Vor wenigen Tagen hatte ich die Gelegenheit, ein Gespräch mit einem Fachmann der IT-Programmentwicklung einer mittelständischen Beratungsgesellschaft zu führen. Ihre Spezialität bei der Programmentwicklung sei der „agile“ Ansatz, wurde mir vermittelt. Auf meinen fragenden Blick wurde versucht, dem Laien (also mir) diese Thematik näher zu bringen: Das agile Vorgehen hat im Rahmen einer Dienstleistung das Ziel, den Gesamtnutzen des Kunden zu steigern.
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Theoretischer Aufsetzpunkt ist nicht ein Ansatz von „Tabula rasa“, sondern der Versuch die Maßnahme auf das vorhandene System mit allen seinen Ecken und Kanten aufzusetzen. Darauf wird jetzt schrittweise versucht, eine inkrementale Schrittfolge aufzubauen, wobei das Ziel nicht zwangsläufig eine Neugestaltung des Systems ist, sondern als Optimierung am ‚lebenden Organismus‘ angesprochen werden kann.
Maßstab für die inkrementale (schrittweise) Verbesserung ist der angestrebte Gesamtnutzen für den Kunden. Die Frage nach dem Gesamtnutzen wird dabei ständig rückgekoppelt. Mit „Gesamtnutzen“ ist nicht nur die punktuelle Nutzenoptimierung eines Teilprojektes gemeint; es wird versucht, eine das ganze Unternehmen umfassende Perspektive einzunehmen. Diese ständige Rückkopplung auf den Gesamtnutzen lässt sich die Gefahr der „Tyrannei der kleinen Entscheidungen“ (Kahn, 1966) reduzieren.
Um diesen Ansatzes besser zu verstehen, muss man den Kontrast sehen: Große IT-Beratungsgesellschaften halten es für sinnvoll und erfolgversprechend, ein fertiges, ggfs. modulares System anbieten zu können. Zusätzlich haben sie zahlreiche ergänzende „Tools“ (Bibliotheken) entwickelt, von denen erwartet wird, dass sie für die Adaption des fertigen Systems nützlich sein können. Das Personal solcher Beratungsgesellschaften ist hochtrainiert, um das fertige System zu „verkaufen“; es kennt sich in Fragen der Adaptionen und in den Bibliotheken aus, aber die Frage, ob das auch dem Gesamtnutzen ihres Kunden entspricht, wird bei dieser Vorgehensweise i.d.R. nicht beantwortet.
Der Gesamtnutzen des Kunden steht möglicherweise sogar im Konflikt mit dem Gesamtnutzen der beratenden Gesellschaft. Da liegt also ein fundamental anderer Beratungsansatz vor! Zumindest entspricht er nicht dem Idealbild eines agilen Beratungsprozesses.
Ich fühlte mich sehr angesprochen. Erinnerungen aus meiner Studienzeit kamen wieder hoch. Das Problem hatten wir damals (1970) schon mal in einem anderen Zusammenhang diskutiert. Der Unterschied zu damals ist klar: Wir haben uns gegen die Allgegenwärtigkeit des homo oeconomicus gewehrt. Dieses normative Konstrukt kann keine Realität repräsentieren. Also suchten wir nach Beschreibungen, die ein realistischeres Bild zu zeichnen in der Lage waren. Die Erkenntnis der beschränkten Informationsverarbeitungskapazität des Menschen war uns eine Stütze in der Beurteilung von Entscheidungen. ‚Rationale‘ oder ‚optimale‘ Entscheidungen sind auf der beschriebenen Grundlage zwar möglich, aber die krasse Ausnahme.
Parallel gab es zwei Erkenntnisse, die zu unserer Zeit wichtig waren:
- Die Beschreibung komplexer Entscheidungen folgt nicht dem homo oeconomicus, sondern eher der Ansicht des amerikanischen Politologen Lindblom, der das Entscheiden aufgrund von Beobachtungen als ein „Muddling through“ (Durchwursteln) beschrieb. Das Durchwursteln folgt daraus, dass Menschen wegen ihrer beschränkten Informationsverarbeitungskapazität immer nur das Nächstliegende entscheiden und dadurch dann immer wieder von neuem vor Problemlösungsprozessen stehen. Es folgt damit einer Konzeption des Inkrementalismus. Die Idealvorstellung eines großen Befreiungsschlags zur rationalen und optimalen Lösung bezüglich der anstehenden Entscheidungen ist unter diesen Voraussetzungen nicht denkbar.
- Karl Popper, einer der damals führenden Philosophen, vertrat einen ähnlichen Ansatz. „Popper weist auf die Unmöglichkeit hin, die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität wissenschaftlich zu erfassen und soziale Ganzheiten umfassend zu planen.“ (W.°Kirsch et.al., Die Wirtschaft, 1978, S. 265) Die Lernfähigkeit eines Systems bleibt aber erhalten, wenn nur kleine und überschaubare Ausschnitte der Wirklichkeit geändert werden. Ursachen und Wirkungen können dann einander zugeordnet werden. (vgl. S.266) Popper bezeichnet diese Vorgehensweise als „piecemeal engineering“ (oder auch Stückwerks-Sozialtechnik). Gestaltungshandlungen sollten in einem System immer nur soweit reichen, als sie experimentell kontrollierbar bleiben (vgl. S. 266).
- Kahn hat 1966 in einem bahnbrechenden Artikel auf das Phänomen der „Tyrannei der kleinen Entscheidungen“ hingewiesen. Kleine Entscheidungen werden unter dem Diktat des Eigennutzes individuell getroffen und verbauen u.U. die sinnvolle Lösung eines übergeordneten Problems, weshalb eine ständige Rückkopplung zur Zielperspektive sinnvoll ist.
Die Ansätze sind hier stark reduziert umrissen. Ich hoffe, dass eine gewisse Parallelität zur Strategie der Agilität erkennbar wird. Für mich ist das Konzept der Agilität eine strategische Umsetzung dessen, was wir in 1970 für wünschenswert hielten. Durchsetzbar war es m.E. zum damaligen Zeitpunkt (noch) nicht. Soviel Demut hinsichtlich der Begrenzung der menschlichen Fähigkeiten überforderte viele Wissenschaftler als auch das Selbstbewusstsein des Managements.
Was hat man heute – 50 Jahre später – mit der Agilität anders oder besser gemacht? Wir waren angesichts der Übermacht der Befürworter des normativen Konstruktes des homo oeconomicus begeistert von Argumenten, die dessen fern jeglicher Realität angesiedelten Annahmen und Voraussetzungen in Frage stellen konnten. Was sich heute als Strategie der Agilität darstellt, ist möglicherweise die Tatsache, dass man aus den damaligen Hypothesen eine Handlungsstrategie gestrickt, sie also in eine Methodik der Praxis eingebaut hat.
Aufgrund der Parallelität hat diese Vorgehensweise m.E. eine Reihe von Folgen, die sich auf den ersten Blick nicht erschließen. Wenn das Muddling through als auch das piecemeal engineering und – ich unterstelle – auch die Agilitätsstrategie erfolgreich angewendet werden können, sind ein paar wesentliche organisatorische Eigenschaften Voraussetzung:
- Flache Hierarchien
- Einfache (unkomplizierte) Kommunikationsstrukturen (-kultur)
- „Handwerklich“-orientierte Gliederung der Vorgehensweise
Vor 50 Jahren galt die Hierarchie als das selig machende Strukturelement. Eine optimal dimensionierte Hierarchie sollte die Entscheidungsprozesse im System strukturell vorbereiten und vor allem verkürzen. Hierarchie und Kommunikation sind sich aber nicht ‚grün‘. Hierarchie ist meist ein Mittel, um Kommunikation einzuengen und zu kanalisieren. Wenn also innovative Entscheidungen auf ein hierarchisches System treffen, steht die Hierarchie meist im Wege. Die Beobachtung von Lindblom mit seinem Durchwursteln ist insofern bemerkenswert, dass er trotz der Existenz von in seiner Zeit ausgeprägten Hierarchien ein „Durchwursteln“ feststellen konnte. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass Hierarchie in keiner Weise Garant für effektive Entscheidungsprozesse darstellt. Wenn man diese Annahme weiterspinnt, sind flache, wenig ausdifferenzierte Hierarchien ausreichend, um effektiv innovative Entscheidungen zu unterstützen. Dabei sind flache Hierarchien angesichts innovativer Veränderungen viel flexibler als strikte Hierarchien, deren Ursprung in der Bürokratie und ihren unbestreitbaren Erfolgsfaktoren zu finden ist (Max Weber).
Flache Hierarchien können im Gegensatz zur strikten Hierarchie die Kommunikationsstrukturen leichter offenhalten. Das geht manchmal zu Lasten der Effektivität, sicher aber zu Lasten der Effizienz. Effizienz ist dabei eine Kategorie, die allein dem Kreis der repetitiven Aktivitäten eng verbunden ist. Effizienz ist in einem innovativen Entscheidungsprozess bestimmt nicht die erste Priorität. Die gefundene Problemlösung muss aber effektiv (wirksam) sein und das anstehende Teilproblem auf die eine oder andere Weise zufriedenstellend lösen. Effizienz kommt ggfs. dann zum Zuge, wenn immer wieder die gleiche Problemstellung (repetitiv) zur Anwendung kommt. So wie der agile Prozess definiert ist, trifft das nur selten zu. Wenn man sich im Rahmen der Agilität auf die vorgefundene Situation einlässt und sie schrittweise ändern will, so sind innovative Prozesse unvermeidlich. Hierarchien hindern dabei. Der einsetzende Kommunikationsprozess muss idealerweise auf „Augenhöhe“ stattfinden können. Man könnte auch von der Möglichkeit eines „herrschaftsfreien Diskurses“ (Habermas) sprechen. Die Aufgabe steht im Zentrum und die Kommunikation muss ungehindert fließen können, um ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen. Dabei wäre Hierarchie als Ausdruck von Herrschaft zu interpretieren und für den innovativen Prozess hinderlich.
Repetitive Prozesse werden gerne nach der Taylor’schen Maxime analog einer Bandfertigung in Folgeschritte zerlegt (Hierarchie), um die Geschwindigkeit und die Durchsatzmenge steigern zu können. Innovative Prozesse können sich dieser Methode nicht bedienen, weil weder die Geschwindigkeit noch die Durchsatzmenge zu diesem Zeitpunkt eine Rolle spielen. Die „Fertigungsschritte“ müssen erst definiert werden und sind Teil der agilen Aufgabe, die es kreativ zu lösen gilt. Die dafür erforderliche Struktur würde ich als „handwerklich“ bezeichnet, weil aus meiner Sicht das ‚Handwerk‘ den Vorteil hat, dass das Ergebnis für die am Werk beteiligten immer sichtbar ist und die Motivation zur Zusammenarbeit steigert. Es erscheint sehr kritisch, wenn der innovative Prozess organisatorisch in „Scheibchen“ zerlegt wird, weil dann die Kommunikationsprozesse zerschnitten werden und die Identifikation mit der Aufgabe sinken würde. Man muss im Entwicklungsprozess ein Verhalten vermeiden, was man etwas hochtrabend ‚Deprivation‘ nennen könnte, die immer dadurch entsteht, dass man am Ende nicht mehr feststellen kann, wer was zu dem (gemeinsamen) Projekt tatsächlich beigetragen hat.
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