Kapitalismus im Wandel

Die Bankenkrise in 2008/2009 kennzeichnet vermutlich den Wendepunkt des Neoliberalismus. Seit wenigen Jahren bestimmt die Klimakrise unser wirtschaftspolitisches Denken. Der Grund liegt dabei in der Erkenntnis, dass zumindest der Kapitalismus westlicher Prägung seine Anziehungskraft verliert, weil die laufend notwendigen Reparaturen an diesem System den vermittelten Erwartungen widersprechen. Dabei setzt den Beobachter in Erstaunen, dass die kapitalistische Ökonomie zwar die Defizite erkennt, aber keine Ideen oder Vorschläge entwickelt, wie die Defizite auszugleichen sind.

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Meine Erklärung für dieses Verhalten ist sehr einfach und direkt: Wenn das System des Kapitalismus im Wesentlichen auf glaubensähnlichen Dogmen beruht, so können wir von den Hohepriestern der kapitalistischen Ökonomie nicht erwarten, dass sie Alternativen bereitstellt. Es ist ähnlich wie mit der katholischen Kirche. Mit ihr können Sie auch nicht über eine alternative oder neue Bibel verhandeln. Das stellt ihr Selbstverständnis in Frage.

Damit kommen wir an eine Grundsatzfrage: Wenn eine Veränderung von innen heraus auf der Basis von Einsicht nicht möglich erscheint, so müssen wir einen Ansatz von außen versuchen. Der radikale Ansatz versucht Struktur und Prozesse in einem Schritt zu eliminieren. Man nennt so etwas vereinfacht Revolution und stürzt damit das gesamte System ins Chaos. Es gibt in der mehr als 200-jährigen Geschichte unseres Wirtschaftssystems Beispiele, die m.E. ausnahmslos schief gegangen sind. Wenn man glaubt, dass man weiß wie ein neues System auszusehen hat und man nimmt den Weg über die „tabula rasa“, landen wir immer in der Restauration, also in einer Neuauflage des alten System, weil die Unsicherheit für die vielen Beteiligten so groß wird, dass man sich „sicherheitshalber“ schnell wieder der alten Regeln erinnert und restauriert. Das kann nicht der Königsweg sein.

Der alternative Weg ist der Weg durch die Institutionen. Wir gehen von der Prämisse aus, dass wir Struktur und Prozess zu unterscheiden wissen. Wir lassen gedanklich die Infrastruktur bestehen und wenden uns einer schrittweisen Änderung der Prozesse zu. Die Erhaltung der bestehenden Infrastruktur vermittelt die notwendige Sicherheit und Beständigkeit. Die inkremental veränderten Prozesse geben uns die Möglichkeit, Erfahrung zu sammeln und ggfs. Fehler zu korrigieren. Das ist die ganz normale Strategie, die zur Anwendung kommt, wenn Organisationen erkennen, dass ihr bisheriger Weg zwar erfolgreich war, aber die Fortführung des Weges aufgrund von Änderungen der jeweiligen Umwelt nicht mehr tragbar, nicht finanzierbar oder schlicht obsolet zu werden droht.

Wenn wir uns über das „Wie ändern?“ möglicherweise einig sind, kommt die Frage nach dem „Was ändern?“. Dabei gibt es auch hier mindestens zwei Alternativen: Eine Reihe von ernst zu nehmenden Autoren (soweit ich sie kenne) konzentriert ihre Kritik auf die Wirtschaftstheorie. Die vorgeschlagenen Änderungen greifen die Modelle an, die der Theorie zugrunde liegen. Diese Aufgabe halte ich für wichtig, aber nicht unbedingt für zielführend.

Die Wirtschaft lebt nicht von der Theorie, sondern vom „Handeln“ und wenn es der Theorie gelingt, das Handeln nachträglich in eine Theorie zu kleiden, umso besser. Die Alternative ist die Beschreibung von festgestellten Defiziten des praktizierten Kapitalismus verbunden mit möglichst konkreten Vorschlägen zu deren Beseitigung.

Dabei möchte ich mich auf Ausführungen von Roger de Weck aus dem Jahr 2009[1] beziehen. Er versucht, die seinerzeitige Krise des Kapitalismus zu erklären und fügt jedem seiner Kapitel ein Fazit bei, indem er die aus seiner Sicht wichtigen und notwendigen Änderungen zusammenfasst. Wichtig ist mir der Hinweis, dass de Weck nicht die Infrastruktur grundsätzlich in Frage stellt, sondern dass er neue Wege vorschlägt, die im Rahmen der Struktur umsetzbar sind. In anderen Fällen richtet er seine Aufmerksamkeit darauf, die bestehenden Prozesse in Frage zu stellen, zu verbessern oder ggfs. künftig zu unterbinden. De Weck hat nicht den Anspruch, die Welt neu zu erfinden, sondern macht Vorschläge, die Welt nur insoweit zu ändern, dass sich neue interessante Wege eröffnen und offensichtliche Fehlentwicklungen künftig entfallen:

Im Folgenden sind seine Gesichtspunkte wiedergegeben, wobei jedes Kapitel seines Buches mit einem „Fazit“ endet:

„Fazit 1

Ein ausgewogener Kapitalismus braucht

  • Mechanismen der Mäßigung von Gier;
  • ein besseres Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital und namentlich den Abbau steuerlicher Privilegien für das Kapital;
  • Schranken für den Steuerwettbewerb, der mittelfristig die Staaten auszehrt;
  • eine Abkehr vom Defizitdenken in den Vereinigten Staaten und – weil per Definition die Defizite die Überschüsse der anderen ausmachen – ein Ende der trügerischen Sucht nach Überschüssen in Asien und Europa.

Fazit 2

Im real existierenden Kapitalismus

  • bleibt der Staat so wichtig wie der Markt;
  • ist die gemischte Wirtschaft bewusst zu gestalten;
  • ist der Markt als Macht zu begreifen;
  • ist Gegenmacht aufzubauen, damit sich auch die nicht-ökonomischen Werte behaupten.

Fazit 3

Ein demokratischer Kapitalismus

  • beachtet den Vorrang der Demokratie vor der Ökonomie und bricht die Übermacht der Finanzwelt;
  • sorgt für viel Unabhängigkeit der Politik von Wirtschaftsinteressen;
  • achtet den Staat und seine Institutionen;
  • hat zugunsten vernünftiger und wirtschaftsfreundlicher Rahmenbedingungen ein hohes Interesse an einer kompetenten, leistungsfähigen Verwaltung.

Fazit 4

Ein stabiler Kapitalismus

  • verbietet die Spekulation, wo sie viel Schaden stiftet;
  • erdet die Geldhäuser, indem er ihnen viel Eigenkapital abverlangt und sie mithaften lässt, wenn sie Risiken auf ihre Kunden abwälzen;
  • bestraft massiv Gehalts und Bonusexzesse;
  • schafft Anreize für nachhaltige Firmenstrategien, namentlich durch Steuerrabatte auf Gewinne, die wieder ins Unternehmen fließen, und durch Vorgaben für langfristig ausgerichtete Bonus-Systeme.

Fazit 5

Ein nachhaltiger Kapitalismus

  • lenkt den Eigennutz auf soziale und ökologische Ziele statt allein auf das Gewinnziel;
  • will kein Wachstum um jeden Preis;
  • gründet darauf, dass Eigentum verpflichtet;
  • demokratisiert beharrlich Wirtschaft und Volkswirtschaft.

Fazit 6

Ein liberaler Kapitalismus

  • vermeidet es, in den Markt zu intervenieren, scheut sich aber nicht, ihn zu regulieren;
  • erklärt Unternehmen, deren Konkurs die Volkswirtschaft zerrütten würde, für „systemrelevant“ und erhebt Gebühren für die gewährte Staatsgarantie;
  • schreckt Aktionäre notleidender Firmen davon ab, Staatshilfe zu beanspruchen, indem er sie bei Rettungsaktionen automatisch enteignet;
  • setzt Anreize, um zur Eigenverantwortung und längerfristigen Ausrichtung aller Wirtschaftsakteure beizutragen.

Fazit 7

Im globalen Kapitalismus

  • wird Kooperation so wichtig wie Konkurrenz;
  • hängen Frieden und eine stabile Weltwirtschaftsordnung von der politischen Weitsicht und ethischen Einsicht in die Notwendigkeit  eines Ausgleichs der Interessen zwischen Nord und Süd ab;
  • muss die Staatengemeinschaft lebensnotwendige Ressourcen mit einem Preis versehen;
  • sind eine Weltwirtschafts- und Weltwährungspolitik unerlässlich.“

Aus meiner Sicht stellt sich zu den Ausführungen die Frage: Kann man die vielen sinnvollen und m.E. auch richtigen Gesichtspunkte auf wenige, dominierende „Kenngrößen“ zurückführen? Eine Umsetzung von 28 durchaus sinnvollen Ansatzpunkten fordert u.U. 28 mal Widerspruch heraus. Wenn wir jede der Forderungen linear aufreihen und uns an die Abarbeitung machen würden, könnte es sein, dass wir mehrfach Impulse setzen, die immer wieder an den gleichen Punkten scheitern, weil wir die interne Vernetzung der Gesichtspunkte nicht ausreichend beachtet haben. Die Umsetzung ist dann erfolgversprechend, wenn es gelingt, die oft im Hintergrund stehenden, übergeordneten funktionalen Ordnungsprinzipien zu identifizieren und sie dann auf ihrer Wirkungsebene zu neutralisieren, zu stärken oder durch neue zu ersetzen. Die Idee, die dahinter steht, geht davon aus, dass Maßnahmen, die an den nachgeordneten Folgen herumzudoktern, sinnlos sind, ohne die dahinter liegenden Ursachen zu verändern.

Eines dieser Ordnungsprinzipien scheint m. E. die hochgradige Fokussierung und Reduzierung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Denkens auf eine Rendite in Geld zu sein. Dahinter steht die Erwartung, dass jede Handlung, die wir vornehmen, Nutzen hervorrufen kann. Dabei könnte der ‚Nutzen‘ ja in vielerlei Hinsicht (und damit nicht nur in Geld) interpretiert werden. Unsere Fokussierung auf den monetären Aspekt führt zu einer unnötigen Verengung der Perspektive, die unserem allgemein verbreiteten ‚linearen‘ Denken aber sehr entgegenkommt. Dadurch wird der Glaube unterstützt, dass Effizienz und Effektivität abschließend messbar seien. Das gilt aber nur unter der Prämisse eines extrem kurzen Zeithorizontes. Wieviel kurzfristige Effizienz- und Effektivitätserfolge erweisen sich auf längere Sicht als komplette Fehleinschätzung, weil wir uns gewöhnlich für die längerfristige Perspektive unseres Handelns nicht verantwortlich fühlen. Der Grund liegt vielfach darin, dass die Entscheidungssituationen bei einer größeren Variabilität der Prämissen eine deutlich höhere Lösungskomplexität verlangen als unsere gängigen ökonomischen Entscheidungsmodelle bereitstellen.

Was könnte das konkret bedeuten?

  • Das Entscheidungskriterium der ‚Rendite‘ als rein quantitatives Maß muss auf eine breitere (komplexere) Basis gestellt und insbesondere auch dem Aspekt der Qualität als Kriterium ein Platz eingeräumt werden.
  • Für den Rahmen der Fristigkeiten muss eine Erweiterung der Produktverantwortlichkeit der Handenden diskutiert werden (Stichworte: Nachhaltigkeit, längerfristige Konsequenzen, wie z.B. Reparaturfähigkeit, Ersatzteilverfügbarkeit).
  • Die in der Verfassung enthaltene Sozialbindung des Eigentums muss eine erweiterte Wirksamkeit und justitiable Konkretisierung erhalten.
  • Die Linearität unserer Denkgewohnheiten, die immer nur eine Ursache auf die linear nächstliegende Wirkung bezieht, muss einer komplexeren Betrachtung der vernetzten Zusammenhänge weichen. Es geht nicht schlicht um das Messbare, es geht auch oft um Qualitäten, die sich einer Messbarkeit entziehen, aber heftige Wirkungen darstellen.

Das gängige Entscheidungskriterium der ‚Rendite‘ repräsentiert ausschließlich die Sichtweise des Investors und nicht die der Nutzer und ggfs. der Öffentlichkeit. Die Lösung könnte statt der schlichten Renditebetrachtung eine Konzeptualisierung des investiven Vorhabens sein. Statt Geld als alleiniges Kriterium zu verwenden, sollte ein „Konzept“ entstehen, das vielfältige Gesichtspunkte aufgreift und zu einer entscheidungsfähigen Einheit verbindet. Das erfolgt vielfach heute schon, nur leider intern und hinter verschlossenen Türen. Die Rentierlichkeit trägt man letztlich als veröffentlichte Projektbegründung des Investors vor. Die restlichen Überlegungen und Konsequenzen werden als unbeachtlich übergangen und „poppen“ zur Unzeit wieder hoch.

Wir greifen mit diesem Argument auch in die bisher praktizierte Unbedingtheit des Eigentums ein, obwohl wir uns schon vor langer Zeit eine Verfassung gegeben haben, in der eindeutig eine Sozialbindung des Eigentums vorgesehen ist (Art. 14, II GG).

Wir müssen zusätzlich feststellen, dass unsere individuellen Ansprüche auf Fläche und Raum zunehmen. Die Spielräume werden folglich kleiner für eine freie Entfaltung ohne Einschränkungen des Spielraums unseres Nächsten. Die Sozialbindung fand bisher nur als Feigenblatt in den politischen Reden Anwendung. Künftig wird diesem Gedanken wohl mehr konkretes Gewicht verliehen werden müssen. Auch wird der Sozialbindungsgedanke die Anwendung des ausschließlichen Rendite-Gedankens als singuläre Entscheidungsbasis zusätzlich einschränken .

Je eher wir erkennen, dass Ressourcen endlich sind, desto mehr werden wir wieder die ‚Qualität‘ zu schätzen wissen, die wir den Dingen jenseits des Geldes zumessen müssen, weil sie nicht mehr beliebig verfügbar sind. Es handelt sich um eine Frage der kollektiven Einstellung. Was Qualität ist und wie wir damit umgehen, müssen aber wir bestimmen.


[1] De Weck, Roger: Nach der Krise – Gibt es einen anderen Kapitalismus?, München 2009.

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