Nikolaus Piper bezieht sich in der SZ (6.12.2019) auf Robert Shillers ‚Narrative Economics‘ und verweist auf die vielfältigen Narrative (die netten Geschichten) zur Ökonomie. Man könnte deutlicher auch sagen, die ganze Ökonomie besteht in ihrem wirkmächtigen Einfluss aus einer Vielzahl fragwürdiger, meist postfaktischer Narrative zum Markt, zur Sinnhaftigkeit des Wettbewerbs, zum sogenannten Freihandel, zur Globalisierung, zur Rente, zur Finanzwirtshaft, u.v.a.m..
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Herr Piper greift dann die Wahrnehmung vieler Menschen auf, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich laufend weiter öffnet und klassifiziert diese Wahrnehmung als ein fehlerhaftes Narrativ, weil angeblich zu komplex. Narrative der Ökonomie sind immer simpel, meist zu simpel, aber sonst wären es keine ‚guten‘ Geschichten. Der Informierte weiß das und ist ggfs. entsetzt. Die große Mehrheit tut im Wesentlichen das, was mit der Geschichte beabsichtigt ist. Und die Initiatoren freuen sich, dass ihr psychologischer Angriff auf die Hirne der Massen Früchte trägt.
Herr Piper begründet seine Meinung anhand des Gini-Koeffizienten mit einem Wert für Deutschland von 0,29 für die Einkommens- und einem Wert von 0,78 für die Vermögensstruktur, wobei der Bezugszeitraum offenbleibt. Nach herrschender Auffassung soll der Gini-Koeffizient die Spreizung zwischen Arm und Reich zum Ausdruck bringen. Piper korrigiert den Vermögens-Koeffizienten schnell noch um die Ansprüche des in der gesetzlichen Altersversorgung gebundenen Vermögens und meint, damit begründen zu können, dass unsere gesellschaftliche Vermögensverteilung mit einem Gini-Koeffizienten von („nur“) 0,59 ja doch im normalen Rahmen der europäischen Länder liege. Warum also diese Aufregung? Schön hingedreht!
Diesem Narrativ muss widersprochen werden!
Der Gini-Koeffizient fußt auf statistischen Daten und geschätzten Fortschreibungen. Nun ist es so, dass in Deutschland seit der Aussetzung der Vermögensteuer in den 90iger Jahren keinerlei verlässliche Zahlen mehr existieren, wie hoch das wirkliche Vermögen der oberen zehn bis fünfzehn Prozent der Einkommen und Vermögen einzuschätzen ist. Die statistischen Erhebungen hinsichtlich des Einkommens enden in einer Kategorie „18.000 Euro pro Monat und mehr“ und ich weiß aus eigener Berufserfahrung, die Einkommen am oberen Ende der Einkommenspyramide liegen gravierend darüber.
Die Vermögensseite basiert auf Schätzungen in Form von Fortschreibungen der letzten Erkenntnisse aus den Jahren vor Aussetzung der Vermögenssteuer. Die Schätz-Basis ist also fast 30 Jahre alt und die Vermögen haben seit jener Zeit allein durch eine Reihe von bemerkenswerten Steuervergünstigungen, die nur die großen Vermögen wirklich nutzen konnten, rasant zugenommen. Also ist mit ziemlicher Sicherheit der offizielle Gini-Koeffizient für die deutsche Vermögens- und Einkommensstruktur bei weitem und politisch gewollt zu niedrig geschätzt.
Wenn Sie dann, verehrter Herr Piper, unverfroren die zweckgebundenen Ansprüche aus der gesetzlichen Altersversorgung in die Vermögensstruktur einrechnen, um den Vermögens-Koeffizienten von einem sehr hohen Stand von 0,78 auf einen kommoderen Wert von 0,59 zu drücken, ist Ihr Vorgehen überaus fragwürdig. Das Vermögen der Altersversorgung ist nicht frei verfügbar, stellt auch keinen Kapitalstock dar, noch ist es in irgendeiner Form zu irgendeiner Zeit auf private Konten transferierbar. Es ist lediglich ein Anspruch, der ohne Gegenleistung verfällt, wenn z.B. die anspruchsberechtigte Person vor Erreichung der Altersgrenze verstirbt. Dass die Altersversorgung in der offiziellen Gini-Statistik nicht erscheint, ist deshalb richtig und angemessen und sollte auch von Ihnen so akzeptiert werden. Dass der „Gini“ noch andere ‚Konstruktions-Defizite‘ hat, sei dahingestellt.
Ökonomische Narrative fallen nie vom Himmel. Sie haben immer einen Autor und werden von ihm mit voller, meist politischer Absicht ins Leben gerufen. Gewöhnlich werden diese postfaktischen Narrative insbesondere von der „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“ oder einem vergleichbaren neoliberalen Think Tank in Auftrag gegeben.
Mein Narrativ zum „Gini“ sieht anders aus: Bei einem Gini-Wert von 0,78 und mehr frage ich mich, was die Vermögensballung auf einen immer kleineren Personenkreis bedeutet. Jede Vermögensmehrung geht immer mit einem entsprechenden Macht- und Einflusszuwachs der Nutznießer dieser Mehrung einher. Man spricht dann gewöhnlich von einer Oligarchie. Die amerikanische Struktur hat diesen Status schon ‚offiziell‘ erreicht. Was ist dann die Bedeutung von Demokratie? Ist das nur noch ein formales Spiel, damit die an der Macht Nichtbeteiligten ihre „Brot und Spiele“ (Bespaßung) zelebrieren können, aber wirkliche Entscheidungen fallen in den Hinterzimmern? Könnte man nicht das Straßenengagement vieler junger Menschen auch damit erklären, dass die etablierten Kreise nicht mehr aus ihrer eingelullten Komfortzone von „Brot und Spiele“ herauskommen und die Jugend nicht mehr mit der Hier und Jetzt- Betrachtung („Uns geht es gut!“) einverstanden ist und die Zukunft der Generationen als neues, schlagendes Argument entdeckt hat? Plötzlich kommt Bewegung in die Chose. Für die meisten anderen Argumente hat unsere Politik schon fertige Antworthülsen (Narrative) parat; dafür aber noch nicht! Und die Oligarchen als auch die Politik sind sprachlos, sie stottern nur herum. Damit haben sie nicht gerechnet.
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