Ende Juli 2021 veröffentlichte die Vereinigung von Wissenschaftsvertreter einer „Real World Economics“ ihren Review Nr. 96 im Internet mit Beiträgen zum Thema „Post-Neoliberalismus“ (rd. 250 Seiten) und will damit zum Ausdruck bringen, dass der Neoliberalismus zumindest in ihren Kreisen mehrheitlich wohl ausgedient hat. Real World Economics war m.E. nie Mainstream. Wir werden jedoch noch eine ganze Weile mit den Ideen des Neoliberalismus leben müssen bis die Vertreter dieser Auffassung der biologischen „Extinction“ zu Opfer gefallen sein werden.
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Jamie Morgan (Universität Leeds, UK) hat den Einführungsaufsatz für den Review geschrieben und führt u.a. aus (eigene Übersetzung): „Was haben wir mit den erstaunlichen Fortschritten in Wissenschaft und Technologie und mit der Zeit von vierzig Jahren gemacht? Wir haben gelernt, mehr und schneller in Wegwerfkulturen zu konsumieren, um Arbeit zu fordern, um die Wirtschaft am Laufen zu halten und in denen Wachstum zum expliziten Ziel geworden ist, als wäre dies das notwendige Korrelat von „Fortschritt“. Die Kollateralschäden dieser beobachtbaren Mechanismen und Trends waren Schuldenabhängigkeit, ein unter Druck stehendes Arbeitsleben, das zunehmend die psychische und physische Gesundheit beeinträchtigt, und beobachtbare Verteilungsfolgen.“
Nach einer ausführlichen Diskussion der Folgen des Neoliberalismus für die Gesellschaft stellt er u.a. vier Punkte für einen Post-Neoliberalismus vor (S. 17f., eigene Übersetzung):
- Ökonomie ist das Studium der sozialen Vorsorge (…). Eine Ökonomie ist in eine Ökologie eingebettet und es gibt materielle Grenzen der Entwicklung, die nicht ignoriert werden können(… ). Ökonomie ist eine ethische Wissenschaft. Die Wirtschaft ist integraler Bestandteil politischer Prozesse (…). (Sie) ist immer auch politische Ökonomie.
- Die Ökonomie ist (…) pluralistisch. Pluralismus ist letztlich eine Verpflichtung, die auf dem anerkannten Wert konstruktiver Auseinandersetzung (…) beruht. (…) Sie wurzelt in der Komplexität, Kontingenz und Formbarkeit der sozialen Realität.
- Die soziale Realität ist ein integriertes Ganzes (…). Ihre Erkenntnisse sollten dann mit denen anderer Sozialwissenschaften übereinstimmen, (…).
- Die Ökonomie (…) stellt Realismus und Relevanz vor Präzision. Sie anerkennt, dass es viele Methoden gibt, die Einblicke in ein wirtschaftliches Problem geben können. (…) Dabei anerkennt sie, dass die Fähigkeit, Theorien zu konstruieren sowie Methoden zu bewerten und anzuwenden, ein kritisches Bewusstsein erfordert.
Diese stark gekürzten Ausführungen sind positiv und sehr konstruktiv formuliert und vielleicht zu kurz gefasst, um einem allgemeinen Leser die weitreichenden Konsequenzen verständlich zu machen. Im Grunde fasst diese Aufstellung die Defizite der Mainstream-Ökonomie zusammen. Sie können jeden Satz ins Negative drehen und schon sind sie beim realen Zustand der Ökonomie. Die Entwicklung lässt aber hoffen. (vgl. www.real-world-economics.com )
Mein Eindruck ist, dass auch der Klimawandel und auch die Folgen der Pandemie zu dieser veränderten Sichtweise beigetragen haben. Die Mainstream-Ökonomie war und ist nicht in der Lage, angesichts des Klimawandels sinnvolle und umfassende Lösungen vorzuschlagen. Die Idee einer großen Transformation überfordert die Methodik und das Selbstverständnis der Disziplin. Sie verheddert sich in ihrem eigenen Gedankengebäude und kann begrifflich nicht zum Kern des Problems vorstoßen, weil der Zugang ideologisch verbaut wurde.
2020 hat Maja Göpel ihre Leserschaft aufgefordert, die „Welt neu zu denken“. Ohne Frage ist es ein gelungenes populärwissenschaftliches Buch. Auf ihrer Website fand ich dann ihre Veröffentlichung „The Great Mindshift“ (2016), die als Epub oder PDF unter Open Access kostenfrei zum Herunterladen und Lesen zur Verfügung gestellt wird. Die Ausführungen haben leider einen Nachteil: Es gibt das Buch m.W. nur in englischer Sprache. Deshalb bin ich längere Zeit darum herumgeschlichen und habe mich erst entschlossen, mich der Sache anzunehmen, nach dem ich mich mit dem „Real World Economics Review“ wieder ins Englische habe einführen lassen.
Maja Göpel versteht sich als Verfechterin einer großen Transformation, die notwendig ist, um auf die Herausforderungen des Klimawandels i.w.S. eine Antwort zu finden. Ihr Ansatzpunkt sind nicht irgendwelche Modelle, die sie detailliert kritisiert. Sie geht aufs Ganze. Sie fordert einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel (Mindshift) und macht sich auf, diese Notwendigkeit daran festzumachen, dass sie die elementaren Grundlagen, das Paradigma der Mainstream-Ökonomie, radikal in Frage stellt. Sie ist der Meinung, dass sich die Ökonomie in eine entfernte Ecke der Sozialwissenschaften so verrannt hat, dass sie da ohne grundsätzliche Veränderung ihrer Methodik nicht mehr heraus kommt.
Der Ansatz von Göpel spricht von eingebetteten Systemen (embedded systems) und meint dabei, dass die Führungsrolle, die die Mainstream-Ökonomie beansprucht, zu Unrecht besteht. Göpels Ansatz unterscheidet mindestens drei Systeme: das soziale, das ökologische und das ökonomische System, die gleichberechtigt nebeneinander stehen („embedded“). Die Realisierung von Veränderungen dürfen in allen drei Systemen keine dysfunktionalen Effekte auslösen. Als Folge dieser Sichtweise wird die Ökonomie ihre heute bestimmende Machtstellung verlieren.
Gegenwärtig haben wir eine Ökonomie, die in vielen Fällen die Politik dominiert, weil sich ökonomische Denkkategorien in unser tägliches Leben oft unbemerkt eingeschlichen haben. Wir leben gegenwärtig unter einem ‚Regime‘, dass etwa folgende Abstufungen toleriert: Wirtschaft als erste Priorität, dann die Politik und als Additiv können auch ökologische Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Die Wirtschaft entscheidet, was gemacht wird, die Politik sekundiert in aller Regel diensteifrig und die Ökologie wird in dem globalen Spiel als weitgehend störend empfunden. Ökologisch notwendige Maßnahmen werden gemäß des herrschenden Paradigmas nach ökonomischen Kriterien einer kurzfristigen Nutzen-Kosten-Analyse beurteilt und haben keine Chancen, diese Sichtweise zu durchbrechen, weil die ökonomischen Kriterien für sich in Anspruch nehmen, die einzig richtige Rationalität zu verkörpern.
Das Problem ist nur, dass genau diese Kriterien uns absehbar vor die Wand fahren, weil durch diese Sichtweise das Problem Klimakrise als Reaktion auf die Ausblendung externalisierter Faktoren entstanden ist. Um diese Faktoren wieder Teil der Entscheidungen und des Handelns zu machen, braucht es einen Paradigmenwechsel. Ökonomie muss über ihren Schatten springen und die Externalitäten nicht ausblenden, sondern zum Gegenstand ihrer Modelle (ihres Denkens) machen. Das bedeutet, dass die Ökonomie in manchen Fragen fünfzig oder hundert Jahre in ihrer Methodengeschichte zurückgehen müsste, um die Leitgedanken neu zu entwickeln.
Weil diese Externalitäten in unserer gegenwärtigen Ökonomie modelltechnisch keine Rolle spielen können, hat unsere Wirtschaftsweise dazu geführt, dass wir uns u.a. mit einer Klimakrise befassen und uns von kompetenter Seite vorrechnen lassen müssen, dass zur Fortführung unseres Lebens- und Wirtschaftsstils statt des einen Planeten umgerechnet und je nach Argumentation zwei oder drei Planeten von Nöten wären. M.a.W., die Wirtschaft hat ihren Führungsanspruch leichtfertig verspielt, weil sie keine Lösung bereitstellen kann, wie diese Mangel überbrückt werden könnte.
Was heißt das? Gegenwärtig hat uns unser Wirtschaftsverständnis in eine Lage manövriert, dass wir mehr vom Planeten verbrauchen, als uns zusteht oder wir gegenüber künftigen Generationen rechtfertigen können. Gesucht wird also ein zukunftsfähiger, ökologisch sicherer „Betriebsrahmen“, in dem sich Wirtschaft abspielen kann. Damit wird klar, dass sich die Entscheidungskaskade grundlegend ändern muss: die politischen Governance (Führung) hat einen ökologisch sicheren „Betriebsrahmen“ zu schaffen, den sie der Wirtschaft zur Verfügung stellen kann. Der Rahmen wird nur in ganz engen Grenzen verhandelbar sein. Ob unser politisches Personal gegenwärtig diesen Governance-Anforderungen intellektuell gewachsen ist, muss hier offen bleiben.
Die Mainstream-Ökonomie hat keine realistischen Vorstellungen, wie das anstehende Problem „Klimakrise“ gelöst werden soll. Man kann auch davon sprechen, dass die Denkweise (das Paradigma) aufgrund dessen wir uns in das Problem hineingeritten haben, kaum dafür taugt, kreative Lösungen zu bieten. Seit Jahrzehnten redet man von Entkopplung der Wirtschaft von den Grenzen, die die realen Ressourcen uns setzen. Diese Entkopplung ist physikalisch-energetisch einfach nicht darstellbar.
Die Mainstream-Ökonomie glaubt nun, durch die Schaffung von unterschiedlichen Formen von Kapital die Nachhaltigkeit erfassen zu können. Ganz entscheidend steht aber m.E. die Monetarisierung der realen Welt einer Lösung im Wege. Alle realen Dinge werden durch die Monetarisierung nicht mehr direkt angesprochen, sondern bekommen ein Preisschild, weil man glaubt, über den Preis die Dinge des Lebens vereinheitlichen zu können. Man verliert dadurch ein Stück weit den Bezug zur Realität: ein Euro bleibt ein Euro, aber die dahinterstehende Qualität geht dabei verloren: Ein Euro Brot ist nicht das gleiche wie ein Euro Strumpf. Die Reduktion von Realität ist bei der Monetarisierung gewaltig; als Folge wird die Bedeutung der Realität schlicht unterschätzt und verschwindet aus dem Blick der Handelnden.
Wie kommt die Monetarisierung in die Ökonomie? Die folgenden Argumente sind nicht neu, sie folgen in den wesentlichen Teilen sinngemäß den Ausführungen von Maja Göpel.
Die Mainstream-Ökonomie macht von dem Begriff „Bedürfnisse“ nicht oft Gebrauch, sondern hat stattdessen den Begriff „Nutzen“ übernommen. Da es keinen (greifbaren) „Utility“ (Nutzen) gibt, wurde die abstrakte Nutzenformel in Geld umgesetzt: „Die Kaufentscheidungen der Menschen geben an, was sie wollen und der Preis bzw. die Zahlungsbereitschaft gibt an, wie hoch der Nutzen auf ihrer Präferenzliste steht.“
Im Mainstream-Paradigma sind Handel und Tauschhandel die Essenz aller Beziehungen. Menschliche Existenz bedeutet folglich, die eigene Bilanz ständig zu verbessern. Damit dieses Modell funktioniert, wird davon ausgegangen, dass die Akteure diese Verbesserung rational vornehmen, obwohl dieses Paradigma nur eine sehr enge, im Grund unrealistische Definition von Rationalität zugrunde liegt: Es wird so verstanden, dass der Entscheider alle möglichen Strategien kennt, die in einer bestimmten Situation verfügbar sind, und er die Ergebnisse jeder dieser Maßnahmen kennt – einschließlich des Verhaltens anderer – und er die Rangfolge aller möglichen Ergebnisse gemäß den Präferenzen, gemessen am Nutzen (Geld), bestimmen kann. Ein Ding der Unmöglichkeit, aber Grundlage von vielen Entscheidungsmodellen.
Nach all den Mainstream-Modellen ist mehr Produktion immer die bessere Alternative und der bezahlte Preis soll den Nutzen anzeigen, der durch den Konsum dieser Produktion gewonnen wird. Die politischen Schlussfolgerungen sind einfach: Um den (in der Vorstellung der Mainstream-Ökonomie) unbegrenzten Bedürfnissen heutiger und künftiger Generationen gerecht zu werden, bedeutet es, die Produktivität ständig zu steigern. Dies war das Hauptziel der Politik und des Geschäftsgebarens. Diesem Verhalten werden jetzt ökologische Grenzen gesetzt. Die Irritation ist dabei riesig. Was dabei mit den (wirklichen) menschlichen Bedürfnissen geschieht, ist nicht Teil der Modelle, sie gelten aber der Einfachheit als grundsätzlich unbegrenzt. Letztere Annahme stimmt nicht:
In einem Interview erklärte Manfred Max-Neef, dass eine Rückkehr zur Erfahrung, anstatt theoretische Modelle abzuleiten, ihn zu dem Schluss brachte, dass wir eine völlig neue Sprache brauchen, um besser zu verstehen, was die Menschen wirklich brauchen.
Um zu verdeutlichen, welche grundlegenden menschlichen Bedürfnisse er stattdessen beobachtete, hat Max-Neef eine Matrix entwickelt. Die Matrix begrenzt die Zahl der existentiellen menschlichen Bedürfnisse auf etwa neun. Er argumentiert nicht, dass die Liste der neun existenziellen Bedürfnisse endgültig oder in Stein gemeißelt ist, aber er ist zuversichtlich, dass eine Änderung dieser Grundbedürfnisse bestenfalls sehr langsam erfolgen würde.
Wenn wir tief genug graben, stellen wir fest, dass Glück ein existenzielles Gefühl ist, das eigene Leben und seine Herausforderungen im Griff zu haben. Weder der Nutzen eines Produkts noch das Glück einer Person lässt sich an dem Preis messen, den die Menschen für etwas zu zahlen bereit sind. Wenn man jedoch ständig Kosten und Nutzen berechnet und sein Leben durch den Vergleich von Zahlen als Ausdruck von Werten lenkt, verlieren die Menschen ihren Sinn für Wertschätzung (also Qualität), Verbundenheit und Fürsorge.
Wer noch weitere Gesichtspunkte entwickelt haben möchte, der wende sich dem 3. Kapital von Göpels „The Great Mindshift“ (2016) zu. Wer sich mit der englischen Sprache schwertut, kann den Google Translator des Internets verwenden. Aber Achtung, wenn er etwas nicht zuordnen kann, springt er in den nächsten Satz. Die Übersetzung hat dann Lücken, die Sie durch Eigenarbeit wieder füllen müssen.
Insgesamt ein anspruchsvolles Buch, aber die Mühe lohnt sich.
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