Nikolaus Piper hat in der Süddeutschen Zeitung vom 5./6.12.2015 unter dem Titel „Ich bin so frei“ seine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass er offensichtlich (öfter als ihm lieb ist) als neoliberal tituliert wird. Und das findet er ungerecht und führt in dem Zeitungsartikel aus, warum er eine seiner Meinung wirtschaftsliberale Haltung vertritt.
Leserbrief an die SZ:
Sehr geehrter Herr Piper,
ich nehme für mich in Anspruch, eine liberale Einstellung zu besitzen, gerade weil ich mit einigen Ihrer Feststellungen überhaupt nichts anfangen kann.
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Nehmen wir die liberale Sicht: hier scheint unsere Sozialisation aufgrund der vergleichbaren Altersgruppe ähnlich verlaufen zu sein, nur dass ich Ihnen mit Ihrer Sicht auf Friederich von Hajek nicht folgen kann. Zum politischen Liberalismus als liberale, offene, tolerante und demokratische Haltung ein uneingeschränktes ‚Ja‘, aber der ökonomische Liberalismus ist für mich nur unter dem notwendigen Primat der Politik denkbar, und ist m.E. immer nur als eine ständige Auseinandersetzung zwischen der Ansprüchen des ‚Einzelnen‘ und den Erfordernissen der ‚Gesellschaft‘ denkbar. Letztere bezeichnen Sie wohl als ‚Kollektiv‘, ein Begriff, der mir nicht über die Lippen geht.
Wir leben nicht einzeln, und wir können auch als Einzelne keine wirtschaftlich relevanten Aktivitäten entwickeln, also hat die Gesellschaft eine große Bedeutung für unsern Wohlstand und unser Wohlbefinden. Das Modell, das den ökonomisch Handelnden, den Einzelnen, in der Ökonomie beschreibt – der homo oeconomicus – ist ein schwerkranker Autist und sollte nicht dazu verwendet werden, ökonomisches Verhalten von Menschen als reale Wesen zu beschreiben. Mit diesem kranken Typen kann ich mir auch keine ‚Gesellschaft‘ vorstellen. Dazu braucht es ein Bild des Menschen, das komplexer und vielschichtiger gedacht werden kann.
Ihre Ansicht zur Überhöhung (man könnte auch sagen: Vergottung) der Marktfunktion kann ich nicht teilen. Klar ist, der Markt hat, an der richtigen Stelle eingesetzt, Vorteile, die man nutzen muss. Aber eine ‚marktkonforme Gesellschaft‘ ist das Ende jeder Demokratie und ich würde Freiheit immer mit Demokratie verbinden wollen und keinesfalls mit Markt. Der Markt ist nach Karl Polanyi (1944) ein blinder, tumber Mechanismus, den wir (be)nutzen und nicht mehr. Wenn er die Herrschaft übernimmt oder übertragen bekommt, hat die menschliche Gesellschaft die demokratische Gestaltung ihrer Lebensumstände aufgegeben. Ich glaube deshalb nicht, dass die Kritik am Neoliberalismus automatisch eine Ablehnung der liberalen Gesellschaftsordnung und ihrer Freiheiten darstellt, nur weil ich die Pervertierung des Liberalismus im Neoliberalismus ablehne.
Neoliberalismus baut, nach William Davis (LSE, 2014), seinen Gedanken von Gesellschaft auf Wettbewerb und gezielter Ungleichheit als bestimmende Prinzipien auf. Der mit dem Neoliberalismus einhergehende, ergänzende Versuch der allgemeinen Kommerzialisierung aller Lebensvorgänge führt in die Irre. Glauben Sie wirklich, dass sich 2.500 Jahre philosophisches Bemühen um den Aufbau einer Ethik für den Menschen einfach durch simplen Wettbewerb, haarsträubende Ungleichheit und flächendeckende Kommerzialisierung ersetzen lassen? Und das soll dann die Projektion des Wohlstands der Menschen bedeuten? Als Folge genießt dann 1 % ihre uneingeschränkte Freiheit auf Kosten von 99 %, die jene Freiheiten erwirtschaften dürfen. Diese Auffassung der Dinge ist keinesfalls ‚kollektivistisch‘, sie ist schlicht humanistisch. Diese Sicht schert auch nicht alle über den gleichen Kamm, weil niemand erwartet, dass Ungleichheit auszurotten ist, aber die Ungleichheit als eine gesellschaftsbildende Kraft hinzustellen, ist schon unverfroren – und widerspricht wesentlichen Erkenntnissen aus der Sozialwissenschaft.
Wettbewerb hat ohne Frage seine Vorteile. Von Hayek ist aber den Nachweis seiner Aussage schuldig geblieben, dass Wettbewerb das ‚effizienteste Mittel zur Motivation‘ sei. Die Aussage stimmt einfach nicht in ihrer Ausschließlichkeit. Wettbewerb wird heute eher als Herrschaftsinstrument denn als Motivator gebraucht, weil man erkannt hat, dass nicht unterdrückt, sondern das hohe Gut der Freiheit benutzt werden kann, um Menschen abhängig zu machen.
Im Gegensatz zum Wettbewerb leistet Kooperation viel höhere Beiträge. Haben Sie schon mal an (nichtöffentlichen) Gesprächen unter Unternehmern teilgenommen? Wenn die Damen und Herren ein wenig Vertrauen gefasst haben, geht es in den Gesprächen nicht darum, wie können wir den wechselseitigen Wettbewerb erhöhen, sondern es geht sehr schnell darum, wie können wir kooperieren, mit dem intendierten Ziel, den Markt und den Wettbewerb insoweit auszuschließen? Warum versuchen Unternehmen Märkte zu verlassen oder durch massive Einflussnahme über Lobbyismus zu verändern, wenn sich herausstellt, dass der tendenziell vollkommene Markt des Lehrbuchs die Renditeerwartungen nicht erfüllt?
Was machen Sie, wenn Sie feststellen müssen, dass die eigentlichen Protagonisten des Marktes das ihnen lehrbuchmäßig zugedachte Verhalten nicht an den Tag legen, sondern lieber in Märkten agieren, in denen primär ihre Macht und ihr Geld die Strukturen bestimmen und nicht Angebot und Nachfrage?
Ich lehne den Neoliberalismus ab, weil er die gegenwärtige Gesellschaft Stück für Stück durch deren Kommerzialisierung zerstört und schrittweise die Voraussetzungen für eine zu tiefst inhumane Gesellschaft schafft. Das kann nicht meine Vision sein.
MfG
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