Auf der Suche nach dem richtigen Maß

Für einige steht unsere Demokratie auf dem Spiel. Andere gehen gleich den Weg in die Autokratie, weil sie zu erkennen glauben, dass sie nur dann gegen die großen und neuen Autokratien dieser Welt bestehen können. Irgend etwas stimmt mit unserer Wahrnehmung nicht oder wir erkennen die realen Zusammenhänge nicht. Unser gegenwärtiges System einer repräsentativen Demokratie fußt in Deutschland auf Institutionen, die seit ca. 150 Jahren als Parteien akzeptiert sind und von denen heute eine knappe Mehrheit glaubt, dass sie die politischen Strömungen und Befindlichkeiten hinreichend treffend im politischen System abbilden. Sind diese Erwartungen aber gerechtfertigt?

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Diese Frage ergibt sich für mich, weil bis zu hundertundfünfzig Jahre alte Institutionen und seit rd. achtzig Jahren bestehende Strukturen durchaus sklerotisch werden können. Sie verlieren u.U. ihre Flexibilität und sind in manchen Fragen nicht mehr in der Lage, eine sich rasch verändernde Welt auf dem politischen Feld adäquat widerzuspiegeln. Die Vorstellung, dass Partei-Institutionen und politische Strukturen automatisch durch den regelmäßigen politischen Austausch flexibel bleiben, halte ich für naiv. Man kann diese Problematik daran festmachen, dass jeder Regung des Wahlvolkes, die zum Ausdruck bringen könnte, dass die bestehende ‚Repräsentation‘ des politischen Willens eventuell (oder auch dringend) einer Überarbeitung bedarf, von den Parteien i.d.R. scharf und unmissverständlich eine Absage erteilt wird.

Die von uns praktizierte Form von Demokratie ist nur eine Alternative von vielen, wobei wir uns nicht an die Demokratie anzupassen haben, sondern die demokratischen Strukturen sollten sich in angemessener Form der gesellschaftlichen Situation anpassen. Die Idee der Demokratie folgt einem Ideal, das eigentlich nie erreicht werden wird. Die jeweilige gesellschaftliche Situation entwickelt sich, vielfach beeinflusst von der technologischen Entwicklung, organisch aus der Gesellschaft heraus. Die strukturelle Antwort unseres Systems muss dieser Entwicklung organisatorisch Rechnung tragen und nicht umgekehrt. Eine Gesellschaft auf eine ggfs. sklerotische Form von Demokratie „hinzutrimmen“, erscheint unrealistisch. Es wird aber immer wieder versucht.

Unsere ‚westliche‘ Gesellschaft (und nicht nur die Gesellschaft in Deutschland) wird vielfach als „gespalten“ beschrieben. Dabei laufen die Brüche m.E. nicht so, wie sie uns z.B. aus USA als zwei auseinander strebende ‚Einheiten‘ berichtet werden. Wir können bei uns eher ein Moment der Überforderung feststellen, wie das Rüdiger Safranski in einem Interview des „Pioneer“ vom 25.5.25 ausführt: „Wir haben es heute zu tun mit Erregung als Dauerzustand, man kann es auch Hysterie nennen. Das Zweite ist, dass wir gar keine andere Möglichkeit haben, als bei alledem, was auf uns eindringt, mit Komplexitätsreduzierung zu arbeiten. Wir können gar nicht anders, als in unserer Urteilsbildung robuster zu werden. Das ist, wenn man nicht ganz anspruchslos ist, nicht sehr erfreulich. Wir haben eigentlich ständig das Gefühl, dass wir uns nicht auf dem Niveau der komplexen Wirklichkeit bewegen, die uns umgibt. (…) Die Wirklichkeit ist so, dass wir überhaupt nur mit Vorurteilen existieren können. Ein wirkliches Urteil erfordert neben der Bereitschaft zur Ehrlichkeit auch Anstrengung, (Zeit1), Wissen und Recherche. Und das kann man ja nur in Einzelfällen leisten.“

Für die Bewältigung der Wirklichkeit hat sich etwas herausgebildet, was Safranski den Mainstream nennt und beschreibt ihn als „eine Form der intellektuellen Bequemlichkeit“. Wenn man sich die Parteienlandschaft anschaut, so wird vermutlich den meisten deutlich werden, dass die Parteien aufgrund ihrer Abhängigkeit von Wahlentscheidungen stark dazu neigen, ihre Politikansätze schwerpunktmäßig im Mainstream zu suchen. Es ist nicht auszuschließen, dass sie dabei vor lauter Vorurteilen die Wirklichkeit aus dem Blick verlieren. Wo liegt dann das notwendige Korrektiv der Politik hin zur Wirklichkeit?

Um die oben geäußerte Aussage etwas konkreter zu fassen, können wir das Verhältnis von Politik und Klimawandel beobachten. Das langfristig wirkende Problem des Klimawandels ist zwischenzeitlich seit gut fünf Jahrzehnten bekannt. Und so langsam diffundiert das Phänomen auch in den Mainstream und führt bei vielen Bürgern aber zu einer Überforderung, die ganz rasch von der Politik aufgegriffen wird und einige Parteien dazu veranlasst, den Klimawandel als nicht existent zu betrachten und/oder mit einem schlichten „Weiter so“ zu beantworten. Notwendig wäre ein sinnvolles Maßnahmenpaket, das aber den Mainstream überfordern würde und damit sucht die Politik nach irrationalen Auswegen, die die Situation keinesfalls bessern und mittelfristig die Möglichkeiten einer angemessenen Problemlösung einengen.

Der Klimawandels ist ein langfristiges Phänomen, die Wahrnehmung des Mainstream ist aus Bequemlichkeitsgründen regelmäßig auf das Hier und Jetzt beschränkt. Der Mainstream kennt keine längerfristige Perspektive, was sich nachteilig auf die am Mainstream orientierte Parteien-Politik auswirkt. Das klare Korrektiv wäre das „Wissen“ um die Dinge, dargestellt durch die Wissenschaft. Sie aber ist keine demokratisch anerkannte Einrichtung, weil Mainstream und Politik glauben, die oft unbequemen Erkenntnisse schlicht negieren zu können. Die Zusammenhänge sind kurzfristig nicht offensichtlich.

Die hier beschriebenen Politikdefizite rühren u.a. aus der Fokussierung auf Strukturen einer repräsentative Demokratie. Es muss ein Weg gefunden werden, wie man die fatale Abhängigkeit der Politik vom Denken des Mainstreams ein Stück weit aufbrechen und neue, andere, aber demokratisch legitimierte Ideen zum Tragen bringen kann. Das vorherrschende Denken der Politik ist die Vorstellung, dass Politik „für das Volk“ gemacht wird. Die Alternative wäre eine Politik „mit dem Volk“, d.h. dass Beteiligungsformen gefunden werden, die die Politik-Blase aufbrechen und der Bevölkerung eine zusätzliche Mitwirkungsmöglichkeit an den entscheidungsrelevanten Grundlagen ermöglicht.

Die Blase der Politik ist groß und sie entwickelt ihre Ideen fernab von großen Teilen der Bevölkerung. Ständigen Zutritt zur politischen Blase haben nur die Lobbyisten und ein vernachlässigbarer Teil der Bevölkerung. Was wäre, wenn der Bevölkerung durch einen regelbasierten Zutritt zu wichtigen Fragen ebenfalls eine formale Lobbyfunktion zu gebilligt wird? Die lobbyistische Funktion besteht darin, einmal Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern herzustellen, die politischen Entscheidungsträger dann im Sinne des Lobby-Auftrags mit entscheidungsrelevanten Grundlagen zu versorgen. Ergänzend wird gewöhnlich vom Lobbyisten auch gleich das notwendige Narrativ mitgeliefert, das dem Lobbyisten und dem Politiker die Möglichkeit bietet, die dahinter liegende wirtschaftlich oft sehr einseitige Interessenlage vor der politischen Öffentlichkeit zu verschleiern.

Eine „Bürger“-Lobby wird von den Vertretern einer repräsentativen Demokratie-Struktur vermutlich mit dem Argument abgelehnt, das der Abgeordnete im Grunde diese Funktion übernehmen sollte. Aber die Parteien und die entwickelten Strukturen (z.B. Fraktionszwang als Disziplinierung) hebeln die mögliche Lobby-Funktion des Abgeordneten aus. Der jeweilige Abgeordnete bespielt ein breites Politik-Feld, dessen Bearbeitung zeitlich einen hohen Einsatz erfordert. Die Problematiken werden aber immer komplexer und beanspruchen Einarbeitungs-zeiten, die dem Abgeordneten (wenn er ehrlich ist) nicht zur Verfügung stehen. Auch hier gilt die Idee des Mainstreams – man übernimmt einfach eine „vorgekaute“ Meinung der Fraktion, der Partei oder gar irgendwelcher Lobbyisten. Ob hier das Ideal des „freien Mandats“ eines Art. 38 GG noch gelebt wird, erscheint mir fragwürdig. Um so wichtiger wäre das Korrektiv!

Das Korrektiv kann m.E. nicht in einer basis-demokratischen Organisation liegen, weil 84 Mio. Bürger niemals die „Basis“ darstellen können. Seit etwa fünfzig Jahren kennen wir das sogenannte „deliberative Beteiligungsmodell“, ursprünglich von Prof. Dienel als „Planungszelle“ in den 70ger Jahren in die Diskussion gebracht. Der Begriff Deliberation ist so sperrig, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass die Wortwahl bezweckt, dass die Idee gleich wieder aus der nächsten Kurve fliegt.

„Deliberation“ wird in der Politik dann verwendet, wenn es gilt, über etwas nachzudenken oder zu beratschlagen. Die Entscheidung trifft aber letztlich eine andere Instanz. Das besagte Beteiligungsmodell wird über einen Zufallsgenerator mit Personen bestückt, die systematisch aus allen Schichten der deutschen Bevölkerung ausgewählt werden und die in dem Beteiligungsprozess erstmals aufeinander treffen.

Das Verfahren stellt sicher, dass alle Schichten erfasst werden, auch jene Mitbürger, die nicht zur Wahl gehen und lädt sie ein, an einer konkreten Fragestellung beratend (deliberativ) teilzunehmen. Ein Zwang besteht nicht. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass alle Schichten der Bevölkerung zu Wort kommen und dass dieses Ergebnis dann gewissermaßen basisdemokratisch die Bevölkerung repräsentativ widerspiegelt. In unserer repräsentativen Demokratie sollen der Bundes- und die Landtage die Bevölkerung repräsentieren, was sie offensichtlich aufgrund ihrer Zusammensetzung nicht realisieren können. Über den Daumen gerechnet, repräsentieren 80% der Parlamentarier etwa 20 % der Bevölkerung. Das ist keine angemessene Repräsentation.

Das hier beschriebene Beteiligungsmodell ist in Teilen in Form von Bürgerräten auf Bundesebene realisiert. Auf den anderen Ebenen unseres Staatsgebildes gibt es dieses Modell als institutionalisierte Beteiligung bedauerlicherweise noch nicht. Neben der Möglichkeit, mehr Bevölkerungsteile an die Politik heranzuführen, bietet diese Beteiligungsform, in großem Stil durchgeführt, eine praktische Unterweisung, um die Berührungsängste gegenüber der Politik herabzusetzen. Da diese Beteiligungsmodelle keine Dauer-Institutionen darstellen – sie lösen sich nach der Fixierung des Ergebnisses wieder auf – haben Lobby-Organisationen keine echte Chance, dort Zugang zu finden und Einfluss auszuüben. Also wäre es hilfreich, die Idee der Bürgerräte auszudehnen und sie regelmäßig einzusetzen, um eine breite demokratische Meinungsbildung zu fördern.
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1Von mir eingefügt.

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