großen Menge ist auch die darin gebundene Menge CO2 gewaltig. Die thermische Entsorgung würde m.E. weltweit unsere Ziele einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes über Jahrzehnte hinaus ad absurdum führen.

Wenn wir thermische Entsorgung im oben genannten Sinne betreiben wollen, müssen wir relativ kurzfristig und aufgrund der vorhandenen Menge an Plastikmüll gewaltige Entsorgungseinrichtungen (mit einer ebenfalls schlechten CO2-Bilanz) aus dem Boden stampfen, damit wir innerhalb von ca. 10 Jahren den vorhandenen globalen Plastikmüll aufarbeiten können. Da wir davon ausgehen, dass neuer Plastikmüll durch Regulierung nur noch in geringem Umfang entsteht, werden wir dann nach Ende der Maßnahme global über eine Überkapazität an Plastikentsorgungsunternehmen verfügen, die hohe Leerkosten produzieren. Die Leerkosten der Überkapazitäten können dann wieder mit den Abbruchkosten ins Verhältnis gesetzt werden, um zu entscheiden, was man mit den Kapazitäten machen soll.

Wenn die hier geäußerten Annahmen der Realität entsprechen, kann man die Problemstellung als überaus ungünstig klassifizieren:

Einer Regulierung der Plastikproduktion stehen große finanzielle Interessen entgegen. Aber eine weitere Zunahme des Plastikmüll-Gebirges kann auch nicht im Interesse der Chemischen Industrie sein.

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Demokratie und eine polarisierte Gesellschaft

Die politische Situation im November 2024 ist undurchsichtig und die weitere Entwicklung weder absehbar noch hinreichend sicher überschaubar. Die Zahl der publizierten guten Beitrage ist erfreulich groß. Ich habe beschlossen, einen meiner etwas älteren Beitrag nochmals aufzugreifen. Er passt ganz gut in die Situation:

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In der Theorie der Demokratie kommt Polarisierung gar nicht vor. Demokratie wird uns als Ideal verkauft. Die Wirklichkeit mit ihren Unzulänglichkeiten kommt darin nicht vor. Die Demokratie kennt Meinungsverschiedenheiten, die sie als solche toleriert und braucht, um aus der Vielfalt der Meinungen eine Haltung zu entwickeln, die das gemeinsame politische Handeln stützt. Demokratie braucht deshalb einen Grundkonsens, wie mit Auffassungen und Meinungen umzugehen ist. Unsere Verfassung hat dabei vor über 70 Jahren das Schwergewicht der Konsensbildung den Parteien übertragen.

Wenn wir heute von einer polarisierten Gesellschaft sprechen müssen, so haben offensichtlich die Parteien diese Konsensbildungsfunktion nicht oder zumindest ungenügend wahrgenommen. Den Grund könnte man in der Struktur der Parteien suchen. Haben sich die Parteien so verändert, dass sie diese Aufgabe nicht (mehr) adäquat wahrnehmen können? Oder: Die Entwicklung der Parteien ist stehen geblieben und die Umstände haben sich so verändert, dass die Parteien damit überfordert sind. Oder: Die Erwartung vieler Wähler hat sich stark gewandelt und die Parteien haben darauf (bisher) keine adäquate Antwort gefunden. Das, was die Parteien bewegt, trifft offensichtlich nicht die Erwartungen eines immer größeren Teils des ‚Wahlvolkes‘.

Durch die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft rückte die Idee der Gesellschaft und Solidarität leider in den Hintergrund. Der Neoliberalismus kennt lt. Margret Thatcher keine Gesellschaft, sondern nur Individuen. Ein solch gravierendes Missverständnis befeuert die Polarisierung; jeder (der es sich leisten kann!) glaubt sich auf einer Insel und meint seine sogenannten „Freiheits“-Ansprüche ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft durchsetzen zu können. Und eine große Zahl von denen, die es sich nicht leisten können, die also auf eine solidarische Gesellschaft angewiesen wären, steigt aus: Nicht mit mir!

Man sollte ein paar Beobachtungen heranziehen, um die hier vertretene Auffassung zu begründen und verständlich zu machen. In unserer Parteienlandschaft verfügte die SPD einmal über die meisten Mitglieder (deutlich über eine Million), heute hat sie noch knapp die Hälfte. Deutliche Schrumpfungsprozesse weisen auch die anderen Volksparteien auf. Der FDP sind Teile ihrer konservativsten Wähler zur AFD abgewandert; die AFD ist zerstritten und mit sich selbst beschäftigt. Die FDP, so meine Wahrnehmung, hat es aufgegeben, breite Bevölkerungsschichten anzusprechen, sie ist eine Klientelpartei geworden, die außer ihrer Klientel keine Bürger vertreten will. Die Linken hatten für ein paar Jahre zunehmende Mitgliederzahlen, verlieren gegenwärtig bis zur Bedeutungslosigkeit. Die Gründe sind sicher vielfältig und teilweise selbstgemacht. Aber man könnte daraus auch den Schluss ziehen, dass das Interesse des ‚Wahlvolkes“ am politischen Geschehen zumindest ein Stück weit verloren gegangen ist.

Die Wahlbeteiligung ist erschreckend niedrig. Was ist mit den 30 – 40 Prozent unserer Gesellschaft, die wählen dürfen. aber regelmäßig nicht zur Wahl gehen? Dieses Verhalten als schlichtes Desinteresse zu geißeln, trifft nicht den Kern. Das politische Interesse wäre m.E. schon vorhanden, aber die bestehenden Strukturen stoßen viele ab, sich aktiv oder passiv einzumischen. Mit ‚aktiv‘ ist ein Sich-Einbringen gemeint und ‚passiv‘ bedeutet, sich zu einer Wahl aufstellen zu lassen.

Wenn wir das Ergebnis der Wahlen in den letzten Jahren anschauen, so könnte man zu der Auffassung gelangen, dass hier einige Problemstellungen in die gleiche Richtung laufen. Die Parlamentszusammensetzung weist 80 Prozent Akademiker auf. Der Anteil der Akademiker in der Bevölkerung liegt bei etwa 20 Prozent. Frauen, Selbstständige und Handwerker (u.a.m.) sind dagegen völlig unterrepräsentiert. Es gibt noch viele weitere Gesichtspunkte, in denen das Parlament in keiner Weise als „repräsentativ“ verstanden werden könnte. Um es kurz zu machen: Könnte es sein, dass viele Nichtwähler glauben, „dass es auf sie sowieso nicht ankommt“1. Verena F. Hasel2 zitiert eine Bertelmann Studie, die zu dem Ergebnis kommt, „dass es in den Stimmbezirken, die bei der Bundestagswahl 2017 die niedrigste Beteiligung zu verzeichnen hatten, 70 Prozent mehr Menschen ohne Schulabschluss und 50 Prozent mehr Haushalte aus dem unteren Milieu gab als in denen, wo besonders viele Menschen zur Wahl gegangen waren. Damit, so heißt es in der Untersuchung, sei das Resultat der Bundestagswahl ‚sozial nicht repräsentativ‘. (…) Wären Nichtwähler eine Partei, so hätten sie in der Bundestagswahl 2017 die zweitstärkste Fraktion gestellt“.

Wir leisten uns das, was Richard D. Precht3 eine Konkurrenzdemokratie nennt. Kooperation unter den Parteien entsteht nur und ganz begrenzt in Zwangssituationen. Und selbst da herrschen immer ein zelebrierter Auseinandersetzungsmodus und der Versuch der Abgrenzung. Anstatt zwischen den Wahlen zum „Wohle des Volkes“ eine ruhigere Gangart einzulegen, geht der „Krieg“ oft unterschwellig weiter. Ist das die Natur der Demokratie oder ist dieses Verhalten einfach nur Krampf? Wir, das Wahlvolk; bekommen Schaukämpfe vorgeführt, die inhaltlich keinen Mehrwert haben. Aber die Parteien möchten uns glauben lassen, dass dieses Verhalten normal und alternativlos sei (Darstellungspolitik vs. Entscheidungspolitik).

Parlamentarier kennen sich oft seit vielen Jahren und schätzen sich u.U. persönlich und natürlich jenseits der Öffentlichkeit. Sie spielen uns dann regelmäßig ein „Affentheater“ vor, bei dem man selten den Eindruck gewinnt, es geht wirklich um die Sache.

Die Schweiz hat ihre Form der Demokratie anders gelöst. Man spricht dort von Konkordanz-demokratie4. Verkürzt ausgedrückt gilt: Wenn das Wahlvolk „entschieden“ hat, ist eine Allparteienregierung zu schaffen, wobei das Mitspracherecht der Parteien in den sieben Ministerien umfassenden Regierung entsprechend der auf sie entfallenden Wählerstimmen geregelt ist. Alle Parteien arbeiten nach bestem Wissen gemeinsam für die Regierung der Eidgenossen. Sollten sie sich mehrheitlich nicht einigen können, schwebt über allem das Damokles-Schwert der direkten Demokratie. Ist eine Wahlperiode zu Ende, lebt der Konkurrenzmodus auf und jede Partei hat die Möglichkeit, sich im besten Lichte darzustellen und um Stimmen zu kämpfen. Der Konkurrenzmodus endet wieder mit dem Entscheid der Wahl. Diese Form der Konkordanzdemokratie gilt in der Schweiz seit rd. 500 Jahren und scheint recht erfolgreich zu sein.

Kommen wir zu den Alternativen, wie wir unsere Demokratie ergänzen und verbessern können. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Frage, wie können wir die Gruppe der Nichtwähler gewinnen und in den Prozess eingliedern:

Der gegenwärtige Fraktionszwang, den m.W. alle Fraktionen des Bundes- und der Landtage nutzen, wird viel zu selten aufgehoben. Ich sehe einen Lösungsansatz darin, dass der Fraktionszwang grundsätzlich entfällt. Wenn er bei wichtigen Fragen zur Anwendung kommen soll, muss er begründet, beantragt und von der einfachen Mehrheit der anwesenden Abgeordneten befürwortet werden. Der Fraktionszwang wird damit begründet, dass die demokratische Willensbildung angeblich in den Parteien und Fraktionen erfolgen würde. Die Vorgänge aber sind nicht öffentlich und manche gute Ideen werden dort still und heimlich dem Machtstreben der Partei geopfert. Was es dann ins Plenum schafft, hat seine Ursprünglichkeit, Kreativität und Unschuld verloren. Vielfalt der Ideen wird tendenziell auf Einfalt (auf den Machtgesichtspunkt) reduziert!

Die Schweiz, so kommt es mir vor, nutzt das in der Verfassung vorgesehene Plebiszit als Drohkulisse, um allzu widerspenstige ParlamentariererInnen zur Kooperation zu bewegen. Bei der Durchführung eines Plebiszits können alle Parteien verlieren, sowohl an Stimmen und auch an ‚Reputation‘, also ist es wirklich nur das letzte Mittel. Das ist eine ganz andere Situation als in der Konkurrenzdemokratie, bei der Kooperation durch (möglicherweise unsinnige) Zugeständnisse wie auf dem Basar erkauft werden muss (Beispiel: Tempolimit).

Betrachten wir die Tatsache, dass 30 bis 40 Prozent unseres Wählerpotenzials überhaupt nicht politisch in Erscheinung treten. Sie wählen nicht und weil sie nicht wählen, haben auch die Parteien kein so rechtes Interesse deren Wünsche und Belange aufzugreifen. Das sagen sie natürlich nicht, das wäre schlicht Dummheit. Also betreiben sie diesbezüglich Symbolpolitik und Lippenbekenntnisse, beides kostet wenig bis nichts. Wenn wir uns aber die Entwicklungen bei Corona oder bei empörungsrelevanten Sachverhalten ansehen, diese Bevölkerungsteile sind nicht stumm und tumb, sondern es besteht die Gefahr, dass aus solchen Kreisen plötzlich „Wutbürger“ werden, um den plakativen Begriff aufzunehmen. Konkret heißt das, dass dieses Potenzial durchaus ansprechbar ist. Und es rumort in diesen Kreisen, weil sie sich als abgehängt empfinden. Die Parteien und das Parlament sind von einer völlig anderen Bevölkerungsgruppe okkupiert und die Parteien haben offensichtlich jede Verbindung zu diesen Nichwählerschichten verloren.

Diese Situation müssen wir dringend ändern! Die Erwartung, dass sich die eingefahrenen Prozesse der Parteien ohne Druck ändern, ist eine Illusion. Wir müssen diesen 30 – 40 Prozent Abgehängten einen Weg direkter Demokratie eröffnen, der ggfs. außerhalb des gegenwärtigen Grundgesetzes liegt. Es muss etwas Neues sein. Und es muss so gestaltet sein, dass auch die Parteien sachlich so in Bedrängnis geraten, dass sie sich mittelfristig dieser Klientel zuwenden.

Es gibt Ansätze direkter Demokratie in den unterschiedlichsten Formen: den Bürgerrat, das Volksbegehren oder den Bürgerentscheid (auf allen politischen Ebenen mit niedrigen Durchführungsbarrieren), die Planzelle des Peter Dienel (das ‚deliberative‘ Partizipationsmodell) und ähnliche Verfahren, die außerhalb der eingefahrenen politischen Strukturen laufen und weltweit schon viel hundertfach erfolgreich angewendet werden. Man hat leider in Deutschland mit der griffigen Überschrift „Losen statt Wählen“ der dahinter stehenden Idee keinen Gefallen getan. Das Losen steht in zu engem Zusammenhang mit dem Glückspiel und weist in die komplett falsche Richtung. In der Schweiz gibt es eine öffentliche Verwaltungsstelle, die plebiszitären Bestrebungen neutral mit Rat und Tat zur Seite steht und gleichzeitig auf die Einhaltung einer gewissen Mindestform und Vorgehensweise Einfluss nehmen kann.

Immer dann, wenn wir eine kleine, aber repräsentative Gruppe Bürger zusammenstellen wollen, in der jede Gesellschaftsschicht unserer Republik eine reelle Chance hat, vertreten zu werden, so bildet man eine statistisch repräsentative Stichprobe, indem zufällig ausgewählte Bürger aller Schichten angesprochen werden, ob sie (freiwillig) Teil des Prozesses werden wollen. Ziel ist es, in dieser Gruppe alle gesellschaftlichen Bereiche repräsentativ abbilden zu können.

Die freiwilligen Teilnehmer werden zu einem persönlichen Treffen eingeladen, erhalten dort eine umfassend fundierte und neutrale Einführung in die aktuelle Problemstellung, Sie treffen sich dann in wechselnden Gruppen, um vorher definierte Fragen in freiem Gedankenaustausch (Deliberation) zu diskutieren. Für diese Aufgabe wird auch eine Aufwandsentschädigung bezahlt. Das Ergebnis der Diskussion wird mit professioneller Unterstützung zusammengefasst und ist eine Vorlage für die Politik, die darauf reagieren muss(!). In einem anderen Zusammenhang habe ich ausgeführt, dass auf diese Weise dem Bürger, der gewöhnlich über keine Lobby verfügt, ein Einfluss möglich wird, der dem Lobbyismus der Wirtschaft Paroli bieten kann. Da das Parlament bzw. die Politik gezwungen wird, darauf zu reagieren, wäre das ein starkes Instrument und ein wirksames Gegengewicht zum unvermeidlichen, aber lästigen Lobbyismus der Wirtschaft. Wichtig ist dabei, dass über das Ergebnis in den Medien detailliert berichtet wird, um jenen 30 – 40 Prozent zu zeigen, dass auch ihre Problemstellungen Eingang in die Diskussionen findet.
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1 V. F. Hasel, Wir wollen mehr als nur wählen, DTV 34968, 2019, S. 28
2 Eda. S. 28
3 David Richard Precht, Die Kunst kein Egoist zu sein, S. 468f.
4 Vgl. V.F. Hasel, a.a.O., S. 55, oder David Richard Precht, a.a.O. S.468f.

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Die Transformation gelingt!?

Unter der Überschrift “Die Klimatransformation wird gelingen“ fasst die SZ am 24.10.2024 optimistisch das Ergebnis des Interviews mit Susan Solomon zusammen. Dabei könnte man der Auffassung sein, dass die Aussage eine Selbstverständlichkeit ausdrückt. Entscheidend wird der Punkt sein, auf welchem Niveau die Menschheit dann noch Teil des Transformationsprozesses sein wird?

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Als vor gut fünfzig Jahren die ersten Mahner zur Klimakrise auftraten, war ihr Bemühen darauf gerichtet, Lösungen zu finden, die den anstehenden Transformationsprozess so gestalten, dass die dabei auftretenden Kollateralschäden aus humaner Perspektive so gering als möglich ausfallen. Der Prozess sollte „by design“ gestaltet werden, d.h. der Prozess sollte kontrolliert hinsichtlich der betroffenen Bevölkerungsteile ablaufen. Das zu vermeidende Gegenstück wurde unter dem Begriff „by desaster“ diskutiert. Letztere Vorstellung war von der Sicht geprägt, dass die Entwicklung unkontrolliert, dann auch von der menschlichen Perspektive her als unsteuerbar gilt und katastrophale Folgen für große Teile der Weltbevölkerung nicht ausgeschlossen werden können.

Der Design – Ansatz droht nun zu scheitern, weil große Bevölkerungsteile der nördlichen Hemisphäre die Herausforderung nicht erkennen wollen und deshalb sich jeder Veränderung gegenüber sperren. Es kommt die alte Managementerkenntnis zum Zuge: Es ist schwer, jemanden von einer Lösung zu überzeugen, wenn der Jemand sein Geld damit verdient, dass er die Lösung ignoriert. Dabei rinnt uns die Zeit durch die Finger, die wir für eine angemessene Lösung benötigen.

Wie kann man dann behaupten, dass die Klimatransformation gelingen wird? Das ist eine Frage der Perspektive. Unser Planet existiert seit etwa vier Mrd. Jahren und hat gute Aussichten auf einen Bestand für weitere vier Mrd. Jahre. Mit anderen Worten, der Planet wird ausreichend Zeit haben, um sich von der bis jetzt etwa 250 Jahre dauernden technologischen Penetration der Biosphäre durch die Spezies Mensch wieder zu erholen. So gesehen ist die Aussage, dass die Klimatransformation gelingt, prinzipiell eine Selbstverständlichkeit.

Die entscheidende Frage ist doch: gibt es dann noch adäquates menschliches Leben auf der Erde? Wenn die Erwärmung weiter steigt, die Unwetter weiter an Anzahl und Heftigkeit zunehmen, nimmt der Planet in seiner Grundstruktur wohl keinen nennenswerten Schaden. Am Ende wird es eben keine 8 Mrd. Menschen mehr auf diesem Planeten geben, sondern vielleicht nur noch 3 Mrd. Menschen mit der Folge, dass die Klimakrise dann kein Problem mehr darstellt. Das könnte eine mögliche, grobe Beschreibung des „Desaster-Szenarios“ darstellen. Damit wäre der Biosphäre die Klimatransformation auf Kosten der Spezies Mensch gelungen! Aber die Konsequenzen für die Menschheit und die Zahl der möglichen Opfer wären dramatisch.

Susan Solomon hat die Trägheit der Masse Mensch richtig angesprochen. Sie meint, die Trägheit der Bevölkerung hinsichtlich des Klimawandels ließe sich erst dann überwinden, wenn eine „personal perception“ (eine persönliche Wahrnehmung und damit Betroffenheit) zum Tragen kommt. Im Klartext heißt das, dass wir warten, bis das „Desaster – Szenario“ bei einer Mehrheit der Bevölkerung konkret angekommen ist, der Problemdruck und die Verunsicherung so groß geworden sind, dass die Menschen aus ihrer Komfortecke hochgeschreckt werden und zum Handeln (zur „Praxis“) kommen. Die Erwartung, dass dann noch ein koordiniertes, überlegtes Handeln sich durchsetzen kann, erscheint wenig wahrscheinlich, weil es absehbar keine Instanz gibt, die auf diese Aufgabe vorbereitet ist und sie zielorientiert übernehmen kann. In Deutschland bräuchte es dazu einen Konsens, welche Maßnahmen Priorität haben und welche Maßnahmen eher in die zweite oder dritte Reihe zurücktreten sollten. Auch dieser Konsens erscheint nur schwer erzielbar und er braucht vor allem Zeit, die wir dann nicht haben.

Solange man den Weg des „Designs“ verfolgt, verfügt man i.d.R. über eine ganze Reihe von Handlungsoptionen, wie man der anstehenden Problematik Herr werden könnte, ohne das „Desaster-Szenario“ realisieren zu müssen. Aber mit Eintritt des „Desasters“ verlieren wir mit größer Wahrscheinlichkeit die Kontrolle über das Geschehen, weil jede(r) Betroffene nach dem Prinzip handelt, rette sich wer kann. Das Chaos ist vorhersehhbar. Die vernunftgesteuerten Maßnahmen, die der Design-Ansatz möglich gemacht hätten, sind im Falle des Desaster-Szenarios hinfällig, wenn aufgrund des hohen unmittelbaren Problemdrucks unkoordiniert und punktuell gehandelt wird. Wir haben zwar im Desaster-Szenario anders als im Design eine große Bereitschaft der Bevölkerung zu handeln, verlieren aber jede Chance, die Handlungen sinnvoll koordiniert und zielgerichtet durchführen zu können.

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass durch die Akzeptanz der möglichen Folgen des Desasters konkret Menschenleben in Gefahr sind oder verloren gehen. Diese schockartige Erfahrung wird bei vielen Betroffenen völlige Kopflosigkeit auslösen. Das könnte die negativen Einflüsse des Desasters noch verstärken und politisch zu Entwicklungen führen, die heute in keiner Weise absehbar sind.

Alles, was bis hierher als möglich oder wahrscheinlich dargestellt wurde, ist an die Eintrittswahrscheinlichkeit des „Desaster-Szenarios“ gebunden. Insofern komme ich zu der Einschätzung, dass es gute Gründe gibt, sich weiterhin gezielt für einen „Design-Ansatz“ einzusetzen, weil die Folgen aus dem „Desaster-Szenario“ unabsehbar für die Menschheit wird. Der scheinbare Optimismus von Frau Solomon führt ins Desaster und taugt als solcher nicht. Dann besser die optimistische Haltung, dass eine Mehrzahl in der Bevölkerung sich trotz aller Unzulänglichkeiten für den Weg des „Design-Ansatzes“ entschließen wird, die notwendigen Konsequenzen anerkennt, danach handelt und ihre Kuschelecke aufgibt, um an der Transformation unterstützend mitzuarbeiten.

Das „Desaster-Szenario“ braucht keine Maßnahmen, sondern nur ein „Weiter so“ der Menschheit und noch ein wenig Zeit, bis es die volle Wucht seiner Zerstörung erreicht hat. Das ist wohl eindeutig die schlechtere Lösung. Also bleiben wir in diesem Sinne für einen „Design-Ansatz“ optimistisch, wenn auch mit großen Vorbehalten.

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Freiheit – mal anders

Als Grundsatz soll unverändert gelten: Die Freiheit eines Individuums endet dort, wo die Freiheit des nächsten beginnt. Dabei wird bewusst von einem Individuum gesprochen und nicht vom Menschen oder Bürger, weil wir gewohnt sind, Freiheit nur aus einer anthropozentrischen Haltung zu beurteilen. Diese Haltung möchte ich in Frage stellen.

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Mein Ausgangspunkt ist die Biosphäre. Dieser Begriff ist in etwa gleichbedeutend mit „Natur“. Aber „Natur“ ist vielfach durch emotionale Kategorien überfrachtet, weshalb ich den Begriff der Biosphäre vorziehe. Die Biosphäre ist die Grundlage allen Lebens, also auch der Menschen und aller ihrer sozialen Konstruktionen. Die Mitwelt1 ist von der Erhaltung einer gedeihlichen Biosphäre abhängig.

Wo kommt die Biosphäre her und wie lässt sich sich zweckmäßig beschreiben? Die Biosphäre, wie wir sie wahrnehmen, ist das Ergebnis einer sehr langen Evolution und die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieser Entwicklungspfad auf einem Planeten des bekannten Kosmos wiederholt, wird als sehr gering eingeschätzt. Dabei ist einfaches Leben vermutlich auch unter schlechteren Bedingungen denkbar, aber intelligentes Leben, wie wir es auf unserem Planeten heute vorfinden, ist ziemlich einzigartig.

Wenn wir die Biosphäre beschreiben wollen, so gibt es in der Vergangenheit verschiedene Darstellungen, die in der Regel einen religiösen Ursprung haben und sich auf übernatürliche Kräfte beziehen. Das kann nicht mein Ansatz sein.

Für meine Zwecke erscheint es sinnvoller, die Biosphäre unter systemtheoretischen Aspekten mit einem dynamischen, komplexen, sich selbstregulierenden System zu vergleichen. Der dynamische Aspekt kommt dadurch zum Ausdruck, dass dieses System alles unternimmt, um die (Über-)Lebensfunktion des Systems zu erhalten. Komplex ist das System, weil es über Jahrtausende entwickelt wurde und inzwischen eine unglaubliche Vielfalt von Verhaltensformen hervorbringt, akzeptiert und oft auch toleriert. Die Selbststeuerung ist eine Folge der hohen Komplexität; wenn dem System eine Schieflage droht, so ist es innerhalb eines beachtlich weiten Toleranzbereiches selbst in der Lage, dieser Schieflage zu begegnen und im Sinne der Lebenserhaltung Maßnahmen zu ergreifen, die die Schieflage abwenden können. Reicht der Toleranzbereich nicht aus, die Schieflage zu beseitigen, können Subsysteme, die sich als dysfunktional erwiesen haben, „abgestoßen“ oder aufgelöst werden. Die Elemente der betroffenen Subsysteme haben u.U. eine Chance, sich einem anderen funktionalen Subsystem der Biosphäre anzugliedern oder werden aus der Biosphäre ausgeschlossen, die Funktion des betreffenden Subsystems wird damit endet.

Das System reagiert auf einen „Angriff“ auf seine Überlebensfunktion nicht durch rechtliche Schritte oder Schuldzuweisungen,oder gar „Krieg“, wie wir es unter humanen Gemeinschaften allzu oft erkennen müssen. Das System nutzt seine hohe Komplexität, und versucht im Rahmen seines Toleranzbereiches geschmeidig dem Angriff auszuweichen und entwickelt in seiner Struktur Gegenstrategien, um das System in seiner Funktion zu erhalten und zu stabilisieren. Um konkret zu werden: die Menschheit steigert durch den fortwährenden, überhöhten CO2-Ausstoss die Erwärmung des Planeten. Die Antwort des Systems ist keine direkte Reaktion, sondern sie liegt darin, dass das System versucht z.B. global einen Ausgleich durch heftige Klimaveränderungen zu schaffen. Dabei bleibt die Befindlichkeit der Spezies Mensch aber vollkommen unbeachtet. Das System ist nicht menschengemacht und damit auch nicht anthropozentrisch ausgerichtet. Die Biosphäre folgt bei der Antwort auf den „Angriff“ funktional den vielfältigen Möglichkeiten, die ihr die Komplexität des Systems seit Jahrtausenden bereit stellt.

Was ist nun mit der Freiheit? Wenn wir anerkennen, dass eine intakte Biosphäre für unser Leben in den letzten ca. einhundert Jahren Schritt für Schritt immer unverzichtbarer wird, so müssen wir, ob wir wollen oder nicht, die ungeschriebenen Regeln der Biosphäre berücksichtigen. Oder anders ausgedrückt: Das System der Biosphäre ist eine lebenswichtige Institution, die nur dann ihren Überlebensbeitrag leisten kann, wenn wir ihr angemessenen Raum zu ihrer Entfaltung lassen. Die einfachste Lösung läge darin, dass wir die Biosphäre als eine lebenswichtige Institution auf Augenhöhe anerkennen und ihr einen naturgegebenen Anspruch auf ein „freie“ Entwicklung zubilligen. Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die funktionsnotwendige Freiheit des Systems Biosphäre als Grundlage unseres Lebens beginnt.

Dazu sollten wir uns die Entwicklung in den letzten 300 Jahren vor Augen führen: vor ca. 300 Jahren wurden die ersten technologischen Erfindungen gemacht, die den Menschen in die Lage versetzten, erstmals in deutlichem Umfang Einfluss auf die Entwicklung des Planeten zu nehmen. Vor 300 Jahren war die Welt aber nur mit ca. 300 Mio. Menschen bevölkert. Die Menschen waren bis dahin Teil der Biosphäre ohne Einfluss auf deren Entwicklung oder Veränderung. Heute zählen wir ca. 8 Mrd. Menschen und haben einen technologischen Eingiffsapparat geschaffen, der in der Geschichte wohl einzigartig ist. Allein schon die schiere Zahl unserer Spezies verbunden mit unserem Raumanspruch und den technologischen Möglichkeiten engt – ob wir wollen oder nicht – den Spielraum der Biosphäre fortwährend ein.

Der uralte Satz: „Macht euch die Erde untertan!“ bekommt plötzlich eine ganz andere Wahrnehmung. Über zweitausend Jahre war das ein frommer Wunsch und plötzlich haben wir als Spezies die technologischen Voraussetzungen dafür geschaffen. Wir müssen gleichzeitig feststellen, dass unser menschliches Verhalten für die Biosphäre in einem Maße dysfunktional geworden ist, dass die lebenserhaltende Funktion des Systems mittelfristig in Frage steht. Wir haben uns, möglicherweise unbewusst, einen Gegner geschaffen, mit dem nicht zu verhandeln ist, weil er keine Repräsentanz besitzt. Die Biosphäre handelt nach archaischen Grundsätzen, die wir nur teilweise verstehen. Also wäre eine Lösung, der Biosphäre künftig wieder mehr Spielraum, mehr Freiraum zu geben, damit sie ihre lebenserhaltenden Strategien (auch in unserem ureigenen Interesse) besser umsetzen kann.

Wenn wir künftig von Freiheit sprechen, so kann das nicht nur den Freiheitsanspruch von uns Menschen umfassen, sondern es muss gleichberechtigt auch ein Anspruch auf die notwendige Freiheit der Institution „Biosphäre“ berücksichtigt werden. Das muss sich künftig in unserem Denken und Handeln niederschlagen. Stattdessen wird die Funktion der Biosphäre von einer Mehrzahl von Menschen schlicht als ein „Ressourcenpotenzial“ angesehen, das es wirtschaftlich gnadenlos auszubeuten gilt. Da die Biosphäre aber unserer Lebensgrundlage darstellt, ist dieser Ansatz in hohem Maße selbstzerstörerisch.

Immer dann, wenn wir glauben, unsere sogenannte Freiheit in vollen Zügen ungehemmt genießen zu können, sollte immer der unveräußerliche Freiheitsanspruch der Institution Biosphäre in Erinnerung gerufen werden, um zu vermeiden, dass wir in vollen Zügen unsere Lebensgrundlagen zerstören.

Es bleibt die Frage, ob nicht schon andere Autoren diese oder ähnliche Gedanken vorgestellt haben? In „Biokapital“ weist Andreas Weber (Berlin 2008) darauf hin, dass sowohl der bekannte amerikanische Wirtschaftskritiker und Unternehmer, Peter Barnes, in seinem Buch „Kapitalismus 3.0“ (2006) als auch der Ökonom Herman Daly (ohne konkreten Hinweis) vergleichbare Ideen entwickelt haben. Die Ideen dieser Autoren gehen dahin, die gesamten Gemeingüter (das sind jene Güter, die uns allen anteilig gemeinsam gehören, weil sie uns von der Biosphäre ohne ein ökonomisches Interesse zur Verfügung stellt werden) in Institutionen (wie gemeinnützige Stiftungen oder „Trusts“) einzubringen, die frei (unabhängig) von Markt, Großkonzernen und Politik handeln können und dabei ausschließlich die Interessen des Systems Biosphäre vertreten und den Ge- bzw. Verbrauch der Gemeingüter des System Biosphäre überwachen, untersagen bzw. durch Preisimpulse die Verbrauchsmenge steuern. Der Ge – und Verbrauch von Gemeingütern bekommt einen Preis, der nicht von einem Markt bestimmt wird, sondern von der zu schaffenden gemeinnützigen Institution. Der Preis für die Nutzung des jeweiligen Gemeingutes spiegelt den zu erwartenden Einfluss auf den langfristigen Zustand des Biosphärensystems und seines Überlebenszieles wider. Dabei geht es nicht, wie auf einem Markt, um Profit, sondern um Ausgleich und Erhaltung.

Immer, wenn die Rede sich auf Preise konzentriert, fließt in Folge Geld in irgendwelche Taschen. Die Stiftungsinstitutionen werden mit der Entwicklung von Preisansätzen für die Nutzung von Gemeineigentum weltweit gewaltige Summen zusammentragen. Was damit geschehen soll, wird ungern offen diskutiert, weil dabei enorme Begehrlichkeiten entstehen werden. In unserem Wirtschaftssystem ist Geld eng mit Macht verbunden. Geld kann aber keine verlorene Biosphäre wiederherstellen. Das ist m.E. ein wichtiger, aber offener Punkt in der künftigen Gestaltung.

Die Ideen haben zweifelsohne ihren Reiz. Die Umsetzung erfordert aber großes Geschick, weil wir kaum noch über freies Gemeineigentum verfügen. Wie ist das zu verstehen? Ursprünglich bestand für jede Spezies die Möglichkeit, ungefragt den Nutzen der Biosphäre ohne Einschränkung in Anspruch zu nehmen. Indigene Gemeinschaften leben heute noch so, wobei ihnen eine oft moralische Einschränkung gelehrt hat, mit den Gemeingütern umsichtig und zurückhaltend umzugehen.

Unsere Kultur und unser Wirtschaftssystem hat stattdessen vor einigen Jahrhunderten angefangen, das Institut des Eigentums zu entwickeln. Unsere Altvorderen haben sich gewisse wirtschaftlich interessanten Teile des Gemeineigentum (oft unter Anwendung von Gewalt) einfach angeeignet. (vgl. Th. Piketty, Kapital und Ideologie, München, 2020, 4./5. Kapitel) Daraus hat P. J. Proudhon um 1850 die harte Aussage abgeleitet: „Eigentum ist Diebstahl“. Die Entwicklung war mit der Aussage nicht aufzuhalten. Heute ist Eigentum eine wesentliche Komponente dessen, was wir unter Freiheit verstehen, weil wir andere (auch die Biosphäre) von der Nutzung des Eigentums legal ausschließen können. Aber wir müssen uns im Klaren sein, dass diese Entwicklung auch fatale Spuren in unserem System der Biosphäre hinterlassen hat. Schritt für Schritt wurde die Biosphäre für einseitig rein menschliche Zwecke zurückgedrängt und vielfach zerstört. Grundlage der Biosphäre war ursprünglich das Gemeineigentum – es gehörte allen Lebewesen, nicht nur der Spezies der Hominiden. Das lässt sich heute nicht mehr erkennen. Und deshalb müssen wir darüber nachdenken, wie wir die Folgen dieses „Diebstahls“ so abfangen können, dass unsere Biosphäre mit uns gemeinsam eine erfolgreiche Zukunft hat.
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1Umwelt ist ein anthropozentrischer Begriff (wir und die anderen). Mitwelt versucht die „anderen“ auf Augenhöhe mit ihren Rechten, Freiheiten und Pflichten zu akzeptieren.

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Klimawandel – im Wandel?

Angesichts der politischen Entwicklungen sieht es so aus, als ob der Klimawandel etwas in den Hintergrund rückt. Diese Entwicklung ist deshalb fatal, weil mit dem Klimawandel Veränderungen angesprochen werden, die am Ende das Überleben der Menschheit bestimmen werden. Dieser Sachverhalt wird vielen Menschen nicht klar kommuniziert bzw. viele verschließen vor dieser harten Aussage die Augen und die Ohren. Man kann dieses Verhalten auch als Verdrängung bezeichnen.

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Das Grundproblem

Das besondere am Klimawandel ist, dass dieses Problem sich nicht auf ein Land oder eine Region beschränkt, sondern Klimawandel hat einen planetarischen Maßstab. Angesichts dieser Bedrohung glauben manche Menschen, sie können in die von ihnen als angenehm erinnerte Zeit rein nationaler Politik zurück. Geschichte, so wie wir sie verstehen, ist eine gerichtete Entwicklung, kennt also kein Zurück. Man kann nur empfehlen, die Geschichtsbücher zur Hand zu nehmen, um zu erkennen, dass es eine bessere Vergangenheit nie gegeben hat und dass unsere Chance ausschließlich in der sinnvollen Bewältigung einer uns noch unbekannten Zukunft liegt. Man sollte nicht alte Fehler wiederholen, nur weil man glaubt, man wisse wie dann zu handeln sei.

Die Problematik des Klimawandels teilt sich in mindestens drei große Bereiche, die untereinander in enger Beziehung stehen, aber politisch gerne als Einzelphänomene betrachtet werden:

Der Klimawandel fokussiert auf die absehbare Erderwärmung durch übermäßigen CO2 -Ausstoß und deren Folgen. Er versucht Maßnahmen zu entwickeln, die die heute absehbaren Folgen einer Erderwärmung mit Blick auf die nächsten Jahrhunderte minimieren. Ausdruck dieser Strategie ist das Ziel, die Erderwärmung global unter 1,5 Grad halten zu können. Der Grund für diese 1,5 Grad sind die bisherigen Erkenntnisse, dass dadurch die negativen Folgen der Erderwärmung noch in Grenzen gehalten werden können.

Die zu erwartenden Folgen sind nur bedingt auf das Klima bezogen. Unterhalb der Grenze von 1,5 Grad sollen die Klimawirkungen auf Ernährung, Dürren, Überflutungen, Unwetter, Erdrutsche, Auflösung des Permafrostes, Erhöhungen des Meeresspiegels mit der Folge von gewaltigen Migrationsströmen beherrschbar bleiben. Inzwischen zeigt sich, dass die globale 1,5 Grad – Grenze möglicherweise nicht zu halten ist, weil es Bereiche auf der Erde gibt, für die auch 1,5 Grad schon zu viel sind, wenn man die damit verbundenen Folgen vermeiden oder minimieren will.

Um das 1,5 Grad-Ziel erreichen zu können, müssen insbesondere die Industrieländer sich einer wirtschaftlichen Transformation unterziehen, die die sogenannten Marktkräfte in ihrer trägen Handlungsgeschwindigkeit bei weitem überfordern werden. Da der „Markt“ eindimensional auf Fragen der Ökonomie orientiert ist, wollen die Marktvertreter nicht erkennen, dass der Veränderungsprozess auch eine komplexe soziale Komponente braucht, um die künftigen Folgen der Veränderungen abzufedern. Aus der Sicht des ausgehenden Neoliberalismus setzt aber die Beachtung einer sozialen Komponente die Wirksamkeit des Marktmechanismus stark herab; mit anderen Worten: selbst wenn die Anpassung über den Markt erfolgen könnte, läuft uns die Zeit davon.

Die Investitionen in die Transformation werden viel Geld kosten. Den wirtschaftlichen Vorteil realisieren vermutlich erst künftige Generationen. Die Transformation ist so etwas wie der gezielte Umbau unserer Infrastruktur. Die Kosten dieser Transformation können m.E. nicht aus dem jeweils laufenden Haushalt bestritten werden. Öffentliche Haushalte müssen den „laufenden Betrieb“ finanzieren. Investitionen in die Zukunft müssen durch „Sondervermögen“ oder durch gesonderte Umlagesysteme finanziert werden. Die Umlagesysteme hätten den Vorteil, dass sie zwar die heutige Wirtschaft belasten, aber künftig keine Zinsaufwendungen für die kommenden Generationen auslösen werden.

Die zunehmenden Schadenereignisse

Ein zweiter Problemkreis liegt in der Zunahme der verheerenden Schadenereignisse. Seit der Veröffentlichung der „Grenzen des Wachstums“ (1972) werden zunehmend die Auswirkungen der Erderwärmung aufgezeichnet und man stellt fest, dass sich diese Ereignisse einerseits häufen und andererseits pro Ereignis an Mächtigkeit zunehmen. Große Teile der Politik verschließen sich dieser gut belegten Erkenntnis.

Die Versicherungswirtschaft, die im Schadenfall ihre betroffene Klientel finanziell zu entschädigen verpflichtet ist, sieht das deutlich anders. Für sie gilt der Erwartungswert des Schadens als Maßstab; d. h. Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens multipliziert mit der Schadenhöhe. Wenn in dieser Grundformel beide Formelwerte laufend zunehmen, also nicht alle 30 Jahre, sondern plötzlich alle zehn Jahre (oder weniger) und der Wert des Schadens aufgrund der Heftigkeit des Ereignisses samt Inflation laufend zunimmt, so werden die Prämien davon nicht unberührt bleiben. Altverträge haben eventuell noch Bestandsschutz. Bei Neuverträge wird sich die veränderte Situation in den Prämien und in dem Eigenanteil zur Schadenprävention (Erhöhung der Gestehungskosten) niederschlagen.

Zur allgemeinen Hochwasserexposition gibt es zudem öffentlich zugängliche, neue digitale Kartenwerke, an denen erkennbar wird, welche Gebäude mit welcher Wahrscheinlichkeit hochwassergefährdet sind. Die Kunden der Versicherer können sicher sein, dass gegenwärtig Schritt für Schritt eine Neubewertung ihres Risikos durchgeführt wird. Das ist bisher im wesentlichen eine Darstellung des privaten Sektors.

Die großen Schadenereignisse betreffen ja nicht nur Privatleute, sondern ganze Regionen und ihre öffentlichen Infrastrukturen (Wasser/Abwasser, Energie, Kommunikation, Verkehrssysteme, Digitalisierung u.v.m.), also unser Gemeinwesen. Im Falle des Ahrtal-Ereignisses spricht man von einer Schadenhöhe von 40 Mrd. Euro. Das war (2022) angeblich ein „Jahrhunderthochwasser“, Anfang des Sommers (2024) standen Bayern, die Rheinland-Pfalz und das Saarland unter Wasser – noch ein „Jahrhunderthochwasser“. Mit den Wassermassen, die jüngst in Rumänien, Niederösterreich, Tschechien und Polen niedergingen, sind wir teilweise noch an Elbe und Oder beschäftigt. Auch hier wird gerne von einem „Jahrhunderthochwasser“ gesprochen. Es liegen aber keine fünf Jahre dazwischen.

Worauf ich hinaus will, dass diese und ähnliche Ereignisse auch das Gemeinwesen finanziell erheblich belasten werden. Wir können diese Ereignisse langfristig nur dadurch eindämmen, dass wir uns „Zukunftsinvestitionen“ leisten, um die Wahrscheinlichkeit von Schadenereignissen künftig zu reduzieren. Wir haben aber parallel schon jetzt eine Entwicklung, die wir nur mit Mühe finanziell beherrschen. Es ist wahrscheinlich, dass diese Entwicklung einige Jahrzehnte noch weiter zunimmt, weil weltweit die Maßnahmen zur Reduktion der Erderwärmung einfach unzureichend sind. Mit anderen Worten: der schwache Wille, eine globale Transformation in Angriff zu nehmen, wird mit jedem Schadengroßereignis weiter geschwächt, weil die öffentliche Hand ihre Finanzmittel auch nur einmal ausgeben kann.

Resilienz

Mit dem Wort Resilienz oder Widerstandskraft wurde ein neues Wort geschaffen, um unseren seit 30 Jahren aufgebauten Defiziten in der Infrastruktur einen neuen Namen zu geben. Er soll vermutlich darüber hinwegtäuschen, dass die Politik ihre Erfolge in der Vergangenheit dadurch finanziert hat, dass sie Jahrzehnte lang kein Geld für die systematische Erhaltung der Infrastruktur bereitgestellt hat. Die verrottete Infrastruktur steht zur Wiederaufarbeitung an und wird zusätzlich Finanzmittel binden, die für Zukunftsaufgaben und für Hilfen bei Großschäden möglicherweise nicht zur Verfügung stehen werden.

Wie ist es dazu gekommen? Abgesehen vom politischen Willen, der immer auf Neuinvestitionen gerichtet war, ist mit der (laufenden) Reparatur der Infrastruktur kein Staat zu machen. Das wäre für die meisten Bürger zu selbstverständlich, für die Politik also wenig öffentlichkeitswirksam. Also haben neue Großinvestitionen immer Vorrang gehabt, weil sich die Politik dabei in Bild und Ton in der Öffentlichkeit erfolgreich darstellen kann.

Ein weiterer Gesichtspunkt liegt vermutlich im verwendeten Handwerkszeug: der kameralistisch orientierten Finanzplanung, Sie kommt einer einfachen Einnahmen-Ausgaben-Rechnung sehr nahe. Was mit dem eingesetzten Geld geschaffen wurde (z. B. Anlagevermögen), wird nicht systematisch erfasst (weil der Stand der Digitalisierung in der deutschen Verwaltung eine sinnvolle Erfassung vermutlich auch nicht zulässt). Unternehmen dokumentieren ihre Investitionen ausführlich, um eine gesicherte Grundlage für die Ab- und Zuschreibungen zu haben, um anhand der Aufzeichnungen sinnvolle Reparaturzyklen zu bestimmen, mit dem Ziel eine optimale Nutzungsdauer des Geschaffenen zu erreichen. Die Kameralistik kennt aber keine Abschreibungen. Abschreibungen sind zeitliche Aufwandsverteilungen und die Kameralistik kennt nur Ausgaben (Geldabfluß).

Mit der Adaption des Begriffs der „Resilienz“ hat m. E. die Politik im Grunde den Klimawandel als unausweichlich klassifiziert und der Bevölkerung und der Wissenschaft ihre Resignation signalisiert, wir können es eh nicht ändern. Statt an die Wurzeln des Übels zu gehen, hat man das Problem stillschweigend akzeptiert und konzentriert sich jetzt auf die Behandlung der Symptome. Das ist ein typisch politisches Verhalten, man folgt dem Schwarm der bequemen Haltung und geht den Weg des geringsten Widerstandes.

Fazit

Je mehr wir in die Zukunft investieren (was jetzt Geld kostet) mit dem Ziel, die Folgen des Klimawandels zukünftig zu minimieren, desto weniger Geld werden wir für die Schadengroßereignisse bereitstellen müssen. Oder wenden wir es anders, je weniger wir uns um die Zukunft schweren, desto teurer kommen uns die heute absehbaren Schadengroßereignisse. Parallel dazu müssen wir unsere desolate Infrastruktur „resilient“ machen, damit uns die Auswirkungen der Schäden nicht so unvorbereitet treffen.

Diese Denkweise geht von der Fehlannahme aus, dass der Klimawandel wie ein Regenschauer vorüberzieht. Das wird nicht der Fall sein, weil die Prozesse, die durch den Klimawandel ins Rollen kommen, i.d.R. irreversibel sind. Wenn das Klima sein dynamisches Gleichgewicht verliert, ist eine Rückkehr auf das Ausgangsniveau aufgrund des physikalischen Phänomens der Entropie ausgeschlossen. Der Klimawandel stellt auf lange Sicht das Überleben unserer Spezies in Frage, weil wir uns systematisch aus dem relativ schmalen Korridor, indem intelligentes Leben im Kosmos überhaupt möglich ist, selbst hinauskatapultieren.

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