Diese Fragestellung könnte als Provokation aufgefasst werden. Bei genauerer Betrachtung stelle ich nur die schlichte Frage, ob wir eine Kultur der mangelnden Urteilskraft entwickeln. Der Begriff ‚Dummheit‘ ist nach Kants Definition schlicht und präzise mangelnde Urteilskraft.
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Kant geht wohl bewusst von Urteilskraft und nicht nur von Urteilsfähigkeit aus: Zwischen Urteilskraft und Urteilsfähigkeit liegen die gleichen Unterschiede wie zwischen Kompetenz und Können. Die Kompetenz zum Urteil reicht nicht, es fehlt ihr immer noch die Kraft, das Urteil zumindest in der eigenen Person auch umzusetzen.
Und hier sind wir beim ersten Punkt einer Kultur der Dummheit: Unsere Bildungsstätten wollen Kompetenz vermitteln, wo Können verlangt ist: In Mathematik kompetent zu sein, könnte bedeuten, zu wissen, was und wie Differentialrechnung funktioniert, aber eine Aufgabe der Differentialrechnung dann auch aus dem Stand lösen zu können, bedeutet ‚Können‘. Und ‚können‘ erfordert Übung oder nennen wir es Training. Das ist durch Kompetenzvermittlung nicht zu schaffen. Im handwerklichen Bereich wäre Kompetenz zu wissen, wie eine Heizung funktioniert. Aber meine Erwartungen an den Meister seines Faches stützen sich auf sein Können. Die Kompetenz ist mir dabei völlig gleichgültig.
Harald Lesch, Astrophysiker und Wissenschaftsmoderator, sprach in Heidelberg über die „Digitale Diktatur“ (https://www.youtube.com/watch?v=z0uRzkZuVuM). Ich möchte auf eine Aussage ganz am Anfang seines Vortrages zurückkommen, in der er sinngemäß die Digitalisierung als einen Angriff auf unsere Urteilsfähigkeit erkennt. Er drückt sich sehr geschickt aus, so dass ich den Eindruck habe, dass die Mehrzahl seiner Zuhörer das Problem überhaupt nicht erkannt hat. Lesch spricht darüber, dass unsere Wissenschafts-Kultur im Wesentlichen auf der Vermittlung von Erkenntnissen beruht, die Antworten auf die Frage nach dem Warum liefern. Das Warum lässt sich nur beantworten, wenn wir die Ursache für eine beobachtete Wirkung verstanden haben. Das Erkannte sollte möglichst wahr, also objektiv überprüfbar sein. Gegenstand unseres Wissensgewinns ist die Qualität der Beziehungen von Ursache und Wirkung und stärkt damit fortlaufend unsere Urteilskraft.
Die Digitalisierung bringt einen Gesichtspunkt ins Spiel, der nicht sofort ins Auge sticht: Die heutige Form der Digitalisierung (bis hin zu Big Data) wird durch (komplexe) Algorithmen bestimmt. Algorithmen sind nicht in der Lage, Ursache und Wirkung zu beurteilen. Dazu müssten sie in der Lage sein, den ‚außerirdischen‘ Trick zu entwickeln, eine quantitative Aussage in eine qualitative Aussage verwandeln zu können. Das können bisher und auf absehbare Zeit nur Menschen. Der historische Materialismus im Rahmen des Marxismus/Leninismus stand vor dem gleichen Problem und war nicht in der Lage, hier eine plausible Erklärung zu liefern. Aber das ist Ideen-Geschichte und lockt keinen mehr hinter dem Ofen vor! Nur die Digitalisierung (möglicherweise in ihrer Geschichtsvergessenheit) versucht uns einzureden, dass das funktioniert. Dabei sind die Ergebnisse von Big Data ja eindrucksvoll, nur vermitteln sie keine Erkenntnisse zu Fragen nach dem Warum. Big Data liefert zugegeben komplexe Korrelationsdaten, die über mathematische Verfahren der nicht-linearen Regression gewonnen werden. Aber die Aussagen sind meinetwegen Wissen (letztlich irrelevantes Wissen) von Erscheinungen, aber auf keinen Fall erreicht das Wissen die Stufe einer Erkenntnis nach dem Warum. Wissenschaftstheoretische Ansprüche sollten wir erst gar nicht bemühen.
Und der von irrelevanten Informationen überschwemmte Mensch kommt – wenn er nicht darin geschult ist, den ‚Overload‘ bewusst auszublenden – gar nicht mehr dazu, nach dem Warum zu fragen. Er interpretiert die vorgestellte Informationen-Korrelation im schlimmsten Fall als Kausalität. Und merkt nicht, wie er hinters Licht geführt wird. Wir haben durch den Druck und der Häufigkeit der ‚geschlamperten‘ Korrelationsaussagen schon ein gutes Stück weit unsere kausale Richtschnur verloren.
Zur einleitenden Frage „Entwickeln wir eine Kultur der Dummheit?“ wurde ich durch eine Essay von Hendrik Holm angeregt, der sich mit der „Macht der Dummheit oder Nietzsche und wir?“ befasst (in: Scheidewege 2018/19, Nr. 48, S.327 ff.). Die Begrifflichkeit ändert sich nicht:
„Der Dumme ist nicht der einfach Gestrickte. Dumm kann auch ein intelligenter Mensch sein.“ Der Gegensatz zur Dummheit ist nicht Intelligenz, sondern Klugheit. Eine Kultur der Dummheit ist eine Haltung, die darauf gerichtet ist, die Urteilskraft systematisch zu schwächen, um damit die Macht der Dummheit zu stärken. Urteilskraft gewinnt man durch Nachdenken und Erkenntnisse im Rahmen der Kausalität. Und Erkenntnis gewinnen zu wollen, ist Arbeit und entzieht sich jeder Bequemlichkeit. Dummheit ist deshalb auch oft mit einem gehörigen Maß an Bequemlichkeit gepaart – man ist zu faul, um ein kraftvolles Urteil zu fällen und die Konsequenz aus der Erkenntnis zu ertragen.
Nietzsche lebte bis 1900 und hatte zu seiner Zeit keine Probleme mit der Digitalisierung, aber der auch zu Nietzsches Zeit sinkende Bildungsgrad ließ ihn auf die Barrikaden gehen. Sein Problem lässt sich eher mit unseren heutigen Erwartungen an unsere Ausbildungssysteme vergleichen. Für ihn waren es die „Bildungsphilister“ seiner Zeit, die seinen (heiligen) Zorn auslösten. Sie gibt es auch noch in der heutigen Zeit zu Hauf, aber es gibt Nietzsche nicht mehr. Und die Erwartung an einen wortgewaltigen Nachfolger erscheint mir vermessen. Die Welt hat sich zu stark verändert.
In Schopenhauer als Erzieher beschreibt Nietzsche „die geplagten Sklaven der drei M, des Moments, der Meinungen und der Moden“ und Holm stellt die Frage, „inwiefern wir uns (auch heute) diesen M’s ausliefern“. Er versucht anhand von drei Beispielen den Bezug zur Gegenwart herzustellen:
„1. Die Meinungen üben Macht über uns aus. Ich darf nicht meinen, was ich meine. Und in der Forschung wird es schwierig, wenn man nicht den Meinungen der Anderen folgt.“ Die Feststellung von Holms liest sich oberflächlich, als ob keine Meinungsfreiheit bestünde. Das ist hier nicht gemeint. Die Zahl der unreflektierten (dummen) Meinungen hat erschreckend zugenommen. Es ist zur Gewohnheit geworden, zu allem und jedem schnell mal eine Meinung (Likes) abzusondern, ohne die Zusammenhänge auch nur zu ahnen. Dabei ist die Äußerung der Meinung schon vorstrukturiert. Es gibt nur Zustimmung oder Ablehnung. Jede Differenzierung wird ausgeblendet. In den (un)sozialen Medien wird durch Shitstorms sichergestellt, dass man es sich zweimal überlegt, ob man eine eigene Meinung zum Ausdruck bringt. Die Schnellschuss-Meinungen unterstellen, dass man zu jedem Sachverhalt eine Meinung zum Ausdruck bringen müsse. Die Vorstellung, dass der Sachverhalt erst mal Sachverhalt bleibt und keiner Bewertung unterliegen muss, ist den meisten Menschen fremd.
Um im Wissenschaftsbetrieb voran zu kommen, sollte man sich aller Themen enthalten, die zu Ergebnissen führen könnten, die zwar hoch interessant wären, aber den Etablierten auf die Füße tritt. Die alte Idee, mit Hilfe der Wissenschaften Neues, Innovatives zu schaffen, lässt sich mit der Vorgehenswese sicherlich nicht erreichen.
„2. Die Mode macht mich annehmbar für andere. Ich liefere mich Konventionen aus, um anerkannt zu werden. An sich muss das nicht schlecht sein, aber wenn es um Moden im Denken geht (Dummheit ist ein geistiges Phänomen) hebt man die Freiheit auf, wenn man der Konvention folgt. Konventionelles Denken führt zur Veränderung des Wissens. Man weiß nicht mehr um das Wissenswerte im Sinne einer Einsicht in eine Sache, sondern man weiß um das Nicht-Wissenswerte im Sinne von Informationen über etwas. Die Integration des Wissenswerten in der eigenen Person wird gegen Ansammlung von Informationen (aus Korrelationen, V.F.) ausgetauscht.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
„3. Dem Moment nachzulaufen bedeutet bewusst auf innere Stabilität zu verzichten. Man lässt sich von Ereignissen mitreißen. Man tauscht die Erfahrung (gegen) Erlebnis ein. Erfahrungen machen uns zu dem, was wir sind, sie können uns verändern. Sie prägen uns. Erlebnisse verändern uns nicht. Sie liefern uns dem Genuss des Jetzt aus.“ Dem Moment nachzulaufen, ist bequem und manchmal auch angenehm. Man trifft dort viele und es ist bestimmt recht kuschelig. Erkenntnisse werden dort aber nicht geboren – hierzu bedarf es des Rückzugs und des Aufbaus innerer Stabilität, um Neues zu schaffen.
Nietzsche ist schon lange tot, aber Teile seiner unnachahmlichen Aphorismen begeistern noch heute. Seine Ausführungen zu Schopenhauer als Erzieher stammen aus der Zeit um 1875 und sind damit fast 150 Jahre alt. Daraus lässt sich aber auch eine gewisse Beruhigung des Gemüts ablesen. Wenn Nietzsche vor 150 Jahren die Sorge umgetrieben hat, dass die Macht der Dummheit zur Realität werden könnte und wir uns heute umschauen, dann könnte man zu der Einsicht gelangen, dass es wohl ganz so schlimm nicht ist. Oder vielleicht merken wir das auch gar nicht mehr?
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