Eine neue Theorie der Ökonomie?

Der „Special Issue“ des real-world-economics Review (No. 106) zu der Frage „Wie können wir eine Wirtschaftswissenschaft innerhalb der biophysikalischen Grenzen des Wirtschaftswachstums schaffen?“ hat mich einige Mühe gekostet die Mehrzahl der 200 Seiten Stoff querzulesen. Es sind eine Reihe sehr inspirierende Beiträge, die mich veranlassten, darüber nachdenken, wie ich das Problem angehen würde. Um es vorweg zu sagen, erwarten Sie bitte keine Lösung, bestenfalls kann man ein paar Ideen beitragen.

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Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein einfacher Grundsatz: Das Wirtschaften dient der menschlichen Gesellschaft und nicht umgekehrt! Unsere sogenannten wirtschaftlichen Erfolgszahlen (Bruttoinlandsprodukt, Wachstum, u.a.) bilden möglicherweise den Zustand unserer Wirtschaft ab, aber nicht unser Wohlergehen als Gesellschaft. Als Folge dieser einseitigen Erfolgszahlen neigen wir dazu, mehrheitlich die wirtschaftliche Perspektive höher zu bewerten als die gesellschaftliche. Deren Abbildung würden andere „Erfolgszahlen“ erforderlich machen, die es zwar gibt, aber deren Bedeutung und mediale Verbreitung eher gering einzuschätzen ist. Das ist m.E. eine Folge des gängigen Narrativs: das mächtige Narrativ des angeblich erfolgreichen Wirtschaftens überdeckt den gesellschaftlichen Anspruch, gehört zu werden.

In der oben angeführtem Sonderausgabe (Special issue) hat u.a. ein Beitrag von James K. Galbraith1 mein Interesse geweckt. Er fragt sich in einem recht kurzen Beitrag, inwieweit die ökonomische Theorie den realen Lebensprozessen und den physikalischen Gesetzen gerecht wird und greift einige Gesichtspunkte heraus, bei denen diese Erwartung fraglich ist und verweist auf sein demnächst erscheinendes Buch „Entropy Economics“:

Menschliche Wesen sind lebende Organismen. Alle menschlichen Aktivitäten, einschließlich der mentalen, entsprechen physikalischen Gesetzen. Es ist (also) naturgemäß, eine ökonomische Theorie (zu erwarten), die auf den Grundlagen der Biologie und Physik gründet. (…)

Sein erster Einwand wendet sich gegen die gängige Auffassung vom Markt:

In der modernen ‚Mainstream‘ Ökonomie gibt es zwei getrennte und unterscheidbare Institutionen oder Arenen des Handelns. Die eine ist der Markt, die andere ist der Staat (Verwaltung). Diese zwei Arenen haben getrennte Funktionen: der Markt verteilt die Ressourcen gemäß den Präferenzen der Haushalte und Unternehmen; der Staat setzt Verträge und Eigentumsrechte durch und stellt Sicherheit und Schutz. Unabhängig davon wird eine wirtschaftliche Staatsaktivität als „Intervention“ in den Markt beschrieben, was manchmal gerechtfertigt ist, aber in den meistens Fällen nicht.

Im wirklichen Leben gibt es keine Märkte ohne Staat, der sie reguliert. Regulierungen schaffen die Voraussetzungen, unter denen komplexe wirtschaftliche Aktivitäten entstehen können, und sie setzen Bedingungen und Grenzen für wirtschaftlichen Wettbewerb. (…) Wenn die Regulierungen scheitern, zerbröseln die Märkte (…).2

Ein weiterer Gesichtspunkt befasst sich mit dem Verständnis zur Wertentstehung:

Die Wert- und Produktionstheorien sind die Grundlagen der Wirtschaftstheorie. Beides sollte im Einklang mit Lebensvorgängen und physikalischen Gesetzen stehen.

(…) Der Wert ist eine Funktion der Knappheit, die zum Teil eine Frage der Produktverfügbarkeit im Verhältnis zur Marktgröße ist. Zum Teil hängt es auch von der Anzahl der Hersteller oder Dienstleister ab. (…) In der Praxis besteht die wichtigste Methode zur Verbesserung der Bewertung darin, die Anzahl der Anbieter zu verringern und so ein Monopol oder Oligopol zu schaffen.

Monopole oder Oligopole gelten in den Lehrbüchern als Vorboten der Hölle. Aber wer die Schäppchenverrücktheit der Konsumenten und die Ziele der Unternehmer richtig interpretiert, wird erkennen müssen, dass keine Seite den „vollkommenen Markt“ der Theorie anstrebt. Nur ein unvollkommener Markt (und das sind die meisten realen Märkte) ist ein Markt, den sowohl die Konsumenten als auch die Anbieter suchen, weil nur solche Märkte in Bewegung sind und deshalb Gelegenheiten für wirtschaftliche Vorteile bieten. Die Unvollkommenheit eines Marktes drückt sich auch dadurch aus, dass Ungleichgewichte auf der Anbieter- und Nachfragerseite den Markt in Bewegung halten.

Die Frage bleibt nur, wie viel Ungleichheit verträgt die ökonomische Konstruktion. Etwas Unvollkommenheit wirkt i.d.R. belebend, solange Beteiligten erkennen können, dass das Ungleiche durch eigenes Handeln ausgeglichen werden kann. Ungleichgewichte, die den Anschein einer „Betonkonstruktion“ vermitteln, wirkend lähmend auf die Wirtschaftsentwicklung (vergleiche z.B. die oben angesprochenen Monopole).

Auch „der Staat verfügt über viele Formen von Monopolen, darunter die legalisierte Gewalt, gerichtliche Strafen und Steuern. Der Staat gewährt Monopole durch Patente, geistige Eigentumsrechte, Regulierungen und Industriestandards. Unternehmen streben durch technologische Innovation und Marktbeherrschung nach Monopolen, manchmal legal und manchmal nicht. (…)

Eine einmal erworbene Monopolstellung wird natürlich geschützt (bzw. abgesichert). Die herrschende Klasse verfolgt im Allgemeinen die Politik des „Teile und herrsche“. Aus ihrer Sicht ist Monopolmacht etwas, das nicht geteilt werden darf. Die herrschende Klasse (versucht) die Beherrschten daher oft nach Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Kultur und anderen Kriterien zu trennen und ermutigt kleine Gruppen, sich als unverwechselbar und getrennt von ihren Mitbürgern zu definieren (zu individualisieren). Ebenso ziehen es Unternehmen oft vor, ihre Mitarbeiter nach Qualifikationen und Berufskategorien zu stratifizieren und mit ihnen (wenn überhaupt) im Einzelgespräch zu verhandeln, anstatt sich einer organisierten Gewerkschaft zu stellen. Diese Aufspaltung reduziert den Wert (und die Bedeutung) der Wähler in einer Demokratie und die Macht der Arbeitnehmer in einem Vertragsstreit, wodurch die Betroffenen leichter zu ‚regieren‘ sind. Monopol ist für die Mächtigen; Wettbewerb ist etwas für die Schwachen.“

Wenn eine Untergruppe sich als zu groß oder zu stark entwickelt, so dass sie die Monopolstellung der herrschenden Klasse gefährdet, besteht eine Lösung darin, sie in kleinere Einheiten aufzuspalten, die miteinander in einem (beständigen, künstlich befeuerten) Konflikt stehen. (Man spricht dann gern davon, die auseinander strebenden Kräfte zu binden) Eine andere Lösung unterdrückt die ‚Emporkömmlingsgruppe‘ (oder die Start-ups) insgesamt. Dieses Muster zeigt sich oft auf der Weltbühne und auf jeder Ebene der Organisation menschlicher Angelegenheiten, von der Familie bis zum Nationalstaat. Eine realistische Werttheorie sollte (im Rahmen der Ökonomie) berücksichtigen, wie durch die Ausübung monopolistischer Macht Werte geschaffen und erhalten (und auch vernichtet) werden.“

Bei den meisten Gütern hängt die wirtschaftliche Bewertung daher sowohl von der Häufigkeit oder Seltenheit des Produkts (im Verhältnis zum Markt) als auch von der Anzahl der Lieferanten mit Produktionsfähigkeit und Marktzugang ab. Allerdings wird die Rolle des Monopols in den meisten Gesellschaften durch gesellschaftliche Entscheidungen – (sogenannte) Regulierungen – verändert, die das wirtschaftliche Verhalten regeln, einschließlich der Preise der meisten Arten menschlicher Arbeit und der Zinssätze. Die Monopolmacht auf der Ebene des Unternehmens oder des Oligarchen ist selten absolut; es wäre nicht tolerierbar, wenn es so wäre. Oder um es evolutionär auszudrücken: Gesellschaften, die die Monopolmacht nicht begrenzen, sind im Allgemeinen instabil und bestehen nicht sehr lange.“

Neben dem Marktverständnis in der Wirtschaftstheorie irritiert Galbraith die Tatsache, dass die meisten Lehrbücher ihre Erläuterungen gleich mit dem Austauschverhältnissen und dem Markt beginnen. Aber ohne eine Produktion gibt es nichts, was für den Austausch und letztlich für den Konsum sinnvollerweise bereit stünde. Es wird offensichtlich unterstellt, dass die Güter und Dienstleistungen in der Theorie einfach als existent vorausgesetzt werden.

Wenn wir Schritt für Schritt den Wirtschaftsablauf verfolgen, so beginnt er mit der Verfügung über Ressourcen, der Produktion von Wirtschaftsgütern, dann folgt eventuell der Austausch und letztlich der Konsum. Damit endet die ökonomische Betrachtung, obwohl der letzte Schritt noch gar nicht gemacht wurde: Die ganze Produktion wird früher oder später zu Abfall oder deutlicher gesagt: zu Müll. Es wird so getan, als würde die Ökonomie erst mit dem Markt beginnen und mit dem Konsum schon wieder enden. Dann sollte jeder Beteiligte sein Geld gemacht haben?! Aber die Kette ist doch viel länger: Bereitstellung der Ressourcen, Herstellung (Produktion), Verteilung (Markt), Konsum, und am Ende Müll. Zur Produktion weiß die Ökonomie wenige beizutragen und der Lebensabschnitt der Wirtschaftsgüter, den wir unter der Bezeichnung „Müll“ zusammenfassen würden, existiert in der Theorie überhaupt nicht, obwohl dieser Lebensabschnitt inzwischen weltweit ein Geschäftsvolumen von vielen Milliarden Euro Umsatz umfasst und wir im Müll zu „ersaufen“ drohen. Müll können wir nach der heutigen Theorie bestenfalls verwalten, aber nicht verwerten, rückführen oder gar abbauen. Nicht einmal das Vermeiden funktioniert, weil wir dann unsere Entscheidungen im Rahmen der Herstellung grundlegend ändern müssten. Vermeiden beginnt beim Nicht-produzieren!

Der Wert bezieht sich auf Güter und Dienstleistungen, die produziert werden. Bei wirtschaftlichen Aktivitäten geht es hauptsächlich um die Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Der Konsum mag das ultimative Ziel der Wirtschaftstätigkeit sein, aber ohne Produktion gibt es nichts zu konsumieren. Damit eine Produktion stattfinden kann, müssen wirtschaftliche Entscheidungsträger wie Unternehmen und Regierungen die Produktionsentscheidungen treffen. Eine Produktionstheorie sollte diese Entscheidungen erklären (können).

Und wenn in dem Lehrbuch die ‚Produktion‘ dann behandelt wird, „ähnelt die sie beschreibende Theorie normalerweise stark der Austauschtheorie (des Marktes). Der Unterschied besteht darin, dass sich in der Theorie nun nicht mehr ein Verbraucher zwischen Eiern und Butter entscheidet, sondern dass ein Unternehmen verschiedene Kombinationen aus Arbeit und Kapital wählt.“

Derzeit basiert die Produktionstheorie in der theoretischen Ökonomie hauptsächlich auf dem Konzept einer Produktionsfunktion. In der durch diese Funktionen repräsentierten Theorie gibt es keine Produktionsentscheidung. Die Entscheidung wird angenommen; die Produktion erfolgt stets im größtmöglichen Umfang; Ressourcen (einschließlich Arbeitskräfte) bleiben nicht ungenutzt. Sowohl auf der mikro- als auch auf der makroökonomischen Ebene ist die Produktionsfunktion eine Parabel der Zusammenarbeit zwischen Kapital und Arbeit bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen. (…) Produktionsfunktionen dienen somit der Rationalisierung und damit der Rechtfertigung von Marktprozessen und Marktverteilungen. (…).“

Tatsächlich können Wirtschaftssysteme als Erweiterung unseres Verständnisses von Lebensprozessen und den ihnen zugrunde liegenden physischen Realitäten verstanden werden. Eine zentrale Tatsache hierbei ist, dass alle Aktivitäten – physische, biologische und wirtschaftliche – den Zugang zu und die Nutzung von Ressourcen erfordern. Doch trotz der offensichtlichen Bedeutung physischer Ressourcen schenken ihnen die gängigen Gesellschaftstheorien, darunter auch Wirtschaftstheorien, oft wenig Aufmerksamkeit. Tatsächlich werden in unserem Standardmaß für Wirtschaftstätigkeit, der Volkseinkommensrechnung, die unserem Konzept des Bruttoinlandsprodukts zugrunde liegt, alle marktbasierten Aktivitäten in (Währungseinheiten bewertet) als gleichwertig behandelt. Und dieser Rechnung zufolge machen Branchen wie Bergbau, Energieerzeugung und Landwirtschaft nur einen kleinen Teil unserer wirtschaftlichen Aktivitäten aus – wertmäßig praktisch vernachlässigbar.“

Wenn wir die wesentliche Bedeutung (sagen wir) der Kohle (oder des Öls, des Gases oder der Wasserkraft) in unserem Leben anerkennen, können wir das harte Leben der lebenswichtigen Arbeiter, der Bergleute, Landwirte und anderer Menschen, die an vorderster Front arbeiten nicht länger ignorieren, die grundlegende Ressourcen und Lebensmittel in unsere Häuser bringen. Aber wenn wir die wesentliche Rolle, die sie spielen, anerkennen und ihre Arbeitsbedingungen und Bezahlung verbessern, werden sich viele von uns den Luxus des modernen Lebens nicht mehr so einfach leisten können, wie wir ihn jetzt noch genießen.“

Es ist vermutlich auch dem letzten Bürger drastisch klar geworden, dass wir z.B. in der Energieversorgung in den letzten Jahrzehnten gravierenden Fehleinschätzungen aufgesessen sind, die sich auch durch die von uns gewählte ökonomische Sichtweise eingestellt haben.

Eine biophysikalisch (orientierte) Werttheorie erklärt das sehr geringe Gewicht natürlicher Ressourcen nach unseren Maßstäben der Wirtschaftstätigkeit – sie sind allgegenwärtig und lebenswichtig, aber sie sind reichlich vorhanden und billig. Genauer gesagt, sie waren bisher reichlich vorhanden und günstig. (…) mehrere Jahrhunderte des Ressourcenreichtums könnten bald zu Ende gehen. Was dann? Die konventionelle Mainstream-Theorien sind nicht beunruhigend; Sie unterstellen, dass neue Ressourcen die alten ersetzen können, dass sich die Technologien anpassen werden und das Leben so weitergehen wird, wie es bisher war.“

Diese Auffassung ist aus einer globalen Perspektive eine fatale optimistische Illusion und wirkt ziemlich naiv.

(Die) „biophysikalische Theorie untergräbt diese optimistische Sichtweise. (…) Wenn die Kosten für „Ressourcen steigen oder die Ressourcenqualität abnimmt, kann eine (…) Produktionstechnologie unrentabel werden und die Produktion mit dieser Technologie wird zurückgehen oder eingestellt. In der Tat haben Fixkosten (dabei) einen(…)(erheblichen) Einfluss auf den Produktionsprozess. Je stärker die Produktion auf große vorherige Anlageinvestitionen angewiesen ist, desto geringer ist die Flexibilität und desto anfälliger sind Produktionsentscheidungen gegenüber den Kostensteigerungen bei Ressourcen.“

Galbraith kommt letztlich zu dem Ergebnis, dass wir zwischen zwei Ansätzen zu wählen haben: es gibt den Ansatz, der sozial bequem, aber irreal und sinnlos ist und es gibt den Ansatz zu versuchen, die Voraussetzungen neu zu überdenken und realistische, für uns manchmal auch harsche Schlussfolgerungen zu ziehen.
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1James K. Galbraith, An economic theory compatible wirh life processes and phsysical laws, RWE-R, No 106, 2023, p. 13-17. (Eigene Übersetzungen durch VF, ergänzende Einträge in Klammern sind vom Übersetzer)

2Galbraith, a.a.O., p. 14ff.

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