Kapitalismus 4.0

Die Entwicklung, die sich mit der Umsetzung des Regierungs-Projektes ‚Wirtschaft 4.0‘ abzeichnet, ist eine hochgradig technologische Thematik, die künftig  – so die These hier  – mit dem Kapitalismus in Konflikt stehen wird. Dieser Konflikt wird im Folgenden mit dem Begriff ‚Kapitalismus 4.0‘ bezeichnet.

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Die Entwicklung des Kapitalismus beginnt etwa 1760 als die ersten großen technologischen Erfindungen gemacht und umgesetzt wurden. Die Landarbeiter strömten als Folge in die Fabriken und schufen trotz ihres Elends durch ihr Einkommen eine Kaufkraft, die die ins Leben gerufene Massenproduktion absorbieren konnte und so die Wirtschaftsentwicklung vorantrieb. Die Bevölkerung wuchs und das reale Wachstum unterstützte den Trend. Es zeichnet sich aber ab, dass zwischen dem Kapital und der Arbeit eine unauflösbare Beziehung besteht: die Arbeit trug einerseits nicht unwesentlich zur Warenproduktion bei; andererseits waren die erwirtschafteten Arbeitseinkommen die Kaufkraftbasis zur Konsumtion der produzierten Güter. Alles was produziert wird, muss  – soll es Gewinn bringen – einen Abnehmer finden. Wer ist in der Lage, diese Funktion zu erfüllen: das ist in erster Linie die Massenkaufkraft der abhängig Beschäftigten, die Kaufkraft des Staates, die (eher unbedeutende) konsumtive Kaufkraft des Kapitals und der Unternehmen und die Effekte des Exportüberschusses. Exportüberschuss ist dabei ein anderes Wort für die Inanspruchnahme der Kaufkraft anderer Nationen.

Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit wurde im Lauf der Jahrzehnte humaner gestaltet und bis zum Ende der Wirtschaft 2.0 (etwa bis 1970) war die Entwicklung des Kapitalismus trotz einige Krisen und Kriege für die Volkswirtschaften insgesamt positiv und von Prosperität gekennzeichnet. Mit Beginn der Wirtschaft 3.0 (der flächendeckenden Einführung von Computertechnologie und dem Ausbau der IT) zeigten sich ziemlich schnell die Auswirkungen der neuen 3.0 – Technologie. Die Zahl der Arbeitslosen stieg auf über 5 Mio. Menschen. Der Grund lag sicherlich auch in schwankenden Konjunkturen, war aber zu einem wesentlichen Teil durch den Abbau von Personal begründet, deren Aufgaben jetzt Schritt für Schritt der Computer übernahm. Insbesondere einfachere Tätigkeiten wurden mit Hilfe dieser Technologie ersetzt. Die Arbeitslosenquote wurde politisch als so beunruhigend empfunden, dass die Voraussetzungen für einen Niedriglohnsektor geschaffen und eine Reihe von Beschönigungen an der Arbeitslosenstatistik vorgenommen wurden. Die Agenda 2010 hat dann dazu beigetragen, dass die Reallöhne in den letzten zwei Jahrzehnten nicht gewachsen sind. Die dadurch ausfallende Kaufkraft wurde durch erhöhte Exportüberschüsse kompensiert.  Die EU-Mitglieder sehen den Exportüberschuss Deutschlands mit gemischten Gefühlen: Deutschland nutzt seine niedrige Reallohnsituation, um in den Nachbarländern der EU aufgrund der eigenen fehlenden Kaufkraft zu ‚wildern‘.

Die Politik hat das Projekt Wirtschaft 4.0 nicht ganz freiwillig ausgerufen – der Wettbewerb zwischen den Nationen erzwingt mehr oder weniger diese Vorgehensweise. Die Digitalisierung steht vor der Tür und die Prognosen zur Anwendung dieser Technologie kommen gegenwärtig zu dem Ergebnis, dass in vielen Branchen bis zu 50% der Arbeitskräfte im Laufe der nächsten 20 Jahre freigesetzt werden. Bei technologischen Prognosen ist die Trefferquote relativ gut. Die technologischen Grundlagen existieren, sie müssen (wie seiner Zeit bei der Gentechnik) nicht erst noch gefunden oder gar erfunden werden. Deshalb kann man im Folgenden davon ausgehen, dass die Prognosen in ihrer wesentlichen Aussage eine plausibel wahrscheinliche Zukunft beschreiben.

Was heißt das für das gegenwärtige genutzte Wirtschaftssystem? Die Forcierung der Digitalisierung kommt in einem ersten Schritt einem Investitionsprogramm gleich. Also ist aus dieser Sicht mit einer allgemeinen Belebung der Wirtschaftsaktivitäten zu rechnen. Parallel führt aber die zunehmende Digitalisierung zur Freisetzung einer steigenden Zahl an Arbeitsnehmern. Erst werden nur die Angst und die Sorge um den Arbeitsplatz zu einem restriktiveren Ausgabenverhalten führen. Greift der konkrete Arbeitsplatzverlust, so rutschen die davon Betroffenen in eine Situation, bei der ihre Kaufkraft ein Minimum erreichen wird. Wenn der Kaufkraftschwund dann auf den Konsum durchschlägt, befindet sich die Volkswirtschaft schlagartig im rasanten Sinkflug. Bei der in Aussicht gestellten großen Zahl von Arbeitslosen und dem anhaltend hohen Grad an fortschreitender Digitalisierung ist keine Chance erkennbar, diese ‚Massen‘ zeitnah sinnvoll zu integrieren. Man kann sogar so weit gehen, dass in Abhängigkeit von der Zahl der Arbeitslosen und dem damit verbundenen Kaufkraftverlust das kapitalistische System zu kollabieren droht. Das digitalisierte System soll (Angabe gemäß) hochflexibel sein, aber es ist überaus kapitalintensiv und braucht deshalb einen hohen Durchsatz, um die Skaleneffekte der Kostendegression sinnvoll nutzen zu können. Wenn nun die Hälfte der Kaufkraft entfallen würde, lässt sich  – cum grano salis – auch nur noch die Hälfte der gegenwärtigen Produktmengen absetzen. So jedenfalls funktionierte das System in der Vergangenheit, indem zwischen Absatz und Kaufkraft eine relativ enge Abhängigkeit unterstellt werden kann.

Die Technologie der Digitalisierung würde die im Kapitalismus konstituierende Beziehung zwischen Masseneinkommen und Kaufkraft dadurch in Frage stellen als sie eine Mehrzahl der Menschen aus dem System ‚kegelt‘, damit den Konsum dramatisch schwächt und dem kapitalistischen System seine Funktionsgrundlage entzöge. Das kapitalistische System könnte daran zerbrechen, insbesondere als nicht nur Deutschland betroffen wäre, sondern im etwa gleichen Zeitraum die ganze Nordhalbkugel. Also würde die in Deutschland beliebte ‚Krücke‘ Export keine Wirkung zeigen können.

Es gibt immer unverbesserliche Optimisten. Merkwürdigerweise jedoch stellen sie nicht die prognostizierten Freisetzungen und Umwälzungen am Arbeitsmarkt in Frage. Sie gehen stattdessen optimistisch davon aus, dass sich durch die Digitalisierung so viele neue Chancen auftun werden, dass das Szenario seinen Schrecken verlieren soll. Das Problem ist nur, dass diese Hoffnung außer Wunschdenken wenig konkrete Substanz besitzt.

Es steht außer Zweifel, dass mit der Digitalisierung neue Arbeitsplätze entstehen werden. Es bleibt aber die Frage, wieviel und auf welchem Niveau? Es ist nicht zu erwarten, dass diejenigen, die freigesetzt werden, in Gänze keine Beschäftigung mehr finden. Der Bodensatz der Arbeitslosigkeit wird aber über einen längeren Zeitraum dramatisch wachsen und eine Größenordnung annehmen, die den sozialen Frieden der Gesellschaft sprengen kann.

Den Optimisten muss auch verdeutlicht werden, dass ihr Ansatz nur deshalb positiv aussieht, weil sie ihre Argumentationskette mit der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen aufhören lassen. Aber die Digitalisierung hört doch dann nicht auf – sie greift doch auch die neu geschaffenen Arbeitsplätze an.  Die Freisetzung von Menschen endet doch nicht, wenn die besagten 50 % erstmals erreicht sind. Es werden beliebig viele neue Arbeitsplätze geschaffen, von denen doch wieder bis zu 50% durch die Digitalisierung aufgelöst werden, u.s.w. (ad infinitum). Der mathematisch versierte Leser wird hier für jeden Zuwachs eines Jahres eine ‚geometrische Reihe‘ feststellen können, deren Grenzwert gegen Null läuft. D.h. konkret, die Auswirkung der Digitalisierung wird mit den Jahren alle künftigen Arbeitsplatzzuwächse, die die Optimisten heute als Lösungsstrategie ins Feld führen, in seinen Grundzügen zunichtemachen. Darüber spricht aber keiner. Für diejenigen, die diese Aussage zu formal und suspekt erscheint, noch einmal anders: Jeder neu zu schaffende Arbeitsplatz im Zeitalter der Digitalisierung steht doch immer vor dem Vorbehalt, einen Menschen einzustellen oder die Aufgabe gleich zu digitalisieren. Also ist es richtig, dass die Digitalisierung viele neue Aufgaben geschaffen wird – aber sie werden doch größtenteils digitalisiert und verbessern die Arbeitslosenquote überhaupt nicht.

Das ‚Schneller, Höher, Weiter‘ – Syndrom des Kapitalismus führt zur forcierten Einführung einer Technologie, die ein zusätzliches und neues Risiko aufbaut, das in den Betrachtungen der Ökonomie nicht so richtig erfasst werden kann. Die neue Risikokategorie leitet sich nicht unmittelbar aus typisch kapitalistischen Defiziten ab, wie aus überzogenen Effizienzerwartungen, oder aus der fatalen Verherrlichung des Egoismus und seinen Gewinnerwartungen, oder aus einem falsch konzipierten Markt, sondern aus Gründen einer Technologie, deren Einführung im Rahmen des inszenierten Wettbewerbs der Nationen als unabwendbar gilt.

Es geht letztlich nicht um Geld. Es geht nicht um die Verteilung von Vorteilen. Es geht schlicht um die Frage, warum und zu welchem Zweck betreibt eine Gesellschaft ein solches System? Warum müssen wir uns unkritisch einer Technologieumsetzung aussetzen, die den Menschen auf breiter Basis keinen Wohlstand versprechen kann, sondern den Menschen wie ‚Ausschuss‘ und ‚Verschnitt‘ in eine Randrolle zu drängen droht?  Wenn auf dem Weg zur vollen Digitalisierung nahezu die Mehrzahl der Menschen faktisch als überflüssig gebrandmarkt werden, was müsste dann das politische Ziel sein? Haben wir hierfür überhaupt ein Ziel? Wohlstand – aber wessen Wohlstand?  Kann die Bereicherung weniger Mitspieler das Ziel einer Gesellschaft sein? Und wie können wir unter diesen Umständen die Würde der betroffenen Menschen sicherstellen? Das wird sehr spannend! Das verlangt geradezu nach Einmischung, um der Entwicklung eine menschlich verträgliche Wendung zu geben.

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