Statt einer Neujahrsansprache 2017

Ein weiteres Jahr neigt sich dem Ende zu. Man hört die Ansprachen und man fragt sich, gibt es nicht auch etwas Richtungsweisendes. In den letzten Tagen des Jahres ist mir eher zufällig ein Buch in die Hände gefallen. Seine letzten Seiten, fand ich, könnten (leicht gekürzt) auch als Silversteransprache gut Verwendung finden.

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Der verwendete Begriff des Sozialisten hat hier einen ungewohnten Bedeutungsinhalt. Da der Neoliberalismus sich aus der Position eines Gegners des realen Sozialismus entwickelt hat, ist in der Denkweise dieser Ideologie alles Sozialismus, was nicht dem radikal freien Markt huldigt. Auch der Autor Rutger Bergman zählt zu dieser Art von ‚Sozialisten‘.

Rutger Bergman, Utopien für Realisten, 2017, S. 252ff.(Hervorhebungen durch V.F.):

„(…) Die Linke (scheint) die Kunst der Politik vergessen zu haben. Noch schlimmer ist, dass viele linke Intellektuelle und Politiker aus Angst vor Wahlniederlagen versuchen, radikale Positionen in ihrem eigenen Lager zu unterdrücken. Ich möchte diese Haltung als ‚Underdog-Sozialismus‘ bezeichnen.

Es handelt sich um ein internationales Phänomen, das rund um den Erdball bei linken Intellektuellen und in progressiven Bewegungen (…) zu beobachten ist. Der Underdog Sozialist ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Neoliberalen das Spiel der Vernunft, der Mäßigung und der Statistik beherrschen, während den Linken nur der Appell an das Gefühl bleibt. (…) Die Underdog-Sozialisten sehen ihre einzige Mission (leider nur) darin, die Gegenseite zu kontrollieren und zu bremsen. Sie kämpfen gegen Privatisierung, gegen das Establishment, gegen die Sparpolitik. Sie sind gegen so vieles, das man sich fragt, ob es irgendetwas gibt, das die Underdog-Sozialisten befürworten. (…)

Und allzu oft hat man den Eindruck, als gefiele es den Linken sogar zu verlieren. Als wären die Fehlschläge, der Niedergang und die Abscheulichkeiten nur dazu da, zu beweisen, dass sie die ganze Zeit Recht hatten. (…)

Die Underdog-Sozialisten haben leider vergessen, dass die Linke eine Geschichte der Hoffnung und des Erfolges erzählen sollte. (…) Wenn man nicht in der Lage ist, seine Ideale einem normalintelligenten Zwölfjährigen zu erklären, so ist man vermutlich selber schuld. Was wir brauchen ist eine Erzählung, die Millionen normaler Menschen etwas sagt.

(Und ) … als erstes müssen wir uns die Sprache des Fortschritts wiederaneignen.

Reformen? Ja, natürlich! Bauen wir den Finanzsektor vollkommen um. Zwingen wir die Banken, höhere Rücklagen zu schaffen, damit sie in die nächste Krise nicht sofort wieder ins Wanken geraten. Zerschlagen wir sie, wenn es nötig ist, damit das nächste Mal nicht (wieder) die Steuerzahler die Rechnung bezahlen müssen (…). Benennen und zerstören wir alle Steuerparadiese, damit wir die Reichen endlich dazu zwingen können, einen ihrer Leistungsfähigkeit entsprechenden Beitrag zu leisten (…).

Mediokratie? Her damit. Bezahlen wir die Leute endlich entsprechend ihrem wirklichen Beitrag. Dann würden Müllmänner, Krankenschwestern und Lehrer eine deutliche Gehaltserhöhung bekommen, während Lobbyisten, Rechtsanwälte und Banker draufzahlen müssten. Wer einer Arbeit nachgehen will, die der Allgemeinheit schadet, soll es ruhig tun. Aber er wird mit deutlich höheren Steuern dafür bezahlen müssen.

Innovation? Selbstverständlich. Noch heute werden große Mengen von Talent vergeudet. Gingen die besten Studenten in der Vergangenheit in die Wissenschaft, in den öffentlichen Dienst und in die Bildung, so entscheiden sie sich heute für Finanzen, Recht und Internetfirmen wie Google und Facebook. Halten wir einen Moment inne, um über die Milliarden an Steuergeldern nachzudenken, die investiert werden, um die besten Köpfe der Gesellschaft auszubilden – nur damit sie lernen, andere möglichst effizient auszubeuten. Das ist zum Verrückt werden. Stellen wir uns vor, wie anders die Welt aussehen könnte, wenn sich die Besten und Klügsten unserer Generation den größten Herausforderungen unserer Zeit widmen würden: Dem Klimawandel zum Beispiel, oder der Bevölkerungsalterung, oder der Ungleichheit. Das wäre eine echte Innovation.

Effizienz? Genau darum geht es. Nehmen wir folgendes Beispiel: Jeder Dollar, den wir in einen Obdachlosen investieren, bringt uns den dreifachen Ertrag, da wir uns Ausgaben für medizinische Versorgung, Polizeieinsätze und Gerichtsverfahren sparen. Stellen wir uns vor, was wir mit der Beseitigung der Kinderarmut erreichen könnten. Derartige Probleme zu lösen ist sehr viel effizienter als zu versuchen, sie lediglich „unter Kontrolle zu halten“, denn die Eindämmung kostet langfristig sehr viel mehr.

Abbau des Bevormundungsstaats? An die Arbeit. Streichen wir diese nutzlosen, anmaßenden Hilfsmaßnahmen für Arbeitslose – jene Art von Ausbildungsmaßnahmen, die in Wahrheit nur die Arbeitslosigkeit verlängern-, und hören wir auf, die Empfänger von Sozialleistungen zu drillen und zu erniedrigen. Geben wir jedermann ein Grundeinkommen – Wagniskapital für das Volk -, damit Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen können.

Freiheit? Nichts brauchen wir mehr. Heute sitzt mehr als ein Drittel der Beschäftigten in „Bullshitjobs“ fest, in Tätigkeiten, die diese Menschen selbst als sinnlos empfinden. (Dies erinnert) mich an all die freiberuflichen Journalisten, die PR-Artikel für verhasste Unternehmen schreiben müssen, um ihre wichtigen Recherchen finanzieren und Artikel schreiben zu können, in denen sie zweifelhafte Praktiken ebensolcher Unternehmen anprangern. Wir haben die Welt auf den Kopf gestellt: Im modernen Kapitalismus müssen wir die Dinge, die unserem Leben Sinn geben, mit dem Ertrag überflüssiger Aktivitäten finanzieren.

Es ist an der Zeit, die „Arbeit“ neu zu definieren. (…) (Am Ende ihres Lebens) bedauerten die Menschen (am meisten), dass sie nicht ihr Leben gelebt hatten, sondern eines, das die Umwelt von ihnen erwartet hatte. (…)

…Die Underdog-Sozialisten müssen (…) zuerst aufhören, in ihrer moralischen Überlegenheit und ihrem überholten Vorstellungen zu schwelgen. Jeder, der sich als progressiv betrachtet, sollte nicht nur Energie, sondern auch Ideen, nicht nur Empörung, sondern auch Hoffnung verbreiten und die Ethik mit einer aggressiven Verkaufstaktik verbinden. Dem Underdog-Sozialisten fehlt die entscheidende Eigenschaft, um politische Veränderungen herbeizuführen: die Überzeugung, dass es wirklich einen besseren Weg gibt, dass die Utopie tatsächlichen Wirklichkeit werden kann. (…)

Mein (…) Rat lautet: Legen Sie sich eine dickere Haut zu. Lassen Sie sich von niemandem etwas einreden. Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir unrealistisch, unvernünftig und ungehörig sein. Vergessen Sie nicht: Auch die Menschen, die für die Abschaffung der Sklaverei, für das Frauenwahlrecht und für die Homosexuellenehe eintraten, wurden anfangs für verrückt erklärt. Sie waren Verrückte, bis die Geschichte ihnen recht gab.“

In diesem Sinne ein Frohes Neues Jahr.

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