Das Fach ‚Economics‘ ist ganz stolz auf seine Entscheidungstheorie. Sie baut auf dem Konstrukt des homo oeconomicus auf und unterstellt, dass im Falle einer Entscheidungssituation alle Entscheidungsalternativen vorhanden sind, diese unabhängigen Ereignisse (die sich also wechselseitig ausschließen) bewertbar sind und das Ziel (maximal, optimal, effizient) bekannt ist.
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Dann kommt der Ökonom und stellt ein Modell auf, wie die Entscheidung zwischen den Alternativen rational zu bewerkstelligen ist. Ist das ein realistischer Ansatz, wenn man bedenkt, dass das zu lösende Problem nicht in der Auswahl der „richtigen“ Alternative liegt, sondern in der Aufbereitung der in Frage stehenden Alternativen?
Wenn ein Problem auftaucht, das diesen Namen zurecht trägt, sind erst mal alle Beteiligten ‚ratlos‘. Dann werden die ersten Vorschläge für Lösungsansätze entwickelt: Ist das Problem schon einmal aufgetreten, ist das Problem ggfs. ausreichend und angemessen definiert? Gilt es als wohl- oder schlecht definiert. Für ein wohldefiniertes Problem existieren i.d.R. schon bekannte Lösungsansätze. Bei einem schlecht definierten Problem kann man nicht davon ausgehen, dass das Problem schon von anderen gelöst wurde. Dann gilt die Devise: Löse das Problem!
Was heißt das? Für das Problem muss erst Mal eine tragfähige Definition gefunden werden, die mit dem Auftraggeber oder Initiator so abzustimmen ist, dass man eine gemeinsame Basis hat. Das Ziel der Problemlösung ist es nicht, eine maximale, eine optimale oder effiziente Lösung zu finden: es geht darum, überhaupt eine Lösung zu finden, die dem vereinbarten Definitionsrahmen entspricht. Das Ziel ist nicht Optimierung oder gar Maximierung, das Ziel ist schlicht eine Lösung zu finden.
Gehen wir nochmals zurück zur Ökonomie: Deren Vorstellungen kennen m.E. keine schlechtdefinierten Probleme! Es wird nur ein Auswahlprozess unter mehr oder weniger fertigen Alternativen beschrieben und bewertet. Bei einem schlecht definierten Problem gibt es möglicherweise nur eine Lösung, weil eine weitere Lösungssuche nicht aussichtsreich erscheinen oder zu kostspielig sind. Und das ist bei dieser Art der Problemstellung oft der Fall. Dann ist aber das Entscheidungsmodell der Ökonomie in diesem Zusammenhang überflüssig.
Erschwerend kommt hinzu, dass diese Kategorie von Problemen natürlich auch nicht rational im Sinne der Ökonomie gelöst werden können, weil die Beteiligten gar nicht wissen, ob sie alle denkbaren Möglichkeiten durchgespielt haben. Ebenso sind Erwartungen von Effizienz und Optimalität unsinnig. Man ist ggfs. froh, eine (vorerst) tragfähige Lösung gefunden zu haben, auf die sich weitere Schritte gründen können.
Mit der Suche nach Kriterien für eine Transformation einer ganzen Gesellschaft mit einer extrem schlecht definierten Problemstellung wird deutlich, warum die Mainstream-Ökonomie so wenig zu diesem Prozess beizutragen hat, da eine dogmatische Mainstream-Ökonomie nicht in Alternativen zu denken gewohnt ist. Eine Ideologie kann sich nicht selbst in Frage stellen und das wäre bei dieser Aufgabenstellung aber unumgänglich. Deshalb gibt es für die Transformation in der Mainstream-Ökonomie auch keine sinnvollen Kriterien. Das wirkt alles eher hilflos.
Modelle, die lineare Bezüge unterstellen (also Rückkopplungen oder Rebound-Effekte als irrelevant betrachten), Kollateralschäden externalisieren, sind zu schlicht gebaut, um einem Transformationsgeschehen gerecht zu werden. Die Prozesse, die bei einer Transformation ablaufen, sind so gestaltet, dass sich nicht nur die Mittel, sondern u.U. auch die Ziele durch bessere Erkenntnis verändern. Man weiß, wo man beginnt. Man hat ein grob definiertes Ziel, aber ob man am Ende dorthin gelangt, bleibt lange offen.
Aus diesen Gründen wird der ganze Prozess als „inkremental“ beschrieben (Charles Lindblom, 1959): Das ist der Akzeptanz des Risikos geschuldet. Man geht „kleine“ Schritte in eine definierte Richtung, überwacht die erwarteten Ergebnisse und achtet insbesondere auf die überraschenden Nebeneffekte, die man nicht einkalkuliert hatte. Die Vorgehensweise erscheint dem Außenstehenden langweilig und mühselig, sie gibt aber den Beteiligten ein gewisses Maß an Sicherheit, denn jeder Schritt und jede damit verbundene Erkenntnis kann die Struktur des Problems in ein neues, ggfs. anderes Licht tauchen.
Der Inkrementalismus ist eine Beschreibung der Vorgehensweise auf dem Feld sozialer oder politischer Prozesse. Viele Menschen stören sich an der „Stopserlei“. Dem Ansatz fehlt die große Geste des Visionärs. Lindbloms Untersuchungen haben gezeigt, dass die große Geste sicherlich ein attraktives Element des Prozesses darstellen kann, aber ihr Einfluss auf den Prozesserfolg ist minimal. Der Wunsch nach dem großen Wurf ist durchaus verständlich, verpufft aber erfahrungsgemäß rasch und was dann im positiven Falle übrig bleibt, ist empirisch gesehen Inkrementalismus – „die Strategie der kleinen Schritte“.
Der englische Premier Johnson macht uns das gegenwärtig vor. Brexit war sein großer Wurf, jetzt muss das Militär die Brocken zusammenlesen und am Ende werden wir feststellen, die Lösung der zahllosen Probleme erfolgte, wenn überhaupt, inkremental – nur hatte man die Kollateralschäden nicht unter Kontrolle wegen der dicken Hose von Herrn Johnson.
Wir wissen wenig über die evolutionären Schritte der Natur, aber es ist durchaus sinnvoll, sich vorzustellen, dass der Inkrementalismus, den Lindblom als ein Phänomen beschreibt, eine „Erfindung“ der Natur ist. Das Fatale dabei ist, dass die Natur zeitlos agiert und wir in unserer Klimakrise mit einem Zeitfenster von etwa einer Dekade kämpfen. Man kann dieses Zeitfenster angesichts der Aufgabe nicht gerade als besonders komfortabel bezeichnen.
Interessant ist dabei auch die Frage, welche Art von Wert bestimmt unser heutiges Weltbild und welche Art von Weltbild könnte denn eine erfolgversprechende Lösung sein? Ökonomen gehen ganz automatisch davon aus, dass der von ihnen favorisierte Tauschwert immer Grundlage für eine sinnvolle Lösung sei. Wer sich die Frage nach der Wertkategorie im Zusammenhang mit der Frage nach einem gültigen Lösungsansatz ehrlich stellt, wird feststellen, dass es durch den Wegfall ewigen Wachstums, dem damit verbundenen Wegfall der Gedankenwelt der Maximierung und Optimierung deutlich mehr Alternativen gibt und geben muss als es uns die überkommenen ökonomischen Kategorien erwarten lassen.
Die Beurteilung eines Sachverhalts aus der Perspektive des Nutzens bzw. seines Korrelats, des Geldes, führt regelmäßig in eine fatale Einseitigkeit der Betrachtung. Mit Geld wird gern und pauschal unterstellt, dass alle Individuen chrematistisch (auf der Suche nach Reichtum, vgl. Aristoteles) unterwegs sind, dabei gibt es aufgrund sozialwissenschaftlicher Studien einen großen Anteil der Menschen, die bisher keine genuine „Krämerseele“ entwickelt haben, sich aber der chrematistischen Haltung aus Unwissenheit oder Gewohnheit unterwerfen. Sie wundern sich nur, dass sie so selten zu den Siegern zählen. Mit anderen Worten: Die Vorstellung der Ökonomie, dass der Nutzen bzw. sein Pendant, das Geld, der alleinige Maßstab des Handelns sind, ist zumindest für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung nicht richtig.
Die Ökonomie umgeht diese Fragestellung, indem sie sich nicht mit Menschen oder Individuen befasst, sondern von Unternehmern, Kunden, Konsumenten und Arbeitnehmern. Viele Menschen treffen ihre Beurteilungen nicht auf Grundlage der ökonomischen Nutzenmaximierung, noch teilen sie den Wettbewerbsgedanken oder die allgegenwärtig zum Ausdruck gebrachte und gepflegte Gier. Politisch gesehen wird dabei ein nicht unbedeutender Teil der Wählerschaft einfach übersehen bzw. kommt mit ihren Anliegen im politischen Spektrum bisher überhaupt nicht vor. Als Beispiel könnte man den Pflegebereich ansprechen.
Wenn man aber akzeptieren würde, dass der bewusst chrematistisch orientierte Bevölkerungsanteil viel kleiner ist als uns die Wirtschaftsvertreter glauben machen wollen, so könnte man davon ausgehen, dass im Rahmen eines neuen, geänderten Narrativs die nicht chrematistisch orientierten Bevölkerungsteile ganz anderen Alternativen offen gegenüber stehen, als das heute erkennbar ist. Zumal die ‚Oikonomie‘ mit ihren fünf Grundsätzen (vgl. A. W. Stahel: Oikonomics: towards a new paradigm in economics, aus: RWER No. 96, pp 234, oder auch Karl Polanyi, The Great Transformation, 1944) der Selbstgenügsamkeit oder dem Unabhängigkeitsstreben (self-sufficency), der Reziprozität, der Redistribution, des Handels mit dem Ziel einer Versorgung (commerce) und der Vermeidung von Plünderung (plunder) seit über 2.500 Jahren unser Zusammenleben geregelt haben, ohne dass dabei eine globale Klimakrise auftrat. Das haben wir erst in den letzten 200 Jahren durch eine komplette Übertreibung der chrematistischen Lebensauffassung geschafft.
Das erstaunliche ist, dass die fünf genannten Grundsätze unter der marktschreierischen Oberfläche unverändert gelten, aber eben nicht dominant genug sind, um den Verlauf von wirtschaftlichem Handeln heute nachhaltig zu beeinflussen. Ökonomie versteht sich vielfach als wertfrei. Aber die fünf Grundsätze sind ohne Frage moralisch gegründete Verhaltensweisen, die ein komplexeres Phänomen abbilden statt sich als Handlungsmaxime ausschließlich auf Nutzen und Geld als Nutzenäquivalent zu beziehen. Der Nachteil ist, dass dann die „schön formulierten“ mathematischen Modelle ziemlich hilflos daherkommen.
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