Klimakrise und künstliche Intelligenz (KI)

Mein Wissen über Künstliche Intelligenz (KI) ist begrenzt. Die Bezeichnung „KI“ erscheint mir angesichts der verwendeten Algorithmen gegenwärtig noch deutlich überzogen. Das liegt aber daran, dass ich Intelligenz und Fakten-Wissen nicht in einen Topf packe. Fakten sind wichtig, aber die Verfügbarkeit von Fakten macht noch keine intelligente Aussage, wenn die Zusammenhänge nicht verstanden werden.

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Ein junger Bekannter aus der Generation meiner Kinder hat mich dann in die für jedermann verfügbaren Formen der KI eingeführt, indem er mir die Zugänge aufzeigte und mich Fragen an das System stellen ließ. Es hat Spaß gemacht und die Antworten sind je nach Fragestellung durchaus komplex. Dabei habe ich mich dann auf „phind.com“ konzentriert, weil diese KI klare Hinweise auf die verwendeten Quellen gibt.

Meine Test-Fragen an das System wurden immer „hinterfotziger“ und als Krönung habe ich auf die Frage: „ Wer sagte: „Heinrich, Heinrich, mir graut vor Dir“ in welchem Zusammenhang?“ folgende unerwartete Antwort erhalten: „Die Phrase „Heinrich, Heinrich, mir graut vor Dir“ wurde von Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in einem Plenum des Hessischen Landtags verwendet. Dieser Ausdruck wurde in Bezug auf Heinrich Heidel (FDP) geäußert, während einer Diskussion über den Naturpark und die Bäume in der Region. Heidel hatte zuvor über die Bäume und den Baumbestand gesprochen, was zu einer kritischen Reaktion von Al-Wazir führte.“ Ich gehe davon aus, dass die Beschreibung des Vorfalls stimmt, aber die KI hat in keiner Weise die Zusammenhänge des Zitats erkannt.

Einerseits wurde nicht erkannt, dass dieses Zitat aus Goethes Faust stammt und das Gretchen diese Aussage in einem Zustand großer existenzieller Verzweiflung macht. Zum anderen wäre es auch sehr interessant, welche konkreten Zusammenhänge Tarek Al-Wazir veranlassten, diese Formulierung zu wählen. Aber ein Algorithmus, dessen ‚Wahrnehmung‘ durch Korrelationen bestimmt wird, kann so nicht „um die Ecke“ denken. Da beginnt dann vermutlich die natürliche, menschliche Intelligenz.

Im Bezug auf den Klimawandel lassen sich bei der KI viele Fragen platzieren und die Antworten sind nicht immer befriedigend, aber nehmen doch viel Recherchearbeit ab. Oder sagen wir es präziser, mit den Antworten fängt die Arbeit erst richtig an. Die Antworten sind in Sekundenschnelle verfügbar, deren Prüfung auf Plausibilität erfolgt bei mir dann natürlich analog und frisst richtig Zeit, weil manchmal von der KI Fakten und auch Meinungen herangezogen werden, die mir unbekannt oder in diesem Zusammenhang nicht vermittelbar sind.

Dabei kam mir der Gedanke zu versuchen, durch Fragen an das KI-System das dort erfasste ‚Bild‘ der Bevölkerung zur Klimakrise „herauszukitzeln“, das dann vermutlich das Bild wiedergibt, das sich die Öffentlichkeit von der Klimakrise macht und das nach meiner Auffassung nur bedingt die Erkenntnisse der Wissenschaft widerspiegelt. Dabei geht es darum, im Zusammenhang mit der Klimakrise die „richtigen“ Fragen zu stellen, mit dem Ziel, das System an seine ‚Grenzen‘ zu führen. Ob das gelingt, muss sich zeigen.

KI ist ein mächtiges Instrument, um die Nutzer des Systems nahezu unbemerkt mental dorthin zu ‚schubsen‘ (neudeutsch: zu nutchen), wo dem Systemproduzenten unsere Meinungsbildung nützlich erscheint. Kann man im Falle der Klimakrise (und ähnlich politisch brisanter Themen) weitgehend ausgeschlossen werden, dass hier mit KI ein zusätzliches Tor der Manipulation geschaffen wurde?

Denken wir zurück an die Anfänge des Internets – niemand hat die Entwicklung des Internets zu einem globalen Markt, die Entwicklung der Social Media und deren zweifelhaften Einfluss auch nur im Ansatz vorher gesehen. Man geht gerne von einer kritischen Öffentlichkeit aus, vergisst aber die sehr weit verbreitete intellektuelle Bequemlichkeit, wenn auf meine individuell gestellte Frage schriftlich eine wohlformulierte Antwort ‚vorgekaut‘ wird.

Künstliche Intelligenz, so wie sie heute ausgeprägt ist, wird anhand der veröffentlichte Meinung trainiert. KI ist ein kommerzielles Projekt (und wenn es das heute noch nicht sein sollte, so ist die Kommerzialisierung das Ziel der Betreiber). Jede an das System gerichtete Frage wird über Korrelationen und Häufigkeitsverteilung zu einer Antwort geführt und das geht unvorstellbar schnell. Einfache Fragen werden auch über einfache Korrelationen verarbeitet. Wenn ich also eine substanziellere Antwort haben möchte, muss ich das System „stressen“, um hinsichtlich der Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten für die Aufbereitung der Antworten auf ein höheres Anspruchsniveau zu kommen. Und das ist nicht trivial und fordert den Frager heraus.

Hier sind wir m.E. nun an einer Weggabelung: KI ist nur dann ein Mittel zur Steigerung unserer Fähigkeiten, wenn der Frager in der Lage ist, das System mit seinen Fragen auf ein immer anspruchvolleres Niveau zu treiben. Trivale Fragen werden auch trivial beantwortet – gewissermaßen mit dem Kenntnisstand des Mainstreams. Irgendwelche Erkenntnisse lassen sich daraus kaum gewinnen. Wenn das System einen Nutzen haben soll, so muss der Fragesteller, einem Kriminalisten ähnlich, bemüht sein, den ‚Delinquenten‘ in die Enge zu treiben. Dann, so mein Eindruck, wird die Antwortqualität stetig besser. Zur Ehrenrettung des Systems muss man darauf hinweisen, dass die KI am Ende jeder Ausführung weiterführende Fragen vorschlägt, deren Beantwortung oftmals in die gewünschte Richtung weisen können.

Je weiter man das Spiel auch treibt, so bleibt die Frage, ob der Frager noch in der Lage ist, die verfügbare Antwort zu beurteilen. Wie viel Arbeit steckt darin, die Antwort zu bewerten, wenn man nicht blind den Aussagen der KI vertrauen will? Zusätzlich kam mir eine Frage aus den 68-er Zeiten in den Sinn, als man sich die Frage stellte: Kann man Quantität in Qualität überführen? Oder lässt sich Qualität über rein quantitative Methoden beurteilen? Was ist also naheliegender, als diese Frage der KI zu stellen? (siehe unten)

Um meine Wahrnehmung ein wenig auf Plausibilität zu unterlegen, habe ich (wenig systematisch) insgesamt 25 Fragen aus dem Bereich der Klimakrise gestellt und die präsentierten Antworten verwendet, um daraus weitere Fragen abzuleiten. Die Antworten umfassen über 30 Seiten Text, deren Präsentation den üblichen Umfang dieses Artikels sprengen würde. Im Anhang habe ich die 25 Fragen zusammengestellt; jeder kann sich die Antworten bei „phind.com“ selber holen.

Wenn ich nun versuche, ein Fazit zu ziehen, wird es schwierig: Wenn ich die Antworten so auf mich wirken lasse, könnte ich den Eindruck gewinnen, dass doch alle Zweifel überflüssig sind. Die Antworten werden im Brustton der Überzeugung vorgebracht. Man könnte meinen, alles sei bedacht, wir müssten eigentlich zur Umsetzung übergehen. Und die KI trifft hierbei sicherlich den Nerv vieler Klima-Aktivisten.

Aber: Wenn man zu diesen Fragen (manchmal) dicke Bücher liest, dann kommen Zweifel, ob sich die KI mit Hilfe von Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten einen besseren Durchblick verschaffen kann, als die oft filigranen Argumente eines Narrativs. Manchmal wünsche ich mir die Reduzierung auf das Wesentliche, zu der die KI hoffentlich beitragen kann. Dann kommt wieder die Lebenserfahrung, dass es bei der Umsetzung nicht nur um Sachthemen geht, sondern um die Fähigkeit, seine Mitmenschen ein Stück weit mitzunehmen. Und da habe ich den Eindruck, dass die KI noch viel Luft nach oben hat.

Zum Schluss die Beantwortung der Kernfrage: Gibt es einen Punkt, an dem Quantität sich zu Qualität wandelt?

Antwort von KI (phind.com):

Ja, es gibt einen Punkt, an dem Quantität sich zu Qualität wandelt, ein Konzept, das in der dialektischen Philosophie, insbesondere im dialektischen Materialismus, diskutiert wird. Dieses Konzept wird als „Umschlag von Quantität in Qualität“ bezeichnet und besagt, dass auf einem bestimmten Punkt rein quantitative Änderungen zu einer qualitativen Veränderung des sich verändernden Objekts führen. Umgekehrt kann eine qualitative Änderung auch Auswirkungen auf die quantitativen Merkmale des Objekts haben. Dieses dialektische Grundgesetz ist ein zentraler Bestandteil der dialektischen Philosophie und wird in verschiedenen Kontexten, von der Naturwissenschaft bis zur Sozialwissenschaft, angewendet, um die Dynamik von Veränderungsprozessen zu erklären.

Es ist wichtig zu beachten, dass dieses Konzept sowohl Anerkennung als auch Kritik erfahren hat. Kritiker argumentieren, dass die dialektischen Grundgesetze, einschließlich des Umschlages von Quantität in Qualität, oft als bloße Wortspielerei oder als Versuch, komplexe physische und chemische Prozesse zu vereinfachen, angesehen werden. Sie werfen vor, dass diese Ansätze die tatsächlichen Mechanismen und Prozesse, die hinter solchen Übergängen stehen, eher verdecken als zu klären. Trotz dieser Kritik bleibt das Konzept des Umschlages von Quantität in Qualität ein nützliches Werkzeug, um die Art und Weise zu verstehen, wie Systeme und Prozesse sich entwickeln und transformieren können.“

Da sind wir vor über 50 Jahren schon mal gewesen. Ich hatte die Hoffnung, es gäbe zu dieser Frage inzwischen etwas Handfesteres, etwas Greifbareres. In den 68-er Jahren hat mich diese Ausführung nicht überzeugen können. Das hat sich über die Zeit nicht geändert. Für meine Verständnis gibt es eben zwei Zugänge, die Realität zu beschreiben und nur dann, wenn beide Zugänge ausreichend untersucht wurden, kann man so etwas wie „richtig“ oder „angemessen“ erwarten. Die KI ist ein Kind der Quantität, also dürfen wir keine Aussagen erwarten, die etwas zur Qualität beizutragen haben. Sollten trotzdem qualitative Aussagen gemacht werden, ist große Vorsicht angebracht.
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Anhang
Fragenkatalog:
1. Was ist ökonomische Effizienz und welche Bedeutung hat siefür das Wirtschaftssystem?
2. Wer sagte: „Heinrich, Heinrich mir graut vor dir?“ und in welchem Zusammenhang?
3. Welche Modell und Erhebungsverfahren werden zur Bewertung externer Effekte verwendet?
4. Was umfasst das Coase-Theorem?
5. Wie wird das Coase_Theorem in der Praxis angewendet?
6. Wo liegen die offensichtlichen Defizite der kapitalistischen Wirtschaftsweise?
7. Welches sind die wesentlichen Treiber der Klimakrise?
8. Welche Maßnahmen können die Auswirkungen der Klimakrise neutralisieren?
9. Wie können Unternehmen dazu beitragen, die Auswirkungen der Klimakrise zu neutralisieren?
10. Welche ökonomischen Aktivitäten stehen im Widerespruch zur Klimakrise?
11. Wie kann das Wirtschaftswachstum aufgehalten werden, um die Umweltbelastung zu reduzieren?
12. Wie wird sichergestellt, dass die Internalisierung von Umweltkosten fair und transparent ist? Was ist in diesem Zusammenhang als „fair“ zu betrachten?
13. Kann man grundsätzlich unterschiedliche Strategien und Ansätze zur Abwehr der Klimakrise feststellen?
14. Gibt es Ansätze, die die Wachstumsideologie ernsthaft in Zweifel ziehen?
15. Welche Auswirkungen hat die Postwachstumsökonomie (Degrowth) auf die Wirtschaft?
16. Welche ökologischen Grenzen werden in den ökonomischen Modellen respektiert?
17. Welche Bedeutung haben die Ansätze der „Suffizienz“?
18. Wie könnte die Umstellung von Wirtschaftswachstum auf Suffizienz umgesetzt werden?
19. Welche alternativen Wirtschaftsmodelle werden aktuell werden in Forschung und Praxis untersucht?
20. Welche Bedeutung hat das Eigentumsprinzip für die Klimakrise?
21. Welche konkreten Maßnahmen können ergriffen werden, um das Eigentumsprinzip zu ändern und eine gerechtere Verteilung von Ressourcen zu fördern?
22. Wie wird der Klimawandel die menschliche Gesellschaft beeinflussen?
23. Welche ökologische Auffassung steht am meisten in der Kritik?
24. Welche Alternativen oder Ergänzungen zur ökonomischen Bewertung der Natur schlagen die Kritiker vor?
25. Wie können ökonomische Instrumente so gestaltet werden, dass sie die Treiber der Naturzerstörung treffen?
26. WElche Anreize können angewendet werden, um die Nutzung von Ressourcen zu steuern und die Naturzerstörung zu reduzieren?
27. Gibt es einen Punkt, an dem Quantität sich zu Qualität wandelt?

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Physik vs. Ökonomie

Die Physik steht hier eigentlich für die Naturwissenschaften. Das Weltbild der Physik und jenes der Ökonomie sollten die gleiche Welt beschreiben. kommen aber zu völlig unterschiedlichen Beurteilungen über deren Zustand. Die Naturwissenschaften versuchen die Welt zu verstehen und überprüfen ihre Erkenntnis an der Realität. Die Ökonomie versucht die Welt, ihre Welt, normativ zu formen, dabei gelingt es ihr selten, einen nachvollziehbaren Bezug zur Realität sicherzustellen.

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Seit mehr als fünfzig Jahre versucht die Naturwissenschaft das notwendige Gehör zu finden, dass wir mit unserer Art zu Wirtschaften ein System aufgebaut haben und unterstützen, das unsere allgemeinen Lebensumstände aus naturwissenschaftlicher Sicht absehbar zerstören wird. Man würde erwarten, dass die Ökonomie auf diesen Vorwurf eine begründbare Antwort wüsste. Das scheint nicht der Fall zu sein, denn nach deren Weltverständnis ist der Einfluss des Klimawandels, gemessen am Bruttoinlandsprodukt als Basis ihrer Wachstumsideologie so gering, dass sie keinen Grund sieht, darauf zu reagieren. Wie kann das sein?

Das Bruttoinlandsprodukt

Das Bruttoinlandsprodukt ist die Grundlage dessen, was die Ökonomie als ‚Wachstum‘ verkauft. Das Bruttoinlandsprodukt erfasst alle Waren und Leistungen, die auf einem fiktiven Markt einen Preis erzielt. Dinge, die aus vielerlei Gründen keinen Preis haben, sind nicht Gegenstand des Bruttoinlandsproduktes. Diese Kennzahl zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass jede Katastrophe, die z.B. durch Klimawandel ausgelöst wird, die Kennzahl im positiven Sinne hochschnellen lässt, weil die weiträumige Schadensbeseitigung wiederum durch eingepreiste Waren und Leistungen erfolgen wird.

Die Beiträge einzelner Branchen zum Bruttoinlandsprodukt kann man isolieren. Dabei stellt sich heraus, dass die Grundstoffbereitstellung i.w.S. als wichtiger Bezugspunkt der Ökonomie zu unseren natürlichen Lebensgrundlagen nur einen recht kleinen Anteil am Bruttoinlands-‘Kuchen’ haben. Wenn also z.B. die Preise auf diesem Sektor aus Gründen des Klimawandels „explodieren“, so ist der statistische Einfluss auf das (insgesamt erwartete) Wachstum u.U. sehr gering. Daraus schließen die Mainstream-Ökonomen messerscharf, dass Klimawandel sie nicht zu interessieren hat. Der Einfluss auf das Bruttoinlandsprodukt erscheint ihnen zu gering. Damit gilt aus ihrer Sicht das Wachstum absehbar als gesichert und deshalb wird ein „Einfach weiter so“ verfolgt.

Diese Sichtweise greift natürlich zu kurz. Wenn die Ressource nicht mehr zur Verfügung steht, steht der „Laden“! Diese Erkenntnis umgehen die Ökonomen mit dem Institut der Substitution und der vagen Hoffnung: Es wird sich schon eine Ersatzressource oder eine neue Ersatztechnologie finden lassen.

Die Systemtheorie und Wachstum

Seit den fünfziger Jahren gibt es eine Systemtheorie, die aus der Biologie heraus entwickelt wurde und die erst in den letzten dreißig Jahren als eine Art Metatheorie vielfach Anwendung findet. Ihr Erkenntniswert liegt in der Behandlung von komplexen, dynamischen Systemen. Sie kann viele Verhaltensweisen dieser komplexen Systeme gut erklären und vorhersagen. Danach ist der Planet ein weitgehend geschlossenes, dynamisches System, d.h. alles, was auf dem Planeten geschieht, gelten als ‚innere‘ Prozesse, die weder nach außen dringen, noch „Nachschub“ von außerhalb erwarten können, mit Ausnahme der Sonnenenergie. Alle planetarischen Prozesse sind somit durch die Systemgrenzen eingeschränkt und auf den planetarischen Binnenraum begrenzt.

In diesem System ‚Erde‘ hat nun die Ökonomie ein System entwickelt, das unendliches Wachstum anstrebt und das so gebaut ist, dass seine Überlebensfähigkeit auch wesentlich von diesem Wachstum abhängt. Unendliches Wachstum wird mathematisch durch eine Exponentialfunktion beschrieben. Deren Eigenschaft liegt darin, dass die Funktion in Abhängigkeit von der Zuwachsrate relativ schnell ins Unendliche ‚explodiert‘. Nun haben wir offensichtlich einen Widerspruch! Einerseits ist das System der Biosphäre im wesentlichen auf den Planeten begrenzt, auf der anderen Seite füttern wir ein System der Ökonomie auf diesem begrenzten Planeten, das funktional ins Unendliche strebt. Also ist die Wachstumsaussage auf eine Unmöglichkeit gerichtet!

Nach einem Beitrag von Crelis Rammelt1 „erfordert (unser Wirtschaftssystem) eine kontinuierliche Kapitalakkumulation und gerät ins Stocken, wenn es in diesem Prozess behindert wird. Die typische Reaktion auf die ökologische Krise besteht daher nicht darin, das Wirtschaftswachstum einzuschränken, sondern alle Hoffnung werden auf Effizienz, Kreislaufwirtschaft, Dematerialisierung, Dekarbonisierung und andere (und systembedingt natürlich) gewinnorientierte grüne Innovationen im Kapitalismus konzentriert.“

Cross-over-Betrachtung

Rammelt schreibt weiter, dass diese Hoffnung falsch ist und begründet die Auffassung mit Überlegungen, die nicht aus der Ökonomie stammen, sondern sich auf die Naturgesetze stützen. Derartige Cross-over-Beobachtung werden wir immer öfters feststellen können: wir verfügen nur über eine Welt, aber unser Denken in isolierten Kästchen ist so verbreitet, dass die Betreiber jedes Kästchens glauben, ihre oft eng begrenzten Erkenntnisse müssten sich ungeprüft auf das Ganze übertragen lassen. Im Kleinen betreiben wir dieses Spiel u.a. in der Medizin – ein kranker Mensch, und unzählige „Experten“ (Kardiologen, Endokrinologen, Orthopäden, Podologen, Urologen, Neurologen, Augenärzte, Hals-Nasen-Ohren, Zahnärzte, Proktologen, u.a.) und jeder stellt eine Diagnose, verschreibt Pillen und lässt oft einen ziemlich überforderten Patienten zurück. Für hilflose Patienten gibt es aber noch keinen Experten. (Ketzerische Aussagen gehen soweit, dass man von immer weniger Sachverhalten immer mehr weiß; wenn diese Strategie konsequent fortentwickelt wird, bedeutet es, dass man am Ende von Nichts alles weiß??)

In einer großen Dimension können wir dieses Phänomen auch bezüglich des Klimawandels feststellen. Solange wir uns im „Klein-klein“ bewegen, lassen sich viele Problemstellungen im Rahmen unseres Kästchen-Denkens lösen. Auf planetarischer Ebene wird die Problemlösung deutlich komplexer, weil die Grenzen der Sparten eher behindern als Beiträge zur Lösung leisten zu können.

Wir sehen diese Haltung auch an der Ökonomie: der Blick auf das Klima-Problem fokussiert sich auf den großen Treiber des Kapitalismus, das Wachstum, und nach dem Weltbild der Ökonomie wird diese Funktion offenbar nicht ernsthaft berührt. Also machen sie weiter wie zuvor. Dass durch den Klimawandel, der durch die Forcierung des Wachstums ständig befeuert wird, die Welt möglicherweise in wenigen Jahrzehnten so verändert sein wird, dass große Teile der Menschheit in vielen Regionen der Welt nicht mehr werden leben können, ist offensichtlich keine ökonomische Frage und gilt als unbeachtlich. Wenn aber eine so große Anzahl von Menschen (als Konsumenten bzw. billige Arbeitskräfte) ‚ausfallen‘, so könnte man meinen, wird das ein veritables ökonomisches Problem darstellen.

Der Ansatz der Physik

Die Physik hat da einen deutlich differenzierten Blick auf die Vorgänge. Sie unterscheidet im Rahmen der Thermodynamik zwischen reversiblen und irreversiblen Prozessen. Der Klimawandel und auch die Ökonomie zählen zu den irreversiblen Vorgängen, d.h. der Prozess ist nicht umkehrbar, der Ausgangszustand ist nicht wieder herstellbar. Der angeregte Prozess verliert ständig etwas, was ihm die „Rückabwicklung“ verbaut. Dieser Prozessverlust wird u.a. als ‚Entropie‘ erfasst.

Rammelt versucht, diese Aussage bildhaft verständlich darzustellen: „ Im Herzen eines Waldes findet ein Affe konzentrierte chemische Energie in Form einer Banane. Der Affe wandelt die Banane schnell in nutzbare Energie um, um seine körperliche Verfassung aufrechtzuerhalten, auf Bäume zu klettern, Feinde zu bekämpfen, u.s.w.. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass Energie ihre Form ändern, aber nicht erzeugt oder zerstört werden kann. Die anfängliche chemische Energie, die in der Banane enthalten ist, wandelt sich (also) um in chemische Energie, die die Zellen im Körper des Affen regeneriert, kinetische Energie, die seine körperlichen Aktivitäten antreibt, und thermische Energie, die als Körperwärme abgestrahlt wird.2“ Die einmalige Energiezufuhr, die der Affe aus der Biosphäre erhält, wird bei ihm auf verschieden Formen von Energie verteilt. „Energie verändert seine Form, verschwindet aber nie.3

Rammelt stellt dann die Frage, warum wir in eine Energiekrise geraten, wenn Energie doch unzerstörbar ist? Hier kommt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, auch Entropiegesetz genannt, ins Spiel. Energie lässt sich nicht festhalten oder fixieren. Wo immer Energie auftritt, hat sie die Eigenschaft, sich in Richtung der energieärmeren Sektoren auszudehnen bis sie gleichmäßig verteilt ist. „ An diesem Punkt erreicht die Entropie, ein Maß für die Energiestreuung, ihr Maximum. Gemäß dem Entropiegesetz fließt Wärmeenergie spontan von einem heißeren Körper zu einem kälteren, niemals umgekehrt. (…) Nach dem Entropiegesetz neigen daher sowohl Energie als auch Materie dazu, sich (zunehmend kleinteiliger) zu verteilen, wodurch die Gesamtentropie zunimmt.4

Energie ist zwar unzerstörbar, aber Energie als auch Materie (als eine Form von gebundener Energie) hat die Eigenschaft, sich mehr oder weniger gleichmäßig zu verteilen. Energie existiert uneingeschränkt, kann aber aufgrund ihres Entropiebestrebens ab einem gewissen Verteilungsgrad wirtschaftlich nicht mehr genutzt werden. Ein Beispiel: Fels ist Materie mit einer geringen Entropie, wenn der Fels über einen langen Zeitraum zu Sand zerfallem sein wird, hat die gleiche Menge an Materie eine hohe Entropie angesammelt. Nach den thermodynamischen Hauptsätzen ist klar, dass sich unsere Umgebung durch die Entropie nicht nur laufend verändert, sondern sehr langfristig einem Zustand maximaler Entropie zustrebt, den man nicht mehr als lebensförderlich beschreiben kann.

Dieser offensichtlich unvermeidlichen Entwicklung stellt sich ein Gegengewicht in den Weg. Im Rahmen der Evolution haben sich in der Biosphäre Strategien entwickelt, die der Entropie entgegenarbeiten. Sie können die Entropie zwar nicht aufheben, durch die Gegenmaßnahmen wird die Entropie aber deutlich verlangsamt. Die Biosphäre kann „dieses Defizit durch die unerschöpfliche Energie der Sonne aus(gleichen). Die Biosphäre nutzt die Sonnenenergie, um „nützliche Arbeit“ zu leisten, nämlich die Konzentration verteilter Energie und Materie in Form von neuen Bananen (wie im ersten Untergesetz des Entropiegesetzes vorgeschrieben) zu schaffen. Eine gesunde und gut funktionierende Biosphäre ist somit die einzige Kraft auf der Erde, die in der Lage ist, den Anstieg der Entropie auszugleichen.5

Wie funktioniert das? „(…) Wie konzentriert sich Energie, wenn sie, dem Gesetz der Entropie folgend, sich doch spontan zerstreut? Die Antwort liegt in einem Untergesetz des Entropiegesetzes: Wärme kann nur von einem kalten Körper zu einem warmen Körper fließen, indem sie im physikalischen Sinne „Arbeit verrichtet“. Dies bedeutet, dass zusätzliche Energie erforderlich ist, um Energie von einem dispersen auf einen konzentrierten Zustand rückzuführen. (…) Eine Energiekonzentration erfordert zusätzliche Energie.“ Diese kommt in der Biosphäre aus anderen Energiequellen (z.B. aus fossilen Speichern) und ganz wesentlich von der Sonne.

Ein zweiter Untersatz des Entropiegesetzes besagt, dass keine Energieübertragung in Nutzarbeit zu 100 % effizient ist. Die Arbeit gilt als „nützlich“, wenn sie die Entropie verringert.6“ Es entstehen unvermeidlich Verluste, weshalb die Prozesse als irrersibel gelten.

Die Rolle unseres Wirtschaftssystems

Rammelt beschreibt unser Wirtschaftssystem als „ein gefräßiges Tier, (das) alle 20 Monate das Äquivalent der Ressourcen eines gesamten Mount Everest (verschlingt). Es beschleunigt auch seinen Stoffwechsel und verkürzt diesen Zeitrahmen innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte auf nur 10 Monate. Während es seinen Bauch füllt, erschöpft das Biest seine Umwelt und belastet sie mit Abfall, wodurch natürliche Systeme zur Ressourcenerneuerung und Abfallbewirtschaftung gestört werden. Letztendlich vernichtet es seinen eigenen Lebensraum.7“ Diese Vorgehensweise ist nur möglich, indem die fossilen, gebundenen Energievorräte massiv eingesetzt werden. Dabei werden Energiemengen frei, die u.U. Jahrmillionen im Erdreich gebunden schlummerten.

„(Die) Ökosysteme haben sich über Millionen von Jahren entwickelt, um den Energieverbrauch in ökologischen Nahrungsnetzen zu optimieren und die Entropie (wie oben versucht darzustellen) durch Biodiversität zu verzögern und zu reduzieren. Tragischerweise bewirken wachstumsorientierte Volkswirtschaften genau das Gegenteil, indem sie gegen diese natürliche Ordnung vorgehen und die Entropie mit verheerender Geschwindigkeit erhöhen.

(…) Wenn die Natur Grenzen setzt, sucht der Kapitalismus aktiv nach Wegen, diese zu umgehen, was unweigerlich zu neuen Grenzen führt. (…) Leider hat dieses (Handlungs-)Muster schwerwiegende Folgen, wie die anhaltende Klimakrise und der Rückgang der Artenvielfalt zeigen. Der Kapitalismus schadet in seinem Streben nach unaufhörlichem Wachstum der Biosphäre, auf die er angewiesen ist, um seine entropieverstärkenden Aktivitäten abzuschwächen.“

Die Ökonomie pflegt seit etwa 30 Jahren das Narrativ der Entkoppelung und der Effizienz ohne entsprechende Erfolge aufweisen zu können. „Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass noch ein enormes Potenzial für Kreislaufwirtschaft und Effizienz besteht, wenn man bedenkt, dass die Weltwirtschaft weniger als 10 % des Abfallmaterials zurückgewinnt und nach der Umwandlung nur 28 % des weltweiten Primärenergieverbrauchs zurückerhält. (…) Das Potenzial für Zirkularität ist auf lediglich 29 % des Gesamtdurchsatzes beschränkt. Der verbleibende Teil umfasst Nahrungsmittel und Energie, die irreversiblem Abbau unterliegen, sowie Nettozugänge bei Gebäuden und Infrastrukturen, die nicht für das Recycling zur Verfügung stehen.“

Rammert schreibt weiter: „Wie erläutert, erfordert die erneute Verdichtung disperser Materialien Energieinvestitionen und geht mit unvermeidlichen Übertragungsverlusten einher, die die Gesamtentropie erhöhen. Der Energieverbrauch nimmt mit steigenden Recyclingquoten zu und Energie selbst kann nicht recycelt werden. Und selbst wenn wir Zugang zu unerschöpflichen erneuerbaren Energiequellen hätten, würden geschlossene Kreisläufe für Agrochemikalien, Beschichtungen, Schmierstoffe, Klebstoffe, Tinten und andere komplexe Materialien nicht entstehen können, weil es für sie keine Recyclingtechnologie gibt.“

Was ist die Alternative?

„Unsere vermeintliche Herrschaft über die Natur ist eine Illusion. So clever technische Innovationen auch erscheinen mögen, sie unterliegen weiterhin den Gesetzen der Thermodynamik. Folglich ist eine wachstumsorientierte kapitalistische Wirtschaft in vergeblichen Versuchen gefangen, sich vollständig von der Natur abzukoppeln – mit dem Ziel einer 100 % kreislauforientierten, dienstleistungsorientierten und abfallfreien Existenz. Diese Besessenheit rührt von der Unfähigkeit her, sich eine Wirtschaft vorzustellen, die nicht wächst und deren Stoffwechsel sowohl quantitativ als auch qualitativ innerhalb sicherer ökologischer und planetarischer Grenzen bleibt. Daher müssen wir nach radikal anderen Wegen suchen (…).8

Rammert sieht eine Lösung im „Degrowth“(= Postwachstumsökonomie). „Im weitesten Sinne stellt Degrowth eine angestrebte sozioökonomische Transformation dar, eine Reduzierung und Umverteilung von Material- und Energieflüssen mit dem Ziel, die Grenzen des Planeten zu respektieren und soziale Gerechtigkeit zu fördern.“ Der Anspruch ist hoch! Und viele werden die Notwendigkeit einer Veränderung gar nicht verstehen wollen. Man könnte dieses Verhalten auch als Vogel-Strauss-Politik (den Kopf in den Sand stecken) bezeichnen.

Nachtrag:
Vergleichbare Gedanken zu diesem Thema hat auch Andreas Weber in seinem Buch „Biokapital“ (Berlin, 2008) auf den Seiten 79 – 86 verständlich und anschaulich dargestellt.

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1Crelis Rammelt, How entropy drives us towards degroth, in: Real-World-Economics No. 107 (2024), p.2 (Übersetzung durch VF + Google)
2Rammelt, a.a.O., S. p.2f
3Rammelt, a.a.O., p. 3
4Rammelt, a.a.O., p. 3
5Rammelt, a.a.O., p. 4
6Rammert, a.a.O., p. 4
7Rammert, a.a.O., p. 2
8Rammert, a.a.O., p 6

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Eine neue Theorie der Ökonomie?

Der „Special Issue“ des real-world-economics Review (No. 106) zu der Frage „Wie können wir eine Wirtschaftswissenschaft innerhalb der biophysikalischen Grenzen des Wirtschaftswachstums schaffen?“ hat mich einige Mühe gekostet die Mehrzahl der 200 Seiten Stoff querzulesen. Es sind eine Reihe sehr inspirierende Beiträge, die mich veranlassten, darüber nachdenken, wie ich das Problem angehen würde. Um es vorweg zu sagen, erwarten Sie bitte keine Lösung, bestenfalls kann man ein paar Ideen beitragen.

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Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein einfacher Grundsatz: Das Wirtschaften dient der menschlichen Gesellschaft und nicht umgekehrt! Unsere sogenannten wirtschaftlichen Erfolgszahlen (Bruttoinlandsprodukt, Wachstum, u.a.) bilden möglicherweise den Zustand unserer Wirtschaft ab, aber nicht unser Wohlergehen als Gesellschaft. Als Folge dieser einseitigen Erfolgszahlen neigen wir dazu, mehrheitlich die wirtschaftliche Perspektive höher zu bewerten als die gesellschaftliche. Deren Abbildung würden andere „Erfolgszahlen“ erforderlich machen, die es zwar gibt, aber deren Bedeutung und mediale Verbreitung eher gering einzuschätzen ist. Das ist m.E. eine Folge des gängigen Narrativs: das mächtige Narrativ des angeblich erfolgreichen Wirtschaftens überdeckt den gesellschaftlichen Anspruch, gehört zu werden.

In der oben angeführtem Sonderausgabe (Special issue) hat u.a. ein Beitrag von James K. Galbraith1 mein Interesse geweckt. Er fragt sich in einem recht kurzen Beitrag, inwieweit die ökonomische Theorie den realen Lebensprozessen und den physikalischen Gesetzen gerecht wird und greift einige Gesichtspunkte heraus, bei denen diese Erwartung fraglich ist und verweist auf sein demnächst erscheinendes Buch „Entropy Economics“:

Menschliche Wesen sind lebende Organismen. Alle menschlichen Aktivitäten, einschließlich der mentalen, entsprechen physikalischen Gesetzen. Es ist (also) naturgemäß, eine ökonomische Theorie (zu erwarten), die auf den Grundlagen der Biologie und Physik gründet. (…)

Sein erster Einwand wendet sich gegen die gängige Auffassung vom Markt:

In der modernen ‚Mainstream‘ Ökonomie gibt es zwei getrennte und unterscheidbare Institutionen oder Arenen des Handelns. Die eine ist der Markt, die andere ist der Staat (Verwaltung). Diese zwei Arenen haben getrennte Funktionen: der Markt verteilt die Ressourcen gemäß den Präferenzen der Haushalte und Unternehmen; der Staat setzt Verträge und Eigentumsrechte durch und stellt Sicherheit und Schutz. Unabhängig davon wird eine wirtschaftliche Staatsaktivität als „Intervention“ in den Markt beschrieben, was manchmal gerechtfertigt ist, aber in den meistens Fällen nicht.

Im wirklichen Leben gibt es keine Märkte ohne Staat, der sie reguliert. Regulierungen schaffen die Voraussetzungen, unter denen komplexe wirtschaftliche Aktivitäten entstehen können, und sie setzen Bedingungen und Grenzen für wirtschaftlichen Wettbewerb. (…) Wenn die Regulierungen scheitern, zerbröseln die Märkte (…).2

Ein weiterer Gesichtspunkt befasst sich mit dem Verständnis zur Wertentstehung:

Die Wert- und Produktionstheorien sind die Grundlagen der Wirtschaftstheorie. Beides sollte im Einklang mit Lebensvorgängen und physikalischen Gesetzen stehen.

(…) Der Wert ist eine Funktion der Knappheit, die zum Teil eine Frage der Produktverfügbarkeit im Verhältnis zur Marktgröße ist. Zum Teil hängt es auch von der Anzahl der Hersteller oder Dienstleister ab. (…) In der Praxis besteht die wichtigste Methode zur Verbesserung der Bewertung darin, die Anzahl der Anbieter zu verringern und so ein Monopol oder Oligopol zu schaffen.

Monopole oder Oligopole gelten in den Lehrbüchern als Vorboten der Hölle. Aber wer die Schäppchenverrücktheit der Konsumenten und die Ziele der Unternehmer richtig interpretiert, wird erkennen müssen, dass keine Seite den „vollkommenen Markt“ der Theorie anstrebt. Nur ein unvollkommener Markt (und das sind die meisten realen Märkte) ist ein Markt, den sowohl die Konsumenten als auch die Anbieter suchen, weil nur solche Märkte in Bewegung sind und deshalb Gelegenheiten für wirtschaftliche Vorteile bieten. Die Unvollkommenheit eines Marktes drückt sich auch dadurch aus, dass Ungleichgewichte auf der Anbieter- und Nachfragerseite den Markt in Bewegung halten.

Die Frage bleibt nur, wie viel Ungleichheit verträgt die ökonomische Konstruktion. Etwas Unvollkommenheit wirkt i.d.R. belebend, solange Beteiligten erkennen können, dass das Ungleiche durch eigenes Handeln ausgeglichen werden kann. Ungleichgewichte, die den Anschein einer „Betonkonstruktion“ vermitteln, wirkend lähmend auf die Wirtschaftsentwicklung (vergleiche z.B. die oben angesprochenen Monopole).

Auch „der Staat verfügt über viele Formen von Monopolen, darunter die legalisierte Gewalt, gerichtliche Strafen und Steuern. Der Staat gewährt Monopole durch Patente, geistige Eigentumsrechte, Regulierungen und Industriestandards. Unternehmen streben durch technologische Innovation und Marktbeherrschung nach Monopolen, manchmal legal und manchmal nicht. (…)

Eine einmal erworbene Monopolstellung wird natürlich geschützt (bzw. abgesichert). Die herrschende Klasse verfolgt im Allgemeinen die Politik des „Teile und herrsche“. Aus ihrer Sicht ist Monopolmacht etwas, das nicht geteilt werden darf. Die herrschende Klasse (versucht) die Beherrschten daher oft nach Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Kultur und anderen Kriterien zu trennen und ermutigt kleine Gruppen, sich als unverwechselbar und getrennt von ihren Mitbürgern zu definieren (zu individualisieren). Ebenso ziehen es Unternehmen oft vor, ihre Mitarbeiter nach Qualifikationen und Berufskategorien zu stratifizieren und mit ihnen (wenn überhaupt) im Einzelgespräch zu verhandeln, anstatt sich einer organisierten Gewerkschaft zu stellen. Diese Aufspaltung reduziert den Wert (und die Bedeutung) der Wähler in einer Demokratie und die Macht der Arbeitnehmer in einem Vertragsstreit, wodurch die Betroffenen leichter zu ‚regieren‘ sind. Monopol ist für die Mächtigen; Wettbewerb ist etwas für die Schwachen.“

Wenn eine Untergruppe sich als zu groß oder zu stark entwickelt, so dass sie die Monopolstellung der herrschenden Klasse gefährdet, besteht eine Lösung darin, sie in kleinere Einheiten aufzuspalten, die miteinander in einem (beständigen, künstlich befeuerten)Konflikt stehen. (Man spricht dann gern davon, die auseinander strebenden Kräfte zu binden) Eine andere Lösung unterdrückt die ‚Emporkömmlingsgruppe‘ (oder die Start-ups) insgesamt. Dieses Muster zeigt sich oft auf der Weltbühne und auf jeder Ebene der Organisation menschlicher Angelegenheiten, von der Familie bis zum Nationalstaat. Eine realistische Werttheorie sollte (im Rahmen der Ökonomie) berücksichtigen, wie durch die Ausübung monopolistischer Macht Werte geschaffen und erhalten (und auch vernichtet) werden.“

Bei den meisten Gütern hängt die wirtschaftliche Bewertung daher sowohl von der Häufigkeit oder Seltenheit des Produkts (im Verhältnis zum Markt) als auch von der Anzahl der Lieferanten mit Produktionsfähigkeit und Marktzugang ab. Allerdings wird die Rolle des Monopols in den meisten Gesellschaften durch gesellschaftliche Entscheidungen – (sogenannte) Regulierungen – verändert, die das wirtschaftliche Verhalten regeln, einschließlich der Preise der meisten Arten menschlicher Arbeit und der Zinssätze. Die Monopolmacht auf der Ebene des Unternehmens oder des Oligarchen ist selten absolut; es wäre nicht tolerierbar, wenn es so wäre. Oder um es evolutionär auszudrücken: Gesellschaften, die die Monopolmacht nicht begrenzen, sind im Allgemeinen instabil und bestehen nicht sehr lange.“

Neben dem Marktverständnis in der Wirtschaftstheorie irritiert Galbraith die Tatsache, dass die meisten Lehrbücher ihre Erläuterungen gleich mit dem Austauschverhältnissen und dem Markt beginnen. Aber ohne eine Produktion gibt es nichts, was für den Austausch und letztlich für den Konsum sinnvollerweise bereit stünde. Es wird offensichtlich unterstellt, dass die Güter und Dienstleistungen in der Theorie einfach als existent vorausgesetzt werden.

Wenn wir Schritt für Schritt den Wirtschaftsablauf verfolgen, so beginnt er mit der Verfügung über Ressourcen, der Produktion von Wirtschaftsgütern, dann folgt eventuell der Austausch und letztlich der Konsum. Damit endet die ökonomische Betrachtung, obwohl der letzte Schritt noch gar nicht gemacht wurde: Die ganze Produktion wird früher oder später zu Abfall oder deutlicher gesagt: zu Müll. Es wird so getan, als würde die Ökonomie erst mit dem Markt beginnen und mit dem Konsum schon wieder enden. Dann sollte jeder Beteiligte sein Geld gemacht haben?! Aber die Kette ist doch viel länger: Bereitstellung der Ressourcen, Herstellung (Produktion), Verteilung (Markt), Konsum, und am Ende Müll. Zur Produktion weiß die Ökonomie wenige beizutragen und der Lebensabschnitt der Wirtschaftsgüter, den wir unter der Bezeichnung „Müll“ zusammenfassen würden, existiert in der Theorie überhaupt nicht, obwohl dieser Lebensabschnitt inzwischen weltweit ein Geschäftsvolumen von vielen Milliarden Euro Umsatz umfasst und wir im Müll zu „ersaufen“ drohen. Müll können wir nach der heutigen Theorie bestenfalls verwalten, aber nicht verwerten, rückführen oder gar abbauen. Nicht einmal das Vermeiden funktioniert, weil wir dann unsere Entscheidungen im Rahmen der Herstellung grundlegend ändern müssten. Vermeiden beginnt beim Nicht-produzieren!

Der Wert bezieht sich auf Güter und Dienstleistungen, die produziert werden. Bei wirtschaftlichen Aktivitäten geht es hauptsächlich um die Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Der Konsum mag das ultimative Ziel der Wirtschaftstätigkeit sein, aber ohne Produktion gibt es nichts zu konsumieren. Damit eine Produktion stattfinden kann, müssen wirtschaftliche Entscheidungsträger wie Unternehmen und Regierungen die Produktionsentscheidungen treffen. Eine Produktionstheorie sollte diese Entscheidungen erklären (können).

Und wenn in dem Lehrbuch die ‚Produktion‘ dann behandelt wird, „ähnelt die sie beschreibende Theorie normalerweise stark der Austauschtheorie (des Marktes). Der Unterschied besteht darin, dass sich in der Theorie nun nicht mehr ein Verbraucher zwischen Eiern und Butter entscheidet, sondern dass ein Unternehmen verschiedene Kombinationen aus Arbeit und Kapital wählt.“

Derzeit basiert die Produktionstheorie in der theoretischen Ökonomie hauptsächlich auf dem Konzept einer Produktionsfunktion. In der durch diese Funktionen repräsentierten Theorie gibt es keine Produktionsentscheidung. Die Entscheidung wird angenommen; die Produktion erfolgt stets im größtmöglichen Umfang; Ressourcen (einschließlich Arbeitskräfte) bleiben nicht ungenutzt. Sowohl auf der mikro- als auch auf der makroökonomischen Ebene ist die Produktionsfunktion eine Parabel der Zusammenarbeit zwischen Kapital und Arbeit bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen. (…) Produktionsfunktionen dienen somit der Rationalisierung und damit der Rechtfertigung von Marktprozessen und Marktverteilungen. (…).“

Tatsächlich können Wirtschaftssysteme als Erweiterung unseres Verständnisses von Lebensprozessen und den ihnen zugrunde liegenden physischen Realitäten verstanden werden. Eine zentrale Tatsache hierbei ist, dass alle Aktivitäten – physische, biologische und wirtschaftliche – den Zugang zu und die Nutzung von Ressourcen erfordern. Doch trotz der offensichtlichen Bedeutung physischer Ressourcen schenken ihnen die gängigen Gesellschaftstheorien, darunter auch Wirtschaftstheorien, oft wenig Aufmerksamkeit. Tatsächlich werden in unserem Standardmaß für Wirtschaftstätigkeit, der Volkseinkommensrechnung, die unserem Konzept des Bruttoinlandsprodukts zugrunde liegt, alle marktbasierten Aktivitäten in (Währungseinheiten bewertet) als gleichwertig behandelt. Und dieser Rechnung zufolge machen Branchen wie Bergbau, Energieerzeugung und Landwirtschaft nur einen kleinen Teil unserer wirtschaftlichen Aktivitäten aus – wertmäßig praktisch vernachlässigbar.“

Wenn wir die wesentliche Bedeutung (sagen wir) der Kohle (oder des Öls, des Gases oder der Wasserkraft) in unserem Leben anerkennen, können wir das harte Leben der lebenswichtigen Arbeiter, der Bergleute, Landwirte und anderer Menschen, die an vorderster Front arbeiten nicht länger ignorieren, die grundlegende Ressourcen und Lebensmittel in unsere Häuser bringen. Aber wenn wir die wesentliche Rolle, die sie spielen, anerkennen und ihre Arbeitsbedingungen und Bezahlung verbessern, werden sich viele von uns den Luxus des modernen Lebens nicht mehr so einfach leisten können, wie wir ihn jetzt noch genießen.“

Es ist vermutlich auch dem letzten Bürger drastisch klar geworden, dass wir z.B. in der Energieversorgung in den letzten Jahrzehnten gravierenden Fehleinschätzungen aufgesessen sind, die sich auch durch die von uns gewählte ökonomische Sichtweise eingestellt haben.

Eine biophysikalisch (orientierte) Werttheorie erklärt das sehr geringe Gewicht natürlicher Ressourcen nach unseren Maßstäben der Wirtschaftstätigkeit – sie sind allgegenwärtig und lebenswichtig, aber sie sind reichlich vorhanden und billig. Genauer gesagt, sie waren bisher reichlich vorhanden und günstig. (…) mehrere Jahrhunderte des Ressourcenreichtums könnten bald zu Ende gehen. Was dann? Die konventionelle Mainstream-Theorien sind nicht beunruhigend; Sie unterstellen, dass neue Ressourcen die alten ersetzen können, dass sich die Technologien anpassen werden und das Leben so weitergehen wird, wie es bisher war.“

Diese Auffassung ist aus einer globalen Perspektive eine fatale optimistische Illusion und wirkt ziemlich naiv.

(Die) „biophysikalische Theorie untergräbt diese optimistische Sichtweise. (…) Wenn die Kosten für „Ressourcen steigen oder die Ressourcenqualität abnimmt, kann eine (…) Produktionstechnologie unrentabel werden und die Produktion mit dieser Technologie wird zurückgehen oder eingestellt. In der Tat haben Fixkosten (dabei) einen(…)(erheblichen) Einfluss auf den Produktionsprozess. Je stärker die Produktion auf große vorherige Anlageinvestitionen angewiesen ist, desto geringer ist die Flexibilität und desto anfälliger sind Produktionsentscheidungen gegenüber den Kostensteigerungen bei Ressourcen.“

Galbraith kommt letztlich zu dem Ergebnis, dass wir zwischen zwei Ansätzen zu wählen haben: es gibt den Ansatz, der sozial bequem, aber irreal und sinnlos ist und es gibt den Ansatz zu versuchen, die Voraussetzungen neu zu überdenken und realistische, für uns manchmal auch harsche Schlussfolgerungen zu ziehen.
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1James K. Galbraith, An economic theory compatible wirh life processes and phsysical laws, RWE-R, No 106, 2023, p. 13-17. (Eigene Übersetzungen durch VF, ergänzende Einträge in Klammern sind vom Übersetzer)

2Galbraith, a.a.O., p. 14ff.

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„Große“ Transformation – aber kleine Schritte?

Niko Paech hat nach meiner Erinnerung einmal in einem Interview auf die Frage, wie man in eine Postwachstumssituation kommt, (verkürzt) geantwortet: „by design oder by desaster“. Diese Antwort ist kein Entweder-Oder, sondern soll wohl die Bandbreite des Handelns beschreiben, ohne auf Details eingehen zu müssen.

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Es vergeht heute kein Tag, an dem nicht irgend welche Nachrichten über den Klimawandel verbreitet werden. Dabei wird immer deutlicher, dass unsere Art des Wirtschaftens einen der ganz großen Treiber des Problems darstellen. Konsequenter Weise würde man erwarten, dass sich die Wirtschaftswissenschaftler nur so drängeln, um ihren Beitrag zu diesem Vorwurf zu leisten. Aber Fehlanzeige – es herrscht bemerkenswerte Stille. Die Situation ist möglicherweise vergleichbar mit dem Bankencrash in 2008/2009. Plötzlich haben sich alle weggeduckt, weil das Problem kaum einer rechtzeitig erkannt hatte.

Heute ist das Problem m.E. noch größer, aber ich kann kaum einen prominenten Wirtschaftler erkennen, der sich dazu äußern mag. Könnte es sein, dass die bequeme Vorstellung einer Alternativlosigkeit zum gegenwärtigen Wirtschaften oder die Vorstellung vom „Ende der Geschichte“ vielen Damen und Herren der Wirtschaftswissenschaft den Atem genommen haben. Die von der Politik und von der Wissenschaft angestrebte Transformation macht aber deutlich, dass es tatsächlich Menschen gibt, die die Behauptung der Alternativlosigkeit nicht akzeptieren (wollen) und deshalb nach neuen Lösungen suchen – also sich mit Alternativen zum gegenwärtigen Wirtschaften befassen.

Es ist nachvollziehbar, dass niemand ein fertiges System aus dem Hut zaubern kann, aber es wäre doch wünschenswert, wenn die eine oder andere der Mainstream-Ökonomen seine weitgefasste Erfahrung nutzen könnte, zu erkennen, das in der Ökonomie etwas klemmt, wenn man nicht in der Lage ist, Lösungsvorschläge zur Diskussion zu stellen.

Bei der Suche nach Erklärungen für diese Wahrnehmung stieß ich auf die jüngste Ausgabe des Real-World-Economics-Review No. 106 (Dez. 2023)1, in dem sich eher heterodoxe Wissenschaftler bemühen, wirtschaftlich relevante Vorschläge zur klimapolitischen Situation der Wirtschaft zu unterbreiten. Erwarten Sie aber nicht zu viel, auch diese Damen und Herren kochen nur mit Wasser, aber sie sind in der Lage, über den Tellerrand der Ökonomie kreativ hinaus zublicken. Ich bin beim Lesen noch mittendrin und sehe mich außerstande, hier und heute eine Meinung abzugeben, weil ich manches noch nicht so verstanden habe, wie ich es mir wünschen würde.

Einen Aspekt, bei dem ich aussteigen musste, war Jamie Morgens2 Beitrag „Against the clock: Economics 101 and the concept of time“. Es ist mir klar, dass das Zeitkonzept der Ökonomie aus einer Zeit stammt, als in der Physik noch ausschließlich Newton’sche Mechanik gelehrt wurde. Mir ist auch klar, dass es in diesem Weltbild keine zeitlichen Verschiebungen zwischen Ursache und Wirkung gibt. Aber die Darstellung von Jamie Morgan mit einer logischen Zeit und einer historischen Zeit setzt ein Verständnis voraus, über das ich (noch) nicht verfüge. Und der Artikel ist für mich zu dicht und zu abstrakt, um zu verstehen, was konkret gemeint ist.

Es ist nachvollziehbar, dass die Ökonomie keinerlei Sensorium besitzt, um Ursachen und Wirkungen zu verknüpfen, wenn dazwischen, wie z.B. in der Ökologie, Monate oder gar Jahre liegen können. Alle Ereignisse, deren Zusammenhänge im Allgemeinen die Kurzfristigkeit überfordern, sind in der Ökonomie nicht zu behandeln. Als Folge sind langfristige Entwicklungen zwar ggfs. rückblickend beschreibbar, aber nicht begründbar.

Ein ergänzender Gesichtspunkt ergibt sich insoweit, dass dann, wenn zwischen Ursache und Wirkung Zeit verstreicht, die Aussage über anzustrebende Gleichgewichtszustände wenig sinnvoll erscheint. Die Ökologie, die hier einen anderen Ansatz verfolgt, geht davon aus, dass ein Gleichgewicht die Ausnahme und in komplexen Systemen ein permanentes Ungleichgewicht durchaus als normal anzusehen ist.

Andri Werner Stahel, Brasilien3 ist Spezialist für Aristoteles und beschäftigt sich demzufolge mit kluger Haushaltsführung (Oikonomie) und der Chrematistik (Lehre vom Reichtums). Dabei macht er deutlich, dass schon im Altertum zwischen Gebrauchswert und Tauschwert unterschieden wurde. Chrematistik funktioniert – vereinfacht gesagt – nur in einer Welt, die sich dem Tauschwert verschrieben hat. Dabei ist der Tauschwert jener Wert, den ein Geschäftspartner akzeptiert, wenn er davon ausgeht, dass er das Gut erwirbt, um es weiter zu verkaufen. Dem gegenüber ist der Gebrauchswert ein quasi ‚finaler‘ Wert, der sich durch den Gebrauch oder auch Verbrauch des Wirtschaftsgutes für den Erwerber darstellen lässt.

Es wird m.E. verständlich, dass sich die Motivationen deutlich unterscheiden, wenn es darum geht, ein Wirtschaftsgut zu erwerben. Der Tauschwert ist der Wert des (Zwischen-) Händlers und der Gebrauchswert ist der Wertansatz des Endverbrauchers. Dazwischen klafft eine Lücke, die Aristoteles damit erklärt hat, dass mit dem Gebrauchswert eine kluge, eventuell vorsichtige Haushaltsführung verbunden ist und nur im Falle des Tauschwertansatzes Chrematistik möglich ist.

Wenn wir uns dem Vater der modernen Ökonomie, Adam Smith, zuwenden, so können wir feststellen, dass ‚Papa‘ Smith seine Aussagen zur modernen Ökonomie auf der Basis von Gebrauchswerten gemacht hat. Von Tauschwerten war m.E. in seinen Ausführungen zum Markt nicht die Rede. Die Welt, in der Adam Smith lebte, war noch eine landwirtschaftlich geprägte Handwerker-Gesellschaft, in der man Gebrauchsgegenstände herstellte, für die es in der Vorstellung der damaligen Zeit keine Zwischenhändler, Einzelhändler u.ä. existierten. Unsere heutige Ökonomie hat diesen ‚feinen‘ Unterschied einfach übersehen oder bewusst vernachlässigt und behauptet seit vielen Jahrzehnten, dass auf dem Markt lt. Adam Smith natürlich nur der Tauschwert zum Tragen kommt. Ob bei der Verwendung des Gebrauchswertes auch die viel zitierte „unsichtbare Hand“ (im Sinne des Herrn Smith) in unserem heutigen Sinne zum Tragen kommen könnte, erscheint fraglich.

Im Kern interessiert uns hier die Frage, was würde sich in unserem Wirtschaftssystem ändern, wenn wir statt des dominanten Tauschwertes die Idee des Gebrauchswertes verstärkt aufgreifen würden. Wenn ich ehrlich bin, fällt mir die Vorstellung schwer. In jenen Zeiten, in denen Aristoteles die Unterscheidung getroffen hat, herrschte noch in vielen Bereichen Subsistenzwirtschaft (man baute selbst an). Unter diesen Umständen hatte der Gebrauchswert eine große Bedeutung und der Tauschwert war auf eine relativ kleine Gruppe von Handel treibenden Individuen beschränkt. Heute können wir davon ausgehen, dass die Subsistenz in einem nur sehr geringen Umfang wahrgenommen wird und der Tauschwert weite Teile der Wirtschaft dominiert. Es wird aber leicht vergessen, dass die letzte Wertentscheidung beim Endverbraucher i.d.R. nicht nach dem Tauschwert erfolgt, sondern i.a.R. über die Frage entschieden wird, ob das zu erwerbende Wirtschaftsgut für den geplanten Gebrauch Verwendung finden kann und sein Gebrauchswert den individuellen Vorstellungen von Qualität und Technik entspricht.

Damit wird deutlich, dass der Tauschwert primär ein rein monetärer Wert ist, indem das Gut in der Erwartung gekauft wird, dass es im Wesentlichen unverändert mit einem monetären Aufschlag (Marge) weiterverkauft werden kann. Die Qualität oder ähnliche Überlegungen spielen dabei nur eine sehr untergeordnete Rolle, solange deswegen der Wiederverkauf nicht generell in Frage steht.

Der Gebrauchswert ist deutlich individueller und auch komplexer zu begründen. Neben der schlichten monetären Frage (Ist das Produkt mir den Preis wert? Kann oder will ich mir den Preis leisten?) ergeben sich im Sinne einer ‚klugen Haushaltsführung‘ Fragen der Qualität und einer angemessenen Technologie. Diese Aspekte sollten die Kaufentscheidung zusammen mit dem Preis auf ‚Augenhöhe‘ beeinflussen. Das ist aber nicht die Motivation des Händlers. Dessen primäres Interesse reduziert sich i.d.R. auf die angestrebte Marge. Der Tauschwert ist heute in aller Munde und wird kritiklos übernommen. Dabei wird übersehen, dass der Tauschwert ausschließlich das Interesse der Verkäuferseite darstellt.

Der Tauschwert wird von der Verkaufsseite in den Raum gestellt, vielfach mit einem großen Rabatt-Getöse, um zu demonstrieren, dass man dem Konsumenten große Zugeständnisse macht und den meisten Endkonsumenten ist nicht klar, dass ihr ureigenes Interesse nur durch den Gebrauchswert repräsentiert wird. Der Gebrauchswert tritt aber erst dann in die Aufmerksamkeit der Konsumenten, wenn der (Tausch-)Preis des Gutes die Einkommenssituation ernsthaft berührt, wenn also die Frage auftaucht, kann oder will man sich dieses Gut leisten und auf was muss durch die Kaufentscheidung alternativ verzichtet werden.

Wo besteht zwischen Tauschwert und Gebrauchswert der innere Zusammenhang? Einfach dargestellt wächst der Tauschwert mit jeder hinzukommenden Handelsstufe, weil jede Stufe mit ihrer Marge am Erfolg des Wirtschaftsgutes beteiligt sein will: Der Produzent gibt das Wirtschaftsgut zu Herstellungskosten plus Marge an den Großhandel, von dort geht das Gut zuzüglich Marge an den Einzelhandel und wird dann wieder zuzüglich der Marge dem Endkonsumenten angeboten. Der Angebotspreis entspricht dem gewünschten Tauschwert.

Wenn der Tauschwert nun die vom Gebrauchswert geprägten Preiserwartungen des Endkunden übersteigt, haben die Anbieter ein ernstzunehmendes Problem. Ihre Ware ist in diesem Fall zu dem gewünschten Tauschwert nicht verkäuflich. Und hier treffen sich Tauschwert und Gebrauchswert. Der Gebrauchswert ist der Wert, den der Endkunde zu zahlen bereit ist. Er definiert die maximal mögliche Höhe des Tauschwertes, vorausgesetzt der Endkunde begreift, wie wichtig seine individuelle Wertentwicklung und Wertentscheidung für ihn ist.

Und hier liegt der Knackpunkt! Die Angebotsseite versucht mit allen (lauteren und unlauteren) Mitteln, den Konsumenten so einzulullen, dass er diese klare Kante nicht wahrnimmt und sich lieber von den Versprechungen der Werbung und des Marketing überwältigen lässt und auf seine Rechte als Konsument freiwillig verzichtet. Nur dann, wenn der Konsument seinen Gebrauchswert kennt und konsequent einfordert, kann man davon sprechen, dass der Kunde „König“ ist. Das bedeutet aber stramme intellektuelle Arbeit!

Viele Konsumenten glauben in den Zeiten des Internets, wenn man viele Preise verglichen hat, dass man dann ein günstigstes Angebot identifizieren kann und vergisst dabei, dass es sich bei den Angebotspreisen regelmäßig nur um Tauschwerte handelt. Der Prozess muss von Seiten des Konsumenten anders herumlaufen: Man muss sich fragen, wie will ich das Produkt verwenden? Welche Qualitäten oder welche sonstigen Eigenschaften sollte deshalb das Produkt haben? Welche Lebensdauer darf ich erwarten? Welche Fristen bestehen für die Gewährleistung? Welche Reparaturgarantien bestehen? Wenn die meisten der Fragen klar beantwortet werden können, dann kommt die Frage nach dem Gebrauchswert, der dann in einem letzten Schritt zu einer abgewogenen Preiserwartung führen wird. Und mit dieser Erkenntnis kann man dann die Tauschwertangebote hinsichtlich ihrer Vorteilhaftigkeit aus der Sicht des Endkunden sinnvoll überprüfen.

Was soll nun diese Darstellung? Alle Welt sucht nach Ansatzpunkten, an denen man eine notwendige Transformation ins Rollen bringen könnte. Den einen ultimativen Triggerpunkt, der die Sache mit einem intelligenten Federstrich erledigen könnte, wird es nicht geben. Also sollte man nicht nach dem großen Wurf Ausschau halten, sondern sich eher auf viele kleinere Schritte einstellen.

Unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem wird vom Tauschwert dominiert. Hier einen Wechsel zum Gebrauchswert anzustreben, ist realistisch nicht durchführbar. Die gegenwärtige Fixierung auf den Tauschwert macht die heftige Kapitalkumulation (das Thema der klassischen Chrematistik) erst möglich. Dabei wird alles getan, damit der Endverbraucher nicht auf die Idee kommt, seine ureigensten Interessen im Rahmen der Entwicklung eines Gebrauchswertes offensiv zu vertreten. Die Mehrzahl der Konsumenten folgt den Versprechungen der Anbieter, ohne sich frei mit einer eigenen Meinung an dem ‚Spiel‘ zu beteiligen. Eine Stärkung des Verständnisses der Bedeutung des Gebrauchswertes könnte u.a. wieder qualitative und metabolische4 Gesichtspunkte in die Diskussion einführen.

Es liegt nicht im Interesse des Verbrauchers, billig zu konsumieren, wie das heute oft propagiert wird – weil bei dem billigen Angebot in aller Regel die Nutzungszeit und die Gewährleistung ausgeblendet werden. Billig erhöht nur den Durchsatz zum Nachteil des Konsumenten, der dann in kurzen Abständen wieder konsumieren muss (Stichwort: Fast Fashion). „Ich verdiene nicht genug, um billig einzukaufen!“ Das Ziel des Konsumenten muss es sein, ein ‚preiswertes‘ oder ‚preiswürdiges‘ Angebot zu nutzen. Dazu muss er aber seine Vorstellung des jeweiligen Gebrauchswertes kennen und vertreten können.

Abschließend könnte man sich auch künftig ein Fach ‚Haushaltsführung‘ in den Schulen vorstellen, in dem die Bedeutung des Gebrauchswertes im Gegensatz zum Tauschwert für den Konsumenten vermittelt wird. Denn wir sind irgendwie alle Konsumenten!
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1Real-World-Economics Review (RWE) No. 106 (Im Internat gibt es einen kostenlosen Download in englischer Sprache) Thema der Ausgabe ist „How can we construct an economics consistent with the biophysical limits to economic growth?“ mit vielen unterschiedlichen Beiträgen

2Jamie Morgan, Against the clock: Economics 101 and the concept of time, In: RWE 106, S. 78 ff.

3Andri Werner Stahel, Oikonomics and the limits to growth, in: RWE No 106, S. 27ff.

4Eine metabolische Betrachtungsweise geht weg von der ökonomischen Betrachtung, die auf den Preis fixiert ist. In der metabolischen Perspektive spielt es eine Rolle, welche Stoffe, in welchen Mengen, wie und mit welchen Mitteln verarbeitet werden oder wurden.

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Eine ‚volle‘ Welt und ihre Konsequenzen

Letzte Woche bestand die Gelegenheit an einem Umwelt-Puzzle1 teilzunehmen. Das Umwelt-Puzzle ist eine Veranstaltung, bei der in Gruppenarbeit mit Moderatoren auf wissenschaftlicher Basis Fragen zu unserer Umweltsituation gestellt werden, für die die Teilnehmergruppen Ursache-Wirkungs-Ketten zusammenzustellen hatten.

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Die Teilnehmer waren nach drei Stunden gemeinsamer Diskussion überrascht über die hohe Komplexität der Problemstellung. Es wurde den Teilnehmern auch klar, einfache Lösungen wie das Narrativ des ‚Weiter so‘ oder ‚der Markt wird es schon richten‘ sind keine vernünftigen Optionen.

Ein Aspekt hat mich dann besonders herausgefordert. Es wurden in den Diskussionen die menschliche Aktivitäten aufgegriffen und deren Wirkungen auf die Umwelt diskutiert. Aber der Mensch als Spezies und wesentliche Ursache all der Probleme stand nicht zur Diskussion. Mein Eindruck war, dass diese Selbstreflektion über die Rolle des Menschen in der Umwelt-Problematik möglicherweise die Teilnehmer überfordert hätte.

Um diese Fragestellung auf einer relativ einfachen Ebene zu verdeutlichen, kann man auf die Unterscheidung von einer ‚vollen‘ und einer ‚leeren‘ Welt zurückgreifen. Ich habe diese Begriffe erstmals bei Hermann Daly kennengelernt. Das ‚Leer‘ und ‚Voll‘ bezieht sich bei mir auf die menschliche Besiedlungsdichte und der Begriff unterstellt nach meiner Interpretation, dass wir seit 200 Jahren in einer zunehmend ‚vollen‘ Welt leben und wirtschaften. Mit anderen Worten, die heutige Umwelt-Problematik ist in erster Linie eine Frage der Siedlungsdichte des Menschen, die sich weltweit von ca. einer halben Milliarde Menschen im ausgehenden Mittelalter inzwischen auf ca. acht Milliarden Menschen (2024) angewachsen ist2. Und das hat natürlich Folgen für unser gegenwärtiges und zukünftiges Handeln!

Wer die Entwicklungskurve der Weltbevölkerung auf Wikipedia (siehe unten Fußnote 2) auf sich wirken lässt, wird erkennen können, dass diese Entwicklung in den letzten 200 Jahren den Betrachter sehr stark an eine Exponentialfunktion erinnert. Die Zuwächse wachsen dabei funktionsbedingt ihrerseits überproportional. Eine Exponentialfunktion in einem geschlossenen System Erde ist eine höchst problematische Entwicklung, weil das Systemelement ‚Mensch‘ in einem überproportionalen Maße zunimmt und alle anderen (notwendigen und wichtigen ) Elemente des Systems überwuchert und ihnen ihre Existenz streitig macht.

Wissenschaftliche Szenarien gehen davon aus, dass bei einer friedliche Entwicklung die Zunahme der Menschheit etwa bei 10 – 12 Milliarden Menschen deshalb endet, weil die Erde mehr Menschen nicht ernähren kann. Da nützt auch der Einsatz von Chemie nichts mehr, weil diese Zahl von Menschen soviel Lebensraum benötigt, dass kein ausreichender Platz für die notwendige Ernährung dieser Menschenmassen zur Verfügung stehen wird. Dabei ist die Voraussetzung der Friedfertigkeit schon eine sehr optimistische Annahme.

Nehmen wir die wissenschaftlichen Aussagen zur Klimakrise ernst, so wird unsere Ernährungsgrundlage künftig durch Hitze (Dürren), Starkregen und heftige Unwetter stärker in Frage gestellt als in den Jahrzehnten zuvor. Damit schrumpft auch die bewohnbare und landwirtschaftlich nutzbare Landfläche. Mit anderen Worten, der Mensch ist der Kern des Problems und nicht die Um- oder Mitwelt, die nur auf die Entwicklungen der Menschheit mit ihren evolutionär (seit Jahrtausenden) erprobten Strategien reagiert. Damit rückt die Frage, wie wir die exponentielle Entwicklung der Menschheit stoppen oder wenigstens bremsen können, in den Mittelpunkt des Geschehens.

Wie kann man sich eine Lösung vorstellen? Paul Raskin et al.3 haben 2002 versucht, für die ‚Große Transformation‘ sechs Szenarien zu entwickeln, wie sich die Veränderung vollziehen kann oder könnte. Die ‚konventionelle‘ Strategie („Weiter so“) folgt entweder dem marktorientierten Gedanken („der Markt wird es schon richten“) oder alternativ dem Weg, den Keynes vorgeschlagen hat („Markt kombiniert mit politischer Steuerung“) und letzterem sind wir zumindest nach den ersten Nachkriegsjahren unter dem Namen ‚Keynesianismus‘ ein Stück weit gefolgt. Das andere Ende der denkbaren Szenarien wird als ‚Verfall und Barbarei‘ umschrieben und umfasst die Alternativen einer ‚Welt als Festung‘ oder als kompletter ‚Zusammenbruch der Zivilisation‘. Der dritte Weg ist die Transformation und das ist der Weg, den Raskin und seine Kollegen anstreben, ausarbeiten und für realisierbar halten.

Die häufig anzutreffende Auffassung, dass die „Marktkräfte“ das Problem lösen werden, wird als ein Trugschluss beschrieben: „Die Zukunft der Marktkräfte würde unseren Nachfahren unter Umständen eine riskante Hinterlassenschaft bescheren. Das Szenario ist weder nachhaltig noch wünschenswert, denn auf diesem Entwicklungspfad liegen erhebliche ökologische und soziale Hindernisse. Bevölkerungswachstum, Wirtschaftswachstum und der Raubbau an den Ressourcen erhöhen den Druck auf die Natur.

Die Umweltzerstörung würde fortschreiten, statt eingedämmt zu werden, und die Gefahr würde wachsen, dass kritische Schwellenwerte überschritten und Ereignisse ausgelöst werden, die das Klima und die Ökosysteme der Erde radikal verändern. Der wachsende Druck auf die Ressourcen wird sehr wahrscheinlich zu Verteilungskämpfen führen. Die Erdölförderung lässt irgendwann in den nächsten Jahrzehnten nach, die Preise für Rohöl werden dann in astronomische Höhen klettern und die Energiefrage ins Zentrum der Weltpolitik rücken. In manchen Regionen ist jetzt schon absehbar, dass um Süßwasserreserven innerhalb und zwischen Staaten Kriege geführt werden könnten.“4

Raskin et al. sprechen bei ihrem Thema einer großen Transformation auch das Bevölkerungswachstum und seine eventuellen Begrenzungsmöglichkeiten oder -notwendigkeiten an. „Die Bevölkerung wächst, die Besiedlungsdichte steigt, auch das Durchschnittsalter verschiebt sich. Nicht wenige Prognosen nehmen bis 2050 (aus der Perspektive von 2002 – VF) einen Anstieg der Weltbevölkerung um 50 Prozent an. Dann würden sich 3 Milliarden Menschen mehr als derzeit auf der Erde drängen, überwiegend in den Entwicklungsländern. Wenn der Trend zur Verstädterung anhält, werden 4 Milliarden Neubürger in die Ballungsräume ziehen und Infrastruktur, Umwelt und sozialen Frieden auf eine harte Probe stellen. Die sinkende Fruchtbarkeit lässt das Durchschnittsalter in den Industriestaaten wachsen. Die Transferleistungen an die Älteren werden die Erwerbstätigen massiv unter Druck setzen. Great Transition würde das Bevölkerungswachstum bremsen, die Landflucht abschwächen und nachhaltigere Siedlungsformen bevorzugen.“5

Sie greifen auch das Phänomen der Migration auf, das eine Folge des Bevölkerungswachstums darstellt und erhebliche Wirkungen auf den Prozess der Transformation haben wird. Konservative Kreise neigen dazu, die nationalen oder europäischen ‚Mauern‘ hochzuziehen und rutschen damit sehr rasch in die Folgen des Szenarios einer ‚Welt als Festung‘. Dieses Szenario fällt in die Kategorie ‚Verfall und Barbarei‘ und scheidet m.E. als Lösungsansatz aus:

„Bildet sich jedoch die Welt als Festung heraus, haben es einige Akteure verstanden, die unheilvollen Entwicklungen für einzelne Enklaven abzuwenden. Sie können ihre eigenen Interessen verteidigen und bilden Allianzen. In der Anwendung von Gewalt sehen sie ein notwendiges Mittel, um den Wohlstand, die Rohstoffquellen und die Regierbarkeit der jeweiligen politischen Einheit zu sichern. Die Eliten ziehen sich in schützende Enklaven zurück, meist in den Industriestaaten, vereinzelt aber auch in den Entwicklungsländern. Einzelheiten sind in der Erzählung Die Welt als Festung nachzulesen.“6

Die Begrenzung des künftigen Bevölkerungswachstums wird uns neben dem Umbau unserer Gesellschaften zur Nachhaltigkeit eine nahezu übermenschliche Anstrengung abverlangen. Wir haben uns humanitäre Regeln auferlegt, die es verlangen, alle Teile der menschlichen Spezies gleichberechtigt in die Entwicklung des Planeten mit einzubeziehen. Die Würde des Menschen ist nicht teilbar. Wir haben mehr als 200 Jahre einen Teil der Menschheit die Würde vorenthalten, um unseren Wohlstand zu schaffen. In einer vollen Welt rächt sich dieses Verhalten. Dieser vernachlässigte Teil der Weltbevölkerung schlägt uns (vermutlich unbewusst) mit der einzigen „Waffe“, über die sie verfügen: über Bevölkerungswachstum und damit wachsender Migration – sie treffen uns an unserem wunden Punkt. Die Erhaltung des Wohlstands könnte zur Debatte stehen.

Wenn die Infrastruktur einer Gesellschaft nicht sicherstellen kann, dass für Krankheit, Alter und soziale Probleme der Menschen gesorgt ist, bleibt als Alternative nur die Vergrößerung der individuellen Familie als Überlebensstrategie. Um die soziale Last auf möglichst viele Schultern zu verteilen, muss die Familie groß sein. (Die Ökonomie erfasst das Phänomen unter dem Begriff der Skaleneffekte.) Werden die Familien zu groß, wird die familiäre Ernährungslage kritisch, weil das Vermögen der Familien aus ökonomischen Gründen oft nicht mit gewachsen ist. Also werden die jüngeren Familienmitglieder versuchen, neue Wege zu gehen. Sie suchen eine ertragbare Alternative und übernehmen dabei ein sehr hohes Risiko. Diesen Sachverhalt nehmen die Industriestaaten dann als Migrationsdruck wahr ohne nach den Gründen für dieser Herausforderung zu fragen.

Um diesen Druck abzubauen, macht es wenig Sinn, eine ‚Festung‘ auszubauen. Wir müssen dafür sorgen, dass der Grund für die Migration reduziert wird. Das kostet Investitionen, die wir initiieren müssen, um das Problem menschenwürdig zu lösen. Es könnte sehr gut sein, dass die Gelder, die wir hier einsetzen müssen, bei der ‚Großen Transformation‘ im eigenen Lande fehlen. Die Alternative ist die ‚Festung‘, die uns auch extra Kosten für Aufbau, Erhaltung und Verteidigung unserer ‚Festung‘ aufbürden werden, aber das Problem in keiner Weise löst.

„Die Veränderung von Werten und Gesellschaftspolitik im Zuge der Great Transition könnte den Bevölkerungszuwachs bis 2050 um 1 Milliarde Menschen verringern. Dafür wäre einerseits der Bedarf an Verhütungsmitteln zu decken und andererseits ein Umfeld zu schaffen, in dem die Menschen später eine Familie gründen und vor allem weniger Kinder haben wollen. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Geburtenkontrolle und Ausbildung, insbesondere der Mädchen,

sowie der Chance auf einen Arbeitsplatz. Um den Bevölkerungsanstieg wirksam zu dämpfen, muss sich das Schulsystem in den Entwicklungsländern verbessern.“7

Ob dieser verringerte Bevölkerungszuwachs ausreicht, um den Migrationsdruck zu reduzieren, ist abzuwarten. Wir haben auf diesem Gebiet m.E. keine wirklichen Erfahrungen. Ich würde den Schwerpunkt auf die Bildung, insbesondere der Frauen und Mädchen, legen, weil mit wachsender Bildung sich die Frage nach Verhütung automatisch ergibt. Aber – wie oben ausgeführt – muss darauf geachtet werden, dass eine ausreichende, gesellschaftlich akzeptierte Infrastruktur geschaffen wird, die den Druck zur Bildung großer Familien aufhebt und damit auch den Migrationsdruck auflöst, um zu versuchen, in anderen Teilen der Welt „sein Glück zu machen“.

Der größte Bevölkerungsdruck entsteht auf der Südhalbkugel. Aber auch in den Industriestaaten führt die Siedlungsdichte zu einer Reihe von nahezu unvermeidlichen Problemen. Einerseits wäschst der Raumbedarf des Individuum in Bezug auf Wohnraum, Parkraum für Pkw, Freizeitaktivitäten u. ä.. Die Versiegelung der Böden schreitet im Eiltempo voran. Die Städte fressen sich in ihr Umland und zerstören landwirtschaftlich notwendige Flächen und die Menschenzusammenballungen produzieren Lärm, Hektik und letztlich Stress, die der Gesundheit abträglich sind und die emotionale Reizschwelle vieler Menschen senken. Das Zusammenleben wird dadurch schwieriger, weil komplizierter. Und die Politik pflegt teilweise noch Werte und Ziele, die aus einer Zeit stammen, als die Welt nach deutlich „leerer“ war.
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1Vgl. germany@climatefresk.org oder www.climatefresk.org

2Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Weltbev%C3%B6lkerung (aufgerufen am 9.3.2024)

3Paul Raskin et al., Great Transition – Umbrüche und Übergänge auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft, (dt. Übersetzung), 2002 (http://www.isoe-publikationen.de/publikationen/publikation-detail/?tx_refman_(März 2024))

4Paul Raskin et al., S.36

5Paul Raskin et al., S. 31

6Paul Raskin et al., S. 37 (dieses Narrativ ist lesenswert und öffnet eine erschreckende Perspektive, deren Eintrittswahrscheinlichkeit nicht von der Hand zu weisen ist.)

7Paul Raskin et al., S.68

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Wo stehen wir? Wohin gehen wir?

Ein Buch von Maja Göpel aus 2016, als PDF unter dem Titel ‚The Great Mindshift‘ veröffentlicht, ist mir wieder mal in die Hände gefallen und beim ‚Herumlesen‘ bin ich auf die Studie „The Great Transition – the Lure and the Promise of the Times Ahead“ aus dem Jahr 2002 des Stockholm Environment Institute, Boston und dem Tellus Institute gestoßen, auf der Göpel ihre weiteren Ausführungen aufbaut. Sie fasst den Inhalt für ihre Zwecke zusammen.

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Dabei entstand bei mir der Wunsch, diese Studie im Original zu lesen. Sie steht als kostenloses PDF im Internet zur Verfügung. Es gibt sogar eine autorisierte Übersetzung ins Deutsche.

https://greattransition.org/documents/gt_deutsch.pdf

Der deutsche Bericht umfasst 108 Seiten. Das ist mehr als sich hier sinnvoll verarbeiten lässt. Aber es lohnt sich, diesen Bericht herunterzuladen. Selten habe ich eine Studie gelesen, die mich mehr in ihren Bann zog.

Die Studie versucht Antwort zu geben auf die folgenden großen Fragen:

1. Wo stehen wir? (Was ist der aktuelle Stand 2002? Soviel weiter sind wir nicht gekommen)
2. Wohin gehen wir? (Wohin treiben wir?)
3. Wohin wollen wir? (Was wollen wir erreichen? Was sind unsere Ziele?)
4. Wie kommen wir ans Ziel? (Wie kommen wir dorthin?)
5. Die Geschichte der Zukunft
6. Formen des Übergangs

Dabei wird das anstehende Problem von der nationalen Ebene auf eine „planetarische“ Ebene gehoben und der Zeitbezug ausgeweitet: Die anstehenden Veränderungen werden nicht aus dem Handeln der letzten paar Generationen erklärbar. Es geht nicht um die nationale Befindlichkeit, sondern es wird deutlich, dass die „Great Transition“ ein Menschheitsproblem darstellt. Dabei werden viele Alternativen, die gewöhnlich auf der Ebene der ökonomischen Substitution oder mit der scheinbaren grenzenlosen Größe des Planeten beantwortet werden, plötzlich zu Fragen eines Nullsummenspiels innerhalb planetarischer Grenzen: was der eine zu viel in Anspruch nimmt, fehlt dem anderen, die ‚planetarische‘ Summe ist vom Grundsatz her immer Null.

Ein weiterer Gesichtspunkt der Studie ist unsere Auffassung von Wirtschaft. Damit diese von uns geschaffene Institution funktioniert, müssen wir auf vieles verzichten (ohne es als Verzicht wahrzunehmen) und erhalten dafür ein beachtliches Maß an Wohlstand, der wiederum auf Kosten anderer Menschen auf diesem Planeten erzielt wird (Nullsummenspiel). Das Ziel der Wirtschaft als Anhäufung materieller Dinge sollte durch ein humanitäres Ziel der menschlichen Entwicklung ersetzt werden, dem die Wirtschaftsaktivitäten zu dienen haben.

Die wechselseitigen Abhängigkeiten werden m.E. erstmalig in einem so umfassenden Zusammenhang dargestellt. Trotz der Komplexität wird versucht, sinnvolle Lösungsansätze zu finden. Der planetarische Ansatz macht aber auch deutlich, wie wenig Urteilsfähigkeit am rechten und linken Rand unserer Gesellschaft versammelt ist. Dort herrscht nicht der Verstand, dort herrscht m.E. die Angst vor der Veränderung. Dabei ist Veränderung ein wesentlicher und unverzichtbarer Teil unseres Lebens.

Da man davon ausgehen kann, dass wir mehr oder weniger wissen, wo wir stehen, erscheint die Frage wichtig, in welche Richtung entwickeln wir uns? Um eine realistische Antwort auf diese Frage zu finden, nutzen die Autoren die Szenario-Methode, indem sie drei Szenarien unter dem Begriff der „Weltsicht“ entwickeln. Für jeden dieser drei ‘Archetypischen Weltsichten’ lassen sich zwei Varianten entwickeln (vgl. Great Transition – Umbrüche und Übergänge auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft, 2002, S. 28 f.). Die drei Grundszenarien werden unter der Bezeichnung ‚Konventionelle Welten‘, ‚Barbarei und Verfall‘ und ‚Große Übergänge‘ geführt. „Für die erste Variante ist das Fortschreiben des Bestehenden charakteristisch, die zweite geht von einem grundlegenden, aber unerwünschten sozialen Umbruch aus und die dritte von einem ebenso grundlegenden, aber erwünschten sozialen Wandel.“(S. 26)

„Die Weltsicht der „Konventionelle Welten behauptet, dass sich die Welt im 21. Jahrhundert in derselben Richtung wie bisher weiterentwickelt, ohne große Überraschungen, ohne Brüche, ohne eine grundsätzliche Erneuerung der Zivilisation. Dieselben Kräfte und Werte, die derzeit die (ökonomische) Globalisierung vorantreiben, würden demzufolge auch die Zukunft prägen. Kleinere Anpassungen in Wirtschaft und Politik würden genügen, um soziale, ökonomische und ökologische Probleme in den Griff zu bekommen.“ (S. 26)

„Die Perspektive „Verfall und Barbarei beschwört die Möglichkeit, dass diese Probleme nicht bewältigt werden, sondern sich in einer Abwärtsspirale dramatisch steigern und damit das Krisenmanagement der bestehenden Institutionen überfordern. Am Ende stünden dann Anarchie oder Diktatur.“ (S.27)

„Das Szenario der Großen Übergänge, das im Zentrum dieses Essays steht, nimmt eine grundlegende, historisch einmalige Veränderung der Lebenseinstellung und der Gesellschaftsordnung in den Blick. Neue Werte und ein neues Leitbild der Entwicklung würden diesem Szenario zufolge die Lebensqualität und eine Grundversorgung aller Menschen, Solidarität und globale Gerechtigkeit sowie die Nähe zur Natur und ökologische Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt rücken.“ (S. 27)

„Für jedes der drei Szenarien definieren wir zwei Varianten und erhalten so insgesamt sechs Szenarien. Indem wir die Konventionelle Welten in Marktkräfte und Politische Reformen unterteilen, legen wir den Finger auf einen in der zeitgenössischen Debatte zentralen Punkt. In dem marktwirtschaftlichen Szenario treibt der offene Wettbewerb auf dem Weltmarkt die Entwicklung voran. Soziale und ökologische Aspekte gelten als sekundär. Im Gegensatz dazu geht das Szenario Politische Reformen von umfassenden, aufeinander abgestimmten staatlichen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und zum Erhalt der natürlichen Umwelt aus.

Auch das pessimistische Szenario Verfall und Barbarei unterteilt sich in zwei Varianten, den totalen Zusammenbruch und die Welt als Festung. Der Zusammenbruch tritt nach einer immer weitere Kreise ziehenden Spirale von Konflikten und Krisen ein, die schließlich außer Kontrolle geraten und sämtliche Institutionen unter sich begraben. Die Welt als Festung wäre die autoritäre Antwort auf den drohenden Zusammenbruch, bei der sich eine privilegierte Minderheit in einer Art globaler Apartheid durch einen Verbund abgeschotteter Enklaven gegen die Zumutungen der verarmten Mehrheit schützt.

Die beiden Varianten der Großen Übergänge heißen Öko-Kommunalismus und Neues Nachhaltigkeits-Paradigma. Der Öko-Kommunalismus kämpft für den Umweltschutz vor Ort, direkte Demokratie und wirtschaftliche Autarkie. Er ist zwar bei einigen Umweltgruppen und in anarchistischen Subkulturen beliebt, aber es ist nicht recht erkennbar, wie er sich trotz der derzeitigen Globalisierungstendenzen behaupten will, ohne die eine oder andere Form der Barbarei in Kauf zu nehmen. Das vorliegende Buch identifiziert Great Transition mit dem Neuen Nachhaltigkeits-Paradigma. Dieses könnte den Charakter der Zivilisation weltweit verändern, ohne in eine moderne Version der „Kleinstaaterei“ zurückzufallen. Die Hinwendung zur Nachhaltigkeit soll weltweite Solidarität, den Austausch unter den Kulturen und die wirtschaftliche Verflechtung fördern und gleichzeitig einen freiheitlichen, menschenwürdigen und ökologischen Übergang gewährleisten.“ (S.27)

„Die Szenarien unterscheiden sich in ihrer Reaktion auf die gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen. Marktkräfte verlassen sich auf die Selbstheilungskräfte des Wettbewerbs. Politische Reformen hängen davon ab, dass sich die überwältigende Mehrheit der Regierungen auf eine nachhaltige Zukunft einigt. Die Welt als Festung muss sich auf bewaffnete Kräfte verlassen, um für Ordnung zu sorgen, die Umwelt zu schützen und das Abgleiten in den Zusammenbruch zu verhindern. Das Szenario der Großen Übergänge strebt eine nachhaltige, lebenswerte Zukunft an und entwickelt dafür neue Werte, ein neues Entwicklungsmodell und hofft auf das Engagement von Bürgern und Bürgerinnen aus der ganzen Welt.“

„Die für die genannten Visionen jeweils charakteristischen Annahmen, Werte und Mythen haben ideengeschichtliche Wurzeln. (…) Das Szenario der Marktkräfte hängt einem merkantilen Optimismus an und glaubt an eine verborgene Hand, die für gut funktionierende Märkte sorgt und so alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme löst. Der wichtigste

Vordenker ist Adam Smith (1776), zu den aktuellen Vertretern gehören viele neoliberale Wirtschaftstheoretiker. ‚Politische Reformen‘ beruht hingegen auf der Überzeugung, dass die Märkte staatlicher Kontrolle bedürfen, um ihren immanenten Hang zu Wirtschaftskrisen, sozialen Unruhen sowie zur Umweltverschmutzung auszugleichen. John Maynard Keynes wurde unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise zum „Vater“ der Theorie, die den Kapitalismus mit seinen zerstörerischen Kräften in verträgliche Bahnen lenken will (Keynes 1936).

Hinter der These vom Zusammenbruch steht die trostlose Überzeugung, dass Bevölkerungsexplosion und hemmungsloses Wirtschaftswachstum direkt in den ökologischen Kollaps führen und heftige Verteilungskämpfe sowie den Niedergang der Institutionen auslösen werden. Thomas Robert Malthus hat in seinem „Versuch über das Bevölkerungsgesetz“ 1798 die These aufgestellt, die einer arithmetischen Reihe folgende Nahrungsmittelproduktion könne keinesfalls mit dem der geometrischen Progression gehorchenden Bevölkerungswachstum Schritt halten und gehört damit zu den einflussreichsten Vorreitern.

Eine erste Ausprägung der ‚Welt als Festung‘ beschrieb Thomas Hobbes 1651 mit seinem „Leviathan“. Der Mensch sei des Menschen Wolf, behauptete er, und müsse daher mit starker Hand geführt werden. Zwar bekennen sich nur wenige heute offen zu derart autoritären Auffassungen, aber viele Menschen sehen eine solche Entwicklung in ihrer Ratlosigkeit als logische Folge der unkontrollierten gesellschaftlichen Polarisierung und der Umweltzerstörung, die sie allenthalben beobachten.

Ahnherren des ‚Öko-Kommunalismus‘ sind William Morris und die Sozialreformer des 19. Jahrhunderts (Thompson 1993), die von Ernst Schumacher geforderte Rückkehr zum menschlichen Maß (1981) oder der Traditionalismus eines Mahatma Gandhi (1993). (…)

Das ‚Neue Nachhaltigkeits-Paradigma‘ muss sich mangels historischer Vorbilder seinen eigenen Weg bahnen; genau genommen wagt das vorliegende Buch den ersten Versuch, das Paradigma zu erläutern. Immerhin hat John Stuart Mill schon Mitte des 19. Jahrhunderts mit großem Weitblick die Vorstellung von einer post-industriellen Gesellschaft entwickelt, die nicht primär nach materiellen Reichtümern strebt, sondern nach menschlicher Entwicklung (Mill 1848)“. (S. 30)

„Eine recht geläufige Weltsicht – oder eher die Negation einer Weltsicht – wurde bisher noch gar nicht erwähnt. Viele, wenn nicht die meisten Menschen schwören jeglichen Spekulationen und Philosophien ab und entscheiden sich für ein „Durchwursteln“ (Lindblom 1959). Es ist die große Masse der Nicht-Bewussten, Unbesorgten und Uninteressierten, die schweigende Mehrheit, der nichts ferner liegt, als nach einer Antwort auf die großen Fragen der Zukunft zu suchen.“ (Great Transistion, 2002, S.30)

Hier muss man m. E. ein Missverständnis aufklären: Lindblom hat das „Muddling through“ (das Durchwursteln) als Handlungsstrategie weder vertreten noch propagiert. Zu seiner Zeit (1960er Jahre) war die Euphorie in Bezug auf den Erfolg von Plänen weit verbreitet, und die Systemtheorie stand noch in ihren Anfängen. Lindblom war ein scharfer Beobachter und Kritiker dieser Euphorie, weil er feststellen musste, dass sich die meisten hochfliegenden und ‚eleganten‘ Planungen aufgrund der komplexen Bezüge in der Praxis auf ein chaotisches „Durchwursteln“ reduzierten. Diese Hybris besteht auch heute noch, wenn man glaubt, dass eine wünschbare Vorstellung sich über eine allzu schlichte Plansetzung wirksam umsetzen lässt. Es sollte eigentlich klar geworden sein, dass erfolgreiche Interventionen in komplexen sozialen Systemen (als Prozess gestaltet) mit zu den schwierigsten Aufgaben gehören, die man sich vorstellen kann.

An dieser Stelle möchte ich enden. Die hier in Ausschnitten dargestellten Grundlagen werden in der Studie ausgebaut, erläutert, verknüpft, teilweise mit interessanten Narrativen versehen und soweit möglich, konsequent zu Ende gedacht. Ich kann dem Leser nur einen Eindruck vermitteln und hoffe, das ich diesem Anspruch in Teilen gerecht werde. Es wäre aber vermessen, zu erwarten, dass diese Studie mehr ist als ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der schwierigen Lage, aus der wir gemeinsam nach einem sinnvollen Ausweg suchen. Man kann auch erkennen, dass sich seit der Studie aus dem Jahr 2002 in den vergangenen 22 Jahren wenig zum Besseren verändert hat und die jüngsten geopolitischen Randbedingungen sich eher einer Verschlechterung zu neigen. Die Studie bleibt politisch unerwartet aktuell.

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„Wachstum“ und die andere Perspektive

Wachstum ist heute die alles beherrschende ökonomische Metapher. Wachstum galt lange Zeit als der große Heilsbringer. Aber bei näherer Betrachtung ergeben sich Ungereimtheiten, ideologische Eigenschaften und Defizite, die zu dem „Zaubermittel“ so gar nicht passen wollen. Einige Gesichtspunkte sollen im folgenden aufgegriffen werden.

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Wachstum ist gewöhnlich eine einfache Kennzahl, die den Betrag des Bundesinlandsprodukts (BiP) des Vorjahres mit dem BiP des laufenden Jahr vergleicht. Ist der Quotient größer als im Vorjahr, spricht man von Wachstum (und das ist heutzutage die Erwartung). Ist der Quotient kleiner als im Vorjahr suchen die Kommentatoren i.d.R. einen Schuldigen. Die hier gewählte Definition zeigt auch gleich die unterschiedliche Wahrnehmung des Wachstums.

Solange die Kennzahl einen momentanen Zustand beschreibt (und mehr kann diese Kennzahl nicht), kennzeichnet Wachstum gegebenenfalls eine Tatsache. Erst die Interpretationen machen aus der schlichten Beschreibung vielfach eine Sollvorschrift (eine normative Forderung). Die Erwartungen liegen darin, dass behauptet wird, Wachstum sei ein eindeutiges Indiz für unseren Wohlstand und unser Wohlergehen. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass dieser Zusammenhang schon seit den 1970er Jahren nicht mehr besteht. Eine Korrelation gab es nur in den Jahren des Aufbaus.

Was ist Wachstum dann? Was ist der Inhalt der Wachstumserzählung und wie könnte sie entstanden sein? Peter Radford1 macht hierzu einen Vorschlag, der zu erklären versucht, warum Wachstum eine zentrale ökonomische Deutungsmacht darstellt und wie sie sich seit 1870 schrittweise entwickelt hat. „Es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass im Jahr 2008 (in der Finanzkrise) eine Ära zu Ende ging, als der schäumende Wahnsinn und die umfassende Korruption des amerikanischen Finanzsystems zu einem erbärmlichen Haufen zusammenbrachen und die Weltwirtschaft mit sich rissen. Seitdem kämpfen wir darum, die diskreditierten Ideen zu ersetzen, die diese Ära hervorgebracht haben. Das ist uns noch nicht gelungen. Das liegt zum Teil an der natürlichen Langlebigkeit der Torheit, solange eine Generation von Menschen (hier der Ökonomen), deren Ruf von ihrem hervorragenden Verständnis dieser Torheit abhängt, an der Macht bleibt2.“ Die Ära, die 2008 in sich zusammenbrach, war die Ideologie des Neoliberalismus. Unter den ‚diskreditierten Ideen‘ finden wir dann (siehe unten) auch die Vorstellung von der scheinbaren Unvermeidbarkeit von wirtschaftlichem Wachstum, die es zu ersetzen gilt.

„Die noch vorhandenen Konzepte, die sich nun als leere Fehlschläge entlarvt haben, zwingen uns dazu, unsere Energie eher auf die Vergangenheit als auf die Zukunft zu verwenden. Wir müssen die Wende in der Geschichte erklären, die einen Großteil des Nachkriegssiegs umkehrte oder vielmehr einfach beendete. Es war ein großer Fehler, den wir rückgängig machen müssen.3

Radford geht bei seiner Argumentation zum Thema Wachstum bis auf die 1870er Jahre zurück und sieht dort den Ausgangspunkt, indem ab diesem Zeitpunkt sich schrittweise ein grundsätzlicher Wechsel in den Eliten (die er „notables“ nennt) vollzieht. Die traditionellen Eliten wie die Monarchie, die Aristokratie, die Kirchen, das Militär erhielten durch das Wachstum, das durch die neuen Technologien ausgelöst wurde, neue Optionen, Anreize und Raum, ihre Privilegien anders zu nutzen.

Diese neuen Optionen haben aber einen stillen Wandel ausgelöst, bei dem die alten Eliten abgelöst wurden: „Es gab eine Revolution. Ein intellektuelles Erdbeben, das einen stillen politischen Putsch ermöglichte. Im Mittelpunkt standen Ökonomen. Doch die meisten ignorierten den zunehmenden Schaden.“

Diese stille Revolution verschob die Gewichte der Eliten. 1941 beschrieb James Burnham4 den Wandel von den alten Eliten zu einer neuen Struktur, die aus Business Executives, Technokraten, Bürokraten und Soldaten bestünde. „ Darin beschrieb er den Untergang des Kapitalismus und seine Ablösung, nicht durch Sozialismus, was damals in der westlichen Welt große Befürchtungen auslöste, sondern durch das, was er ‚Managerialismus‘ nannte. Er sagte voraus, dass die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt in die Hände einer Klasse von Managern fallen, die sie in ihrem eigenen Interesse verwalten würden. Sie würden sowohl die alte herrschende Kapitalistenklasse als auch die kürzlich ermächtigte Arbeiterklasse unterwerfen.5

Diese neue Elite brauchte ein Leitbild, eine Vision, an der sich ihre Strukturen ausrichten konnten. Diese neue Leitidee war – nach meiner Interpretation von Radfords Ausführungen – der Begriff des ökonomischen Wachstums, der dadurch eine politische Wendung und Bedeutung erhielt.

„Dieses schnelle Wachstum – üblicherweise in Begriffen ausgedrückt, zu denen uns Ökonomen überredet haben – ist das Fundament, auf dem die gesamte Moderne heute ruht. Dieses Wachstum wird durch die ständige Entdeckung und Anwendung von Technologien vorangetrieben (…). Innovation wurde zu unserem Motto. Wir gehen davon aus, dass unsere Ära als eine Ära der Innovation definiert werden kann und dass diese Innovation bessere Gesundheit, längeres Leben, breitere kulturelle Präsenz und eine bessere tägliche Existenzsicherheit bietet – wenn auch auf Kosten von Disruptionen. (…) Diese zentrale Bedeutung des anhaltenden schnellen Wachstums für unser modernes Leben ist der Kern unseres aktuellen Interesses. Es brachte den großen Nachteil der Umweltzerstörung und löste Zukunftskosten aus, die einen Großteil der seit 1870 kumulierten ‚Gewinne‘ absorbieren könnten. (…) Und doch machen wir unvermindert weiter. Wir sind dazu gezwungen: nicht zu wachsen, bedroht die Moderne in ihrer Gesamtheit. Die Selbsterhaltung der kapitalistischen Maschinerie, die das Füllhorn hervorgebracht hat, kann nicht aufhören. Sonst stürzt das gesamte Gebäude ein. Ökonomen akzeptieren diese Unvermeidlichkeit im Großen und Ganzen.“6

Diese Aussage ist nachvollziehbar, aber nur richtig, solange wir uns den üblichen Denkregeln unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems unterwerfen. Insbesondere, weil die von Redford getroffene Aussage im Grunde eine intellektuelle Kapitulation darstellt. Wenn ich Redford als Amerikaner richtig verstehe, will er „die Schuldigen“ zur Rechenschaft ziehen. Das ist m.E. nicht zielführend. Schlimmer erscheint mir die Tatsache, dass weder die Ökonomen noch andere Wissenschaftszweige in der Lage zu sein scheinen, kreativ Ideen zu entwickeln, wie wir mit den geringst möglichen Schäden aus der Sackgasse herauskommen können. Deshalb würde ich jede noch so kleine Idee begrüßen, die neue Horizonte eröffnet. Es gibt diese Inseln in einem Meer der intellektuellen Lethargie. Aber die Inseln müssen mehr werden, um über Alternativen zu verfügen. Um die Wahl zu haben!

Um die Ideen Redfords für Deutschland ein wenig konkreter werden zu lassen, soll an eine Veröffentlichung von Ludwig Erhard aus 1957 mit dem Titel „Wohlstand für alle“ erinnert werden. Das war ein Bestseller und so etwas wie ein politisches Versprechen in der damaligen Zeit. In der Nachkriegszeit konnte das Versprechen eingehalten werden, aber schon ab den 1970er Jahren korrelieren die Wachstumszahlen und der allgemeine Wohlstand nicht mehr. Mit Beginn der 1980er Jahre und mit dem Aufkommen des Neoliberalismus blieb das Wachstum weitgehend erhalten, aber die Reallöhne stagnierten bzw. fielen. Eine ‚Schere‘ zwischen jenen, die vom Wachstum profitieren und jenen, die dabei verlieren, wird immer deutlicher erkennbar. Es droht eine Spaltung der Gesellschaft. Das ehemalige Versprechen „Wohlstand für alle“ wurde offensichtlich gebrochen. Wachstum war ein Synonym für zunehmenden Wohlstand: wenn nicht heute, so doch in naher Zukunft. Viele politischen Argumentationen liefen darauf hinaus, den Druck der Straße mit dem Hinweis auf eine rosige Zukunft abzuschmettern.

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Mit dem Wachstum und der erwarteten Prosperität wurde aber auch vielfach die politische Systemfrage verknüpft. Solange einer rosigen Zukunft das Wort geredet werden konnte, stand unser demokratisches System nie ernsthaft in Frage. Wenn aber offensichtlich wird, dass durch das weitere Wachstum nur noch eine relativ kleine Geldelite den Rahm abschöpft, kommt verständlicherweise Frust auf. Das Erfolgsmodell unserer Demokratie rückt auf den Prüfstand.

Und nun erscheinen 1972 auch noch die „Grenzen des Wachstums“ (Meadows) mit der inzwischen anerkannten Aussage, dass die Ikone unserer Prosperität – das Wachstum – keinen Ewigkeitswert darstellt. Das Buch wurde zunächst belächelt, dann heftig bekämpft, aber letztlich mussten nach dreißig Jahren die Gegner die Waffen strecken, weil sich die Welt im Wesentlichen so entwickelte wie 1972 vorhergesagt. Neben der inzwischen akzeptierten Tatsache, dass weiterem Wachstum enge Grenzen gezogen sind, trat ergänzend der Klimawandel auf, der sich mit jedem Jahr, das ungenutzt verstreicht, zu einer Klimakrise erweitert. Die Erkenntnis, dass wir mit unserer Wirtschaftsweise diesen Planeten zu Grunde richten, erfahren viele Menschen als eine zusätzliche Demütigung. Aber der Zustand des Planeten lässt uns keine Zeit, unsere Wunden zu lecken und unsere Gemütslage zu pflegen. Wir werden handeln müssen. Und für einen Erfolg dieses Handelns sind die Voraussetzungen gegenwärtig denkbar schlecht.

Für viele unserer Bürger galt in den letzten 75 Jahren das Glaubensbekenntnis vom fortwährenden Wachstum. Dieser Glaube wurde durch die Entwicklung der Realität gründlich zerstört. Manche wollen es nicht begreifen, weil sie mit einer solchen Unsicherheit nicht leben können oder wollen. Sie wehren sich, weil ihnen ihre Vorstellung von der Welt zusammenzubrechen droht. Gibt es etwas, was ihnen die Wissenschaften, die Politik oder die Ökonomie stattdessen anbieten könnten? Das Wachstumsnarrativ muss durch eine gleich gute oder sogar bessere Alternative ersetzt werden. Je schneller wir hier etwas auf die Beine stellen, desto einfacher würde sich der notwendige Wandel darstellen lassen und breite Unterstützung finden können.

James Burnhams neue „technokratische“ Elite – sofern sie als solche wirksam wurde – erscheint mir dabei nicht das Problem. Gleiches gilt für die sogenannte Geldelite. Diese Kreise stehen bei Veränderungen natürlich erst mal auf der Bremse, aber sie sind rational genug eingestellt, um zu begreifen, wann sie ihre Einstellung ändern müssen, um ihren Status und insbesondere ihre Privilegien als ‚Elite‘ nicht zu verlieren. Ich sehe das Problem eher in der Emotionalität der Vielen, die man mit rationalen Argumenten nur schwer erreicht. Sie brauchen ein neues „Glaubensbekenntnis“, ein großes Versprechen, das so formuliert ist, dass es eine interessante Perspektive vermittelt, deren Einlösung aber variabel hält.

Stattdessen müssen wir die Beobachtung machen, dass mangels einer sinnvollen neuen Perspektive die ganz alten und verstaubten Glaubensbekenntnisse eines Nationalismus, eines Rassismus und anderer emotionaler Dummheiten aus der Mottenkiste der Geschichte hervorgekramt werden. Das erhöht den Entscheidungsdruck noch einmal massiv.

Lösen wir uns also gedanklich von der Fokussierung auf das Wachstum. Es bleibt fraglos ein Problem, aber wir können es für den Moment offensichtlich nicht lösen. Was wäre eine Alternative? Wir beobachten Spaltungstendenzen in der Gesellschaft. Wir glauben Frust identifizieren zu können. Welche Möglichkeiten haben wir, um diesen „Frust“ zu adressieren und aufzufangen? Wir können Maßnahmen ergreifen, die einer weiteren Spaltung entgegenwirken. Wir müssen Maßnahmen entwickeln, die die Spreizung der Gesellschaft für jeden nachvollziehbar reduzieren. „Die da oben“ aus der Perspektive großer Bevölkerungsteile müssen wir dadurch einfangen und sie wieder Teil der Gesellschaft werden lassen, indem für die Entwicklung dieser kleinen Schicht künftig erkennbare Einschränkungen realisiert werden. Levermann7 hat die Idee aufgebracht, die Einkommensspreizung z. B. auf 2 Mio. Euro p.a. einzuschränken, große Vermögenscluster im Rahmen der Vererbung aufzulösen (zu diversifizieren) und in einem ersten Schritt das Größenwachstum von großen Unternehmen deutlich zu begrenzen. Hier wird nicht von Enteignung gesprochen, sondern von Entflechtung, gegebenenfalls auch von Entbürokratisierung und Flexibilisierung. Niemandem wird ernsthaft etwas genommen, sondern es wird versucht, einen grundlegenden Strukturwandel zur Vielfalt einzuleiten, der uns möglicherweise dann eine Chance bietet, das Wachstumsproblem sinnvoll und erfolgversprechend anzugehen. Dabei wurde die Idee Levermanns hier einfach umgedreht: erst die Spaltung der Gesellschaft abbauen und dann absolute Grenzen der weiteren Entwicklung setzen, um ggfs. einen Wandel durch Faltung auszulösen.

Unbegrenztes Wachstum bedeutet stetes „Mehr, Höher und Größer“, aber nichts in unserer konkreten Lebenserfahrung ist in der Lage, ständig mehr zu werden ohne eine tiefe Spur der Zerstörung zu hinterlassen. Hinzukommt, dass das Wachstum noch fokussiert wird, indem in der Ökonomie einer Maximierung das Wort gesprochen wird als Ausdruck der Linearisierung unseres Denkens und als Ausdruck singulärer Exzellenz. Maximierung kann schon vom Begriff her nicht für alle oder eine Mehrheit gelten, es ist der Ausdruck einer Spitze, einer Singularität. Wer immer an der Singularität arbeitet, arbeitet auf eine Monopolisierung in der Gesellschaft hin. Das Argument, dass der Wettbewerb diese Monopolisierung verhindern könnte, ist sehr theoretisch, wenn man sich die schon konkret bestehenden globalen Unternehmenskonstruktionen und deren gewaltigen Einfluss auf Politik und Gesellschaft anschaut. Monopolisierung ist aber das Gegenteil von Vielfalt: also Einfalt! Und Vielfältigkeit war und ist in unserer planetarischen Entwicklungsgeschichte der letzten paar tausend Jahre der herausragende Erfolgsfaktor8. Ausgerechnet in der Ökonomie glauben die politischen Akteuren diesen evolutionären Erfolgsfaktor außer Kraft setzen zu können.
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1Peter Radford, In Praise of Rebellion? In: Real-World-Economics Review, No. 105, 2023, S. 2 ff.

2Radford, a.a.O., S.2 (eigene Übersetzung)

3Radford, ebenda, S. 2 (eigene Übersetzung)

4James Burnham, What is happening in the World – The Managerial Revolution, 1941

5Radford, S. 6 (eigene Übersetzung)

6Radford, S. 3 (eigene Übersetzung)

7Anders Levermann, Die Faltung der Welt, Berlin 2023, S.211 ff.

8Vgl. Johannes Krause, Thomas Trappe, Hybris – Die Reise der Menschheit, Berlin 2021

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Klimawandel braucht Wachstum??

Anlass für diese Fragestellung ist ein relativ kurzes Interview, das Lisa Nienhaus mit Mariana Mazzucato, (Ökonomieprofessorin) führte und in der Süddeutschen Zeitung vom Wochenende 20./21. Januar 2024 veröffentlichte. Mazzucato äußert sich zu einer Reihe von Wirtschaftsproblemen, zu denen ich keinen Widerspruch vorzubringen wüsste, aber sie führt dann aus:

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„Natürlich wollen wir Wachstum. (…) Wenn es kein Wachstum gibt, gibt es keine Beschäftigung, es fehlen die Innovationen, die wir brauchen (..). Wir brauchen Wachstum, um soziale und ökologische Probleme zu lösen. Wachstum ist nicht das Ziel, das Ziel ist es, diese Probleme zu lösen. (…)“ Hier hätte ich mir gewünscht, dass Lisa Nienhaus eingehakt hätte, um Mariana Mazzucato zu einer detaillierteren Erläuterung zu veranlassen.

So wie sich Mazzucato äußert, folgt sie der Argumentation der Mainstream-Ökonomie. Es kommt ihr gar nicht die Idee, dass sich hier ein eklatanter Widerspruch aufbaut. Die Wachstumsideologie hat zu mindesten zwei Problemen geführt: einmal zu Überproduktionen, damit das System überhaupt funktioniert (am Laufen gehalten werden kann) und zum anderen ist sie damit auch wesentlich Ursache für den Klimawandel. Es ist nun ein kurzer Weg von mehr Wachstum zu noch mehr Klimaproblemen – das ist m.E. kein Lösungsbeitrag!

Da Wachstum in der Vergangenheit scheinbar viele Probleme lösen konnte, hat sich die Ökonomie immer mehr auf dieses ‚Wundermittel‘ gestützt und hat nie ernsthaft überlegt, ob es hierzu nicht auch (komplexere) Alternativen geben könnte. Die Problemlösungen durch Wachstum haben immer mehr externe Effekte entstehen lassen, die zu Beginn vernachlässigbar erschienen, aber inzwischen bestimmen diese externen Effekte akkumuliert den Klimawandel und viele unserer sozialen und gesellschaftlichen Problemstellungen. Und die Ökonomie hat dazu keine Meinung, weil sie meint, dass sei nicht ihr Aktionsfeld, weil sie diese Effekte aus ihrem Weltbild bewusst ausgeklammert hat. Oder besser, sie kann es nicht, weil sie sich seit vielen Jahrzehnten nie über das Konzept der ‚externen Effekte‘ wirklich Rechenschaft abgelegt hat und deshalb die zunehmende Problematik gar nicht erkannte oder erkennen wollte.

Wachstum ist, so wie wir das Phänomen heute definieren, eine Exponentialfunktion, die in einem begrenzten bzw. endlichen System Erde keinen Platz hat. Sie explodiert relativ schnell ins Unendliche und kommt dadurch physikalisch absehbar mit der Endlichkeit des Planeten in einen ernst zunehmenden Konflikt. Die Wachstumsdefinition ist zudem ein völlig unzureichende Kennzahl, weil sie alles als Zuwachs erfasst, was ohne qualitativen Unterschied als Mehr, Höher, Schneller und in Geld dargestellt werden kann. Wenn das Ahrtal ‚absäuft‘, fließen die Aufwendungen zur Wiederherstellung der Zerstörungen als ‚Wachstum‘ in die Kennzahl ein. Nach der Logik werden wir bei zunehmenden Schäden durch Klimawandel bis zum bitteren Ende immer mehr Wachstum generieren.

Mazzucatos Ausführungen sind dahingehend zu interpretieren, dass sie die Lösung des Klimawandels im Wachstum sieht. Die Aussage impliziert m. E., die Lösung des Klimawandels auf (rein) technologischem Wege finden zu wollen. Ein alternativer Ansatz, der sich aus einer Ziel- und Verhaltensänderung und einer in Grenzen denkbaren technologischen Unterstützung ergeben könnte, schließt sie offensichtlich als aussichtslos aus. Mazzucato würde sich sonst vermutlich vorsichtiger ausdrücken.

Dabei tritt die Ökonomie auf wie eine naturgegebene Kaufmanns-‘Physik’. Ökonomie ist keine Naturwissenschaft, d.h. das gegenwärtig gültige „Geschäftsmodel“ der Ökonomie ist eine soziale, menschengemachte, komplexe Struktur, die in der Vergangenheit zweifelsohne ihre Vorteile ausspielen konnte. Es ist aber ein Geschäftsmodell, das unsere Gesellschaft aus heutiger Sicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit langfristig ‚an die Wand fährt‘. Es sei denn, wir ändern das Geschäftsmodell. Das wird im Allgemeinen unter dem Begriff der Transformation erfasst.

Über die fälligen Änderungen gibt es gegenwärtig noch keinen Konsens, weil niemand so recht weiß, wo denn was geändert werden soll. In einer solchen Situation verfügt man über kein Ziel, aber man kann als Ersatzstrategie alle Aktivitäten unterlassen, deren Schädlichkeit erkannt wurden. In dem bestehenden Modell gilt als ein großer Treiber das, was man so allgemein als ‚Wachstum‘ bezeichnet. Das sogenannte Wachstum in einem räumlichen Bereich ist der Quotient (in Prozent) aus BiP des laufendes Jahres abzüglich des BiP vom Vorjahr (im Zähler) bezogen auf das BiP des Vorjahres (im Nenner). Ist die Prozentzahl positiv, sind die Gazetten voll des Lobes und sprühen vor rosigen Zukunftsprognosen. Im anderen Fall richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Regierung mit dem Hinweis, macht mal was! So ganz genau weiß man nicht, was zu machen ist, weil es viele Alternativen gibt und der schlichte Quotient wenig wegweisende Informationen bereithält. Er beschreibt einfach einen meist vorübergehenden Zustand, aber macht über den Prozess, wie die Zahl zustande kommt, keinerlei ergänzende Angaben.

Mazzucato glaubt in dem Zuwachs des Wachstumsquotienten einen Ausdruck für Innovationen sehen zu können. Das ist vermutlich nur die halbe Wahrheit. Das BiP (Bruttoinlandsprodukt) ist ein fortlaufender Prozess, der kann eine Kernleistung (vergleichbar wie im Vorjahr), einen Zuwachs an Leistungen und einen Abgang an Leistungen aufweisen. Wie man leicht erkennt, kann die Kernleistung zunehmen, weil z.B. die Bevölkerungszahl durch Zuwanderung gestiegen ist und der Grundbedarf steigt, weil sich die Gesundheitsvorsorge wandelt, weil die Transportleistung wächst (u.ä.). Im Falle von Inflation kann BiP auch rein monetär wachsen. Darin drückt sich in aller Regel die quantitative Veränderung der Leistungserstellung aus. Die Innovationen, von denen Mazzucato spricht, sind qualitativ neue Leistungen, die es im Vorjahr als Innovation des Berichtjahres noch nicht gegeben hat. Sie werden vielleicht verstehen, dass ich hierin nur einen prozentual recht begrenzten Beitrag zum Wachstum erkennen kann, weil Kernleistung plus Zuwachs abzüglich Abgang in Summe und Durchschnitt etwa bei 1 – 1,5% liegen.

Was in der Diskussion regelmäßig nicht aufscheint, sind die Abgänge. Sie werden als Ausdruck der Schwäche gerne übergangen. Das sind aber jene Leistungen, die von Unternehmen im Vorjahr noch erbracht wurden, die aber aus unterschiedlichen Gründen im laufenden Jahr nicht mehr im Markt vertreten sind. Sie wären interessante Indikatoren für anstehende Veränderungen. Wenn der Wachstumsquotient nicht den Vorjahresquotienten erreicht, gibt es eine Vielzahl von Gründen (geringer Zuwachs, großer Abgang, Strukturveränderungen in der Kernleistung, u.a.m.). Wenn man nun die Gründe für die Erhöhung des Abgangs kennen würde, wüsste man ggfs., was zu tun ist. Das wissen wir aber i.d.R. nicht und es wird uns auch medial nicht vermittelt. Es wäre deshalb wünschenswert, nicht nur die Zugänge in ihren Qualitäten dargestellt zu bekommen, sondern auch die Qualität des Abgangs. Dann gewönne der Leser hinsichtlich dessen, was Wachstums sein könnte, eine gewisse Urteilsfähigkeit und das Wachstum verlöre durch diese Analytik etwas von seinem Fetischcharakter.

Eine wachsende Bevölkerung, egal ob durch Geburtenzahl oder durch Zuwanderung, wird immer wirtschaftliches Wachstum auslösen. Innovationen können u.a. auch ein Grund für Wachstum sein. Wenn aber durch große Veränderungen der Produktionsstruktur sich viele Unternehmen vom Markt zurückziehen und viele neue hinzukommen, so ist auch das kein Grund für Unruhe. Aber Wachstum um seiner selbst willen, ist Unsinn, weil das steigende Produktionsvolumen auch seine Konsumenten finden muss.

Da liegt m.E. ein wesentlicher Knackpunkt: Wir glauben, dass unser Wirtschaftssystem nur dann bestehen kann, wenn ständig „mehr“ produziert wird und das überbordende Produktvolumen nur durch ein subtiles und perfides Marketing in Konsum umgewandelt werden kann. Dabei wird vergessen, dass Kaufen um seiner selbst willen völlig sinnleer ist. Es ist nur dann sinnvoll, wenn ich das erworbene Gut benötige und/oder mich über den Erwerb freuen und ihn genießen kann. Das ist aber nicht das Ziel des Verkäufers. Nach seiner Vorstellung und getrieben durch die angebliche Notwendigkeit, Wachstum zu generieren, soll ich mich nach dem Erwerb blitzartig einem neuen Erwerbsvorgang widmen, um den vorgeblichen ‚Einkaufskick‘ nicht zu verlieren. Bei diesem schwachsinnigen Verhalten steigen immer mehr Menschen aus. Es gibt also auch von dieser Seite für Wachstum ganz reale Grenzen.

Der Tag hat immer nur 24 Stunden. Je mehr Kaufakte ich in diesem 24 Stunden absolvieren soll, um das System am Laufen zu halten, desto weniger Zeit bleibt für produktive Arbeit als Voraussetzung für den Konsum, zum Schlafen und Entspannen, für Kommunikation mit Freunden und Familie, für Kultur, fürs Essen und zum Genießen. Vorausgesetzt, ich verfüge über das notwendige Geld. Wenn ich mich darauf einlasse, komme ich mir vor, wie ein gehetztes Tier. Dieses System macht in letzter Konsequenz verrückt. Übrigens, der Umsatz der Psychopharmaka ist in den letzten 15 Jahren gewaltig angestiegen. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass wir in unserer Konsumentenrolle inzwischen komplett überfordert sind.

Also mehr Wachstum, d.h. noch mehr Konsum erscheint mir in einer Vernunft gesteuerten Umgebung schwer vermittelbar. Was soll denn mit Wachstum unter diesen Bedingungen erreicht werden? Die Erwartung, das System am Laufen zu erhalten, scheint mir kein ausreichender Grund zu sein, um Wachstum weiterhin als die Lösung unserer anstehenden Probleme zu erkennen.

Die Wachstumskritik aus der Sicht des Individuums tangiert den Ökonomen natürlich nicht. Dort herrscht nicht der Mensch, sondern der ‚homo oeconomicus‘: Ein egoistisches Konstrukt, das den Begriff der Überforderung gar nicht kennt. Dort, wo der leibhaftige Mensch schon lange von Psychopharmaka abhängig ist, handelt dieser Homukulus immer noch angeblich ‚rational‘ und damit ökonomisch richtig.

Wachstum wird in der ‚Alltagsökonomie‘ gerne als eine Voraussetzung für ausreichende Beschäftigung gesehen. Diese Auffassung kann bei wachsender Bevölkerung durchaus richtig sein, aber was bedeutet Wachstum bei stagnierenden Bevölkerungszahlen und insbesondere bei sogenannten ‚alternden Gesellschaften‘. Ich denke dabei an die Mehrzahl der europäischen Länder. Haben wir nicht gegenwärtig und auf absehbare Zeit eine eklatante Unterversorgung mit Arbeitskräften? Es fehlen in Deutschland gegenwärtig hunderttausende von Arbeitskräften. Man spricht von jährlich notwendiger Zuwanderung von 400.000 Menschen. Unabhängig, ob die Zahl realistisch ist: Kehrt sich da nicht die Frage um? Es steht doch gegenwärtig nicht die Beschäftigung in Frage, sondern das anzustrebende Wachstum, sofern hier eine reziproke Verbindung besteht.

Wenn wir – rein theoretisch als Gedankenspiel – unser Produktionsvolumen an den Beschäftigtenstand anpassen könnten, würden wir zwar ein unbefriedigendes Wachstum ausweisen, aber die Beschäftigung würde dadurch nicht zwangsläufig berührt. Der ‚Workforce‘ wäre es absolut egal, wie sich die Wachstumskennzahl entwickelt, solange ihre Beschäftigung konkret nicht in Frage steht. Es geht mir darum, deutlich zu machen, dass wir dem Begriff des Wachstums endlich die Rolle zumessen müssen, die ihm realiter auch zukommt. Wenn das Wachstum in Deutschland unbefriedigend wäre, dann würde damit heftig Politik gemacht, aber der konkrete Arbeitnehmer einer florierenden Firma sind dadurch nicht tangiert. Für ihn ist ‚Wachstum‘ nur eine Zahl für die Berichterstattung in den Zeitungen.

Die Klimakrise verlangt Reaktionen von uns, die wir nicht mit der einfachen Formel des „Weiter so“ erledigen können. Die Politik pflegt eine große Zurückhaltung für Maßnahmen, die Auswirkungen auf das haben könnte, was wir so in der Alltagsökonomie unter Wachstum verstehen. Wir müssen dem Begriff des Wachstums seine Totschlag-Argumentation nehmen, indem wir Wachstum besser analysieren und differenzierter damit umgehen. So wie wir heute Wachstum verwenden, laufen Wachstum und Klimakrise parallel: mehr Wachstum führen zu mehr Krise, mehr Krise zu mehr Schäden, deren Beseitigung wieder zu mehr Wachstum führen, u.s.f. – das ist – so gesehen – ein sich selbst verstärkender Prozess und absolut kontraproduktiv.

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Klimakrise und der Frust

In den letzten Monaten (vielleicht sind es auch schon Jahre) suche ich immer wieder nach Lösungsvorschlägen oder doch wenigstens Lösungsansätzen zur Klimakrise, wobei ich mich nicht auf Lösungen in einer Wissenssparte z.B. den Naturwissenschaften, der Ökonomie, der Systemtheorie oder den Sozialwissenschaften beschränken will, sondern versuche, die Breite der krisenhaften Herausforderungen im Blick zu behalten. Dabei muss ich darauf hinweisen, dass ich in den meisten Wissenssparten über den Status eines interessierten Laien nicht hinaus komme. Ich leiste es mir aber, Fragen zu stellen und die mir zugänglichen Antworten frustrieren mich.

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Nachdem ich zahllose Beiträge gelesen, überflogen, verarbeitet oder über das Internet aufgenommen habe, bleibt bei mir das Gefühl: wir wissen das meiste, aber wir handeln nicht danach! Ein klassischer Fall: wir besitzen (inzwischen) auf den meisten Problemfeldern die Urteilsfähigkeit, es fehlt uns aber an der Urteilskraft, das Erkannte auch umzusetzen (frei nach Immanuel Kant). In meinem Frust kam ich auf die Idee, zwischen meinen eigenen Erfahrungen aus vergangenen Tagen als Wirtschaftsprüfer und Sanierungsberater und der gegenwärtigen globalen Klimakrise Vergleiche zu ziehen. Um es vorweg zu sagen, Sanieren von Unternehmen ist eine punktuelle Maßnahme in einem weitgehend bekannten Umfeld mit anerkannten Methoden. Die Klimakrise hat da eine deutlich komplexere Qualität. Der Vergleich hinkt also, aber das nehme ich in Kauf.

Unternehmenssanierungen sind wiederholte Einzelfälle, die Klimakrise ist ein globales Problem. Und das für mich erschreckende Moment ist die Erkenntnis, dass meine Profession (der Ökonomen) überhaupt keinen Beitrag zu leisten in der Lage ist. Alles ist dort auf Wachstum und Wettbewerb aufgebaut. Die Ökonomen kommen aus ihrer „ideologischen Schablone“ nicht heraus. Unsere globale Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass genau jene Treiber unseres Wirtschaftssystems (Wachstum und Wettbewerb) von den Naturwissenschaften als künftige „No-Go-Area“ identifiziert wurden und das nicht erst seit gestern, nein – seit über 50 Jahren!

Im Falle der Unternehmenssanierung treten die Probleme für den Fachmann meist offen zu Tage und alle Beteiligten haben gewöhnlich erkannt, dass wir es mit einem Problem zu tun haben. Mit der Feststellung einer Sanierung ist auch allen klar, dass es jetzt „ans Eingemachte“ geht. Alle Beteiligten ziehen mehr oder weniger „am gleichen Strang“.

Für die ‚Sanierung‘ des Klimas liegen die Probleme zeitlich völlig anders: die Problem-Ursachen bauen sich oft über Jahre in der Vergangenheit auf und die Wirkungen ‚tropfen‘ so unregelmäßig in die Gegenwart und absehbare Zukunft, dass die meisten den Zusammenhang überhaupt nicht sehen und gegebenenfalls auch nicht verstehen (wollen). Und wenn sie sich der Realität dann wirklich stellen, dann kommt das Erschrecken, dass wir möglicherweise viele liebgewonnene und bequeme Verhaltensweisen werden aufgeben müssen. Und die „Leute“ sind verständlicherweise frustriert, weil sie die Not-wendigkeit aus eigener Anschauung nicht erkennen können.

Sanierungen umfassen gewöhnlich einen kleinen Bereich im ökonomischen Ganzen. Selbst wenn das Unternehmen die „Kur“ nicht übersteht, ist es bitter für die Betroffenen, aber für das Wirtschaftssystem keinesfalls existenzbedrohend. Die Klimakrise ist ein globales (und höchst komplexes) Phänomen und die Problemtreiber sind sehr heterogen verteilt. Vielfach wird oft zur psychologischen Entlastung vorgebracht, dass die Bundesrepublik nur mit einer einstelligen Prozentzahl an dem globalen Problem beteiligt sei. Konsequenterweise meinen deshalb einige, dass es völlig unwesentlich sei, wie wir uns verhalten. Das ist ein grandioser Trugschluss, der dann offensichtlich wird, wenn wir das Problem auf den Beitrag pro Kopf (per capita) umrechnen, dann erschrecken wir und es wird jedem klar, wir müssen in der Lösung vorangehen und können uns nicht auf die klein gerechnete Zahl unseres globalen Anteils zurückziehen.

Sanierungen lösen in einem Unternehmen regelmäßig große Hektik aus, weil – wie es so schön heißt – alles auf den Prüfstand muss. Alle eingefahrenen Routinen werden hinterfragt, jeder Leistungsbeitrag und jede Kostenkategorie wird (hoffentlich neutral) im Licht der Sanierungsaufgabe neu bewertet. Dabei ist das Ziel klar – Rückgewinnung der Profitabilität des Unternehmens! Also Rückgewinnung einer Chance auf Zukunft in einem weitgehend als bekannt geltenden wirtschaftlichen Umfeld!

Wie sieht die Zielvorstellung für eine „Sanierung“ im Rahmen der Klimaproblematik aus? Ich wüsste hier keine vernünftige Antwort, die ins ‚Schwarze‘ träfe. Klar ist, dass es keinen Weg im Sinne von „zurück zur Natur“ gibt. Es gibt auch keinen Weg zurück zu einer landwirtschaftlich geprägten Handwerkerstruktur, die vor dem Beginn der Industrialisierung für eine Reihe von vergangenen Jahrhunderten auch kein Wachstum und keinen ausgeprägten Wettbewerb kannte. Wenn uns nun die Naturwissenschaft und die Regeln der Mathematik klar machen, dass Wachstum auf einem endlichen Planeten sehr rasch sein Ende finden wird, dann fehlen mir Kategorien und Begriffe, mit denen ich auch nur im Umriss eine Zukunft beschreiben könnte.

Das heißt nicht, dass es keine Zukunft gibt, es heißt nur, dass mir die Begriffe fehlen, um mir eine hinreichend solide Beschreibung des künftigen Zustands vorstellen zu können. Ich sehe mich in der Lage, eine negative Abgrenzung zu formulieren (siehe oben), aber ich sehe mich nicht in der Lage, ein positives Bild der konkreten Struktur einer wünschenswerten Zukunft zu umreißen. Und ich glaube, da bin ich nicht allein.

Das macht das Problem der Ökonomen erklärbar. Alle Geschäftsmodelle, die mir geläufig sind, bauen direkt oder indirekt auf dem noch allgegenwärtigen Wachstum auf. Dort gibt es keine Grenzen und wenn ja, dann erfand die „Nationalökonomie“ (wie sie früher hieß) den Weg der Substitution: Wenn eine Ressource wegfällt, dann nehmen wir eben einen Ersatz! Dass es dann keinen Ersatz mehr geben könnte, wird erst bei einer globalen Betrachtung deutlich. Was machen wir dann? Wir ändern die Technologie, bis dann auch die neue Ressource endet? Das ist ein Wettlauf zwischen „Igel und Hase“. Das ist schlicht eine ideologische Sackgasse.

Also behaupte ich, wir kennen das Problem, aber wir sehen uns nicht in der Lage, ein ‚Geschäftsmodell‘ für eine neue Gesellschafts- oder Wirtschaftsstruktur zu formulieren, in der Wachstum keine wesentliche Rolle mehr spielen kann.

In der Unternehmenssanierung gibt es solche Fälle ganz selten, aber sie sind denkbar, wenn die Phantasie der Unternehmensführung nicht ausreicht, sich zu entscheiden oder die Geschäftsführung in der Entscheidung wie der Esel zwischen zwei Heuhaufen schwankt . (Am Ende ist der Esel verhungert). Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen. Gibt es im Rahmen eines Unternehmens dann noch einen dritten Weg? Prinzipiell ja, aber er gilt nicht als der Königsweg. Wenn man sich über das Ziel nicht einig wird und die Sanierungslage dem Unternehmen auch noch etwas Zeit lässt, kann man die Zielsuche zurückstellen und versuchen, die Unternehmensprozesse im wirtschaftlichen Sinne zu ‚optimieren‘: Das gleiche Ergebnis z.B. mit weniger Einsatz zu erzielen.

Auch hier braucht es natürlich Ziele, aber man kann sich mit Zwischenzielen behelfen: Es wird versucht dann, in dem Sanierungsunternehmen möglichst alle Einsparungspotenziale zu identifizieren und die Potenziale zu realisieren. Wenn man nicht weiß wohin, kann man ja das, was man gegenwärtig produziert oder bereitstellt, so gestalten, dass vielleicht nicht der Gewinn wächst, aber der Cashflow des Unternehmens zunimmt, damit dann, wenn ein Handlungsziel gefunden ist, z.B. eine Liquiditätspolster zur Verfügung steht. Man geht also mangels Ziel nicht nach außen auf die Märkte, sondern man spart ein und versucht die „Sanierungskasse“ zu füllen, um dann von Fall zu Fall handlungsfähig zu sein.

Eine solche „Kur“ deckt oft ungeahnte Ressourcen auf. Jede Organisation hat immer auch einen Anteil selbststeuernder Prozesse und es können sich neue Perspektiven auftun, die vorher gar nicht in Erwägung gezogen wurden. Man kann diese Kur auch als Maßnahme der Suffizienz betrachten, als Versuch durch deutlich weniger Aufwand ein zumindest interessantes Niveau zu erreichen.

Was bedeutet diese Betrachtung für unser Verständnis der Klimakrise? Wir haben oben festgestellt, es gibt m.E. keine robuste Zielvorstellung:

  • Es gibt die Brundtland’sche Nachhaltigkeitsforderung. Aber keiner weiß so richtig, was Nachhaltigkeit eigentlich bedeutet. Die Wirtschaft hat diese Unklarheit mit dem sogenannten ‚Greenwashing‘ schamlos und kontraproduktiv ausgenutzt.
  • Es gibt das Ziel der Pariser Klimakonferenz, dass der Temperaturanstieg 1,5 Grad nicht übersteigen soll. Es gibt für diese Erklärung des guten Willens etwas über 190 zustimmende Unterschriften der beteiligten Staaten.
  • Es gibt sogar 17 Teilziele (Stratigic Developement Goals), die das Ganze nochmals im Detail unterstreichen und aufgliedern.

Aber wo sind die Maßnahmen? Wenn man sich nicht traut, vorwärts zu gehen, bleibt immer noch der Weg, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Z. B. Maßnahmen, die zu ein Abbau von fehlleitenden Anreizen (wie Subventionsabbau) führen, um hier nur ein Beispiel zu nennen? Der europäische CO2-Zertifikatehandel beginnt erstmals in diesem Jahr (2024) seine lenkende Wirkung zu entfalten, es gibt ihn aber schon seit mehreren Jahren. Die geplante und gewollte Preiserhöhung bei der Verwendung fossiler Energie führt beim Bürger zu erhöhten Energiekosten. Das sogenannte ‚Klimageld‘ (die Rückgewähr von erhöhten Energiekosten) steckt aber noch irgendwo in den Mühlen der Bürokratie.

Bleiben wir dabei: Es gibt so etwas wie Ziele, aber sie sind nicht geeignet, um konkrete Maßnahmen auszulösen. Auf politischer Ebene hantiert man gerne mit solchen Zielen. Sie haben meist kaum reale Konsequenzen. Aber sie klingen gut und gelten als Beweis politischer Aktivität. Das ist angesichts der Klimakrise und ihrer möglichen Folgen kein Gewinn. Darauf lässt sich m.E. eine ‚Sanierung‘ unserer Lebensumstände im Sinne der Klimakrise nicht aufbauen.

So gesehen haben wir einen gewissen Vergleich mit dem Fall einer Unternehmenssanierung ohne klare Zielentwicklung. Wir können nun warten, bis nach einem komplexen Meinungsbildungsprozess (eventuell) praktikable Ziele verfügbar sein werden. Dem steht entgegen, dass wir uns im Interesse unserer künftigen Generationen diesen Zeitbedarf nicht leisten können.

Oder wir gehen den Weg, den Karl Popper vor vielen Jahren als die Strategie der Stückwerkstechnik (piecemeal approach) bezeichnet hat. Diese Politik der kleinen Schritte ist selten streng zielorientiert, eher sucht sich der Prozess seine jeweiligen temporären Ziele im Nahbereich mit einem nur losen Bezug zum ‚großen Ziel‘. Auch dieser Ansatz hat aber nach meiner Einschätzung ein paar harte Voraussetzungen:

  • Den Betroffenen muss klar sein, dass eine Situation vorliegt, deren „Not gewendet“ werden muss – die Veränderung muss als notwendig erkannt werden (können). Das scheint gegenwärtig nicht (ausreichend) der Fall zu sein.
  • Es muss ein Narrativ bestehen oder entstehen, das die großen Ziele beschreibt und deren Sinnhaftigkeit einer Mehrheit so vermittelt, dass bei jedem größeren Prozessschritt eine grobe Abstimmung mit dem übergeordneten (großen) Ziel möglich wird. Die Bürger wollen die kommenden Schritte ohne theoretischen Ballst ‚verstehen‘ können. Dazu braucht es eine Vision, eine Vorstellung, wie Wirtschaften als Funktion einer zweckmäßigen Güterversorgung ablaufen könnte. Das wird künftig der eigentliche Kern des Wirtschaftens sein.
  • Die Anwendung der Wachstumsstrategie muss absehbar ein Ende haben. Nicht sofort, aber sagen wir innerhalb der kommenden 20 Jahre. An dieser Entscheidung kann sich die Politik nicht vorbei mogeln, indem sie sich die scheinbar einfachere Strategie der Anreize zu eigen macht. Die Wirtschaft muss sich auf den künftigen Wegfall des Wachstums verlässlich einstellen können. (vgl. A. Levermann, Die Faltung der Welt, 2023)
  • Dem Wachstum muss durch begleitende Maßnahmen in dem verbleibenden Zeitraum die vordergründige „Attraktivität“ durch Eingrenzung der Unternehmensgröße, durch Eingrenzung der extrem hohen Einkommen und Aufteilung der großen Vermögen im Falle der Vererbung genommen werden (vgl. auch hier die Vorschläge von A. Levermann, siehe oben). Diese Entwicklungen sind für den Normalbürger uninteressant, weil sie nur eine sehr kleine, aber einflußreiche Bevölkerungsgruppe tangieren.
  • Dieser Entzug der Attraktivität ist ein länger dauernder und deshalb in Grenzen steuerbarer Prozess. Wenn wir nicht mehr auf Wachstum (als Zunahme an Größe und finanzieller Macht, oder als oft sinnleere Erhöhung der ‚Drehzahl‘ und des Durchsatzes) vertrauen können, werden wir uns von den großen bürokratisch dominierten Einheiten und Konglomeraten trennen müssen und versuchen, daraus eine agile Struktur kleinerer, aber kreativer Einheiten zu schaffen ohne das allgemein hohe Versorgungsniveau durch die Wirtschaft aufgeben zu müssen.
  • Die Wirtschaftsleistung muss dadurch nicht zwangsläufig sinken, nur weil die wirtschaftlichen Entscheidungen schrittweise auf kleinere Einheiten umverteilt werden. Die Abwicklung große Projekte wird auch heute nicht nur durch „Jumbos“ (Großunternehmen) getragen, sondern auch durch erfolgreiche Kooperationen von kleineren Partnern.
  • Ein wesentlicher Punkt bleibt die Tatsache, dass wir nicht auf einer Insel leben, sondern in ständigem Austausch mit anderen Ländern, die möglicherweise unsere Vorstellungen nicht oder nur begrenzt teilen. Dabei kann die Fragwürdigkeit des Wirtschaftswachstums kein neuerlicher Diskussionspunkt sein. Die Physik gilt global und es ist nicht sinnvoll, zu versuchen mit ihr zu diskutieren. Die Frage kann nur sein, ob die hier angesprochenen Maßnahmen zweckmäßig oder dem Problem angemessen sind. Es fehlt an einer Initialzündung, weil in der Politik offensichtlich das Mikado-Spiel die Regeln definiert: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren! Ein deutlich konstruktiveres Bild vermittelt die Aussage: Hahnemann, geh Du voran! Wenn einer wirklich Ernst macht, folgen viele andere dem Beispiel und die Vielfalt der Alternativen wird sprunghaft ansteigen. Es setzt aber Mut zum Handeln voraus.

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Die Faltung der Welt

Anders Levermann1 hat unter diesem Titel 2023 ein Buch veröffentlicht, das sich mit dem Widerspruch von expotenziellem Wachstum in einer endlichen Welt auseinandersetzt. Die Ökonomie lebt mit diesem Widerspruch seit langem. Dieser wurde in den letzten fünfzig Jahren immer wieder erfolgreich verdrängt, in dem man auf die scheinbaren und tatsächlichen Erfolge der Wachstumsidee verwies und die absehbar expotenzielle ‚Explosion‘ gezielt ausblendete. Bisher gab es m.W. keine ernst zu nehmende Idee, wie dieses global immer drängendere Dilemma gelöst werden könnte.

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Levermann ist theoretischer Physiker und befasst sich u.a. mit der Komplexität dynamischer Systeme. Die Komplexität und Dynamik solcher Systeme wird mit Hilfe der mathematischen Chaostheorie versucht zu erfassen und deren ‚Gesetzmäßigkeiten‘ darzustellen. Aus den Erkenntnissen dieser Mathematik lässt sich offensichtlich2 ableiten, dass dynamische Systeme, wenn deren Aktivitäten auf unüberwindbare Grenzen stoßen, nicht zusammenbrechen, sondern ausweichen und ihre Aktivitäten innerhalb des verbleibenden Raumes ‚falten‘ (anpassen). d.h. die Grenze zwingt das ursprünglich einseitig trajektorische Wachstum in eine Faltung, die das ‚Voranstreben‘ in eine eher ‚raumfüllende‘ Bewegung umwandeln kann.

Das Verhalten des mathematische Modell eines dynamischen Systems scheint Levermann dazu inspiriert zu haben, sich zu fragen, ob dieses Modell nicht eine Vorlage sein könnte, das Dilemma des expotenziellen Wachstums in einem begrenzten Raum zu lösen. Aus seinen Ausführungen ist zu entnehmen, dass das Modell nur dann das erwartete Verhalten hervorruft, wenn die Grenze unüberwindlich, also absolut, ist und der verbleibende Raum frei von sonstigen Regulierungen verfügbar ist, damit sich der angestrebte innovative und kreative Prozess der Faltung ungehindert entwickeln kann.

Auf diesem Modell basieren die Vorschläge, die Levermann dann ausführt. Zuvor versucht er dem Leser zu vermitteln, dass die globale Klimasituation aus der Perspektive der Naturwissenschaften in einem Stadium ist, in dem man harte Entscheidungen treffen muss: nicht für morgen, aber z. B. für einen Zeitraum für die nächsten zwanzig Jahre. Die Entscheidung muss heute fallen, um dann in einer Art Übergangszeit (z.B. zwanzig Jahre) die Entscheidung schrittweise zu realisieren. In der politischen Diskussion wird schon seit längerem der Gedanke sogenannter „Leitplanken“ verarbeitet, die die Entwicklung der nächsten Jahre bestimmen sollten. Levermann setzt hier weniger auf Leitplanken als auf wenige klare, unüberwindbare Grenzen (‚Verbote‘), die nicht ein sanftes Weniger von Etwas anstreben, sondern schlicht Null.

Die zwanzig Jahre sind gewissermaßen ein Zugeständnis an die Politik, die sich immer leichter tut, Dinge anzukündigen als sie gleich umzusetzen. Ich bin mir nur nicht sicher, wie diese Entscheidung gefasst werden muss, damit sie von den Gegnern, deren Lobbyisten und von den nachfolgenden Vertretern der Politik nicht wieder aufgeweicht werden können. Es wird mit jedem Jahr die Auseinandersetzung härter werden, denn die ultimative Umsetzung rückt ständig näher: Die Uhr tickt!. Die Entscheidung müsste vermutlich Verfassungsrang erhalten und die notwendigen Maßnahmen müssten einklagbar sein.

Die angesprochenen Grenzen unterscheiden sich grundlegend von den sogenannten mikroökonomischen Maßnahmen, die als Regulierungen nach Levermanns Meinung den Faltungsprozess behindern. Hier bin mir nicht sicher, was in diesem Zusammenhang eine ‚Regulierung‘ ist. Rechtsfreie Räume z.B. sind nach meinem Verständnis in unserem Gesellschaftssystem eher selten. Aber rechtsfreie Räume bewusst schaffen, da kann ich nicht mitgehen, weil die Kreativität und die Innovation, wenn wir sie komplett „von der Leine“ lassen, erfahrungsgemäß nicht nur positive Seiten hat. Die Faltung ist m.E. ein eigenständiger gesellschaftlicher Prozess, dessen Entwicklungsrichtung nicht oder nur grob vorhersagbar ist.

Wenn wir durch das Setzen von absoluten Grenzen (also nicht weniger, sondern radikal Null) einen Strukturwandel auslösen wollen, so setzt das Wort ‚Wandel‘ ja voraus, dass Strukturen vorhanden sind, die es zu verändern gilt. Wir fangen nicht bei Null an, sondern steigen in einen laufenden Prozess ein. Ob unter diesen Voraussetzungen der gewünschte Strukturwandel, wie vom Modell erwartet, einsetzt, erscheint mir unsicher.

Damit sind wir in einem anderen Problemfeld: Modelle leben meist davon, dass sie eine Idee verkörpern und keinen realen Prozess. Modelle werden oft unter einer „tabula rasa“-Fiktion erstellt und müssen dann bei ihrer Umsetzung in einer gelebten Umgebung so viele Zugeständnisse machen, dass die Gefahr besteht, dass die Voraussetzungen, die das Modell zur Funktionsfähigkeit braucht, nicht mehr eingehalten werden können.

Es gibt zwischen Theorie und Praxis so etwas wie eine ‚Unschärferelation‘: Was in der Theorie sauber und scharf bestimmbar ist, verliert bei seiner Übertragung auf reale Um- oder Zustände ihre Eindeutigkeit, die der Sachverhalt in der Theorie (im Modell) noch hat. Deshalb sehe ich in der Faltung ein gewisses gesellschaftliches Risiko: Was ist, wenn sich nach Einführung der absoluten Grenze möglicherweise aus historischen, sozialen oder politischen Gründen keine oder eine unerwünschte Faltung einstellt?

Wenn wir ‚heute‘ eine Entscheidung über eine absolute Grenze treffen, haben wir im Grunde zwanzig Jahre Zeit, diesen Wandel zu begleiten und wirksam zu beeinflussen. Es wird nur notwendig sein, vergleichbar mit der Reduktion des Volumens der EU-Zertifikate zum CO2-Ausstoss, ein Verfahren zu entwickeln, in dem der angestrebte Wandel unaufhaltsam und für jedermann nachvollziehbar verfolgt werden kann.

Es wird mächtige Gegner dieser Grenzen geben, weil einige Beteiligte ihre hochrentierlichen Geschäftsmodelle aufgeben müssen. Ob sie in dem ‚Faltungsspiel‘ (dem Strukturwandel) Erfolg haben werden, ist nicht vorhersagbar. Insbesondere große wirtschaftliche Einheiten, die sich in der Regel nicht durch inhärente Flexibilität und besondere Kreativität auszeichnen, werden unter starkem Druck stehen, weil die Strategie, Flexibilität und Kreativität bei Bedarf zukaufen zu können, nicht mehr aufgehen wird. Die Karten werden insoweit neu gemischt.

Das Faltungsmodell setzt absolute Grenzen nur in Fällen von Prozessen, die selbstverstärkend wirken und damit absehbar auf eine „Explosion“ hinauslaufen. Nach unserem Verständnis ist Wachstum solch ein sich selbstverstärkender Prozess, der mathematisch als eine Expotenzialfunktion beschrieben wird. Am Anfang ist die Kurve flach und unauffällig, um dann in Abhängigkeit von den jährlichen prozentualen Zuwächsen jäh in die Vertikale überzugehen und ins Unendliche zu „explodieren“. Die Wachstumsbegrenzung wird gewöhnlich physikalisch in zwei eng verwobene Kategorien aufgeteilt: einmal muss der CO2-Ausstoß beendet werden und zum anderen der Ressourcenverbrauch. Beide Variablen sind durch unsere Wirtschaftsform als selbstverstärkend zu klassifizieren und wir werden im Rahmen des Ansatzes der Faltung beide durch absolute Grenzen einschränken müssen. Die Einschränkung von CO2 ist dabei wohl zeit-sensibler als die Einschränkung des Ressourcenverbrauchs. Im Hintergrund wabert dann noch ein drohendes Plastikverbot, weil der Einfluss von Mikroplastik in unseren Lebensprozessen nicht mehr beherrschbar ist.

Wir haben nach meinem Verständnis aufgrund der physikalischen Verhältnisse keine andere Wahl. Mit der Physik kann man nicht verhandeln. Wir können die physikalischen Gegebenheiten nur akzeptieren und uns anpassen.

Die Frage ist berechtigt, ob die absolute Grenzziehung bei CO2 und beim Ressourcenverbrauch ausreichen werden, um möglichst viele, wenn nicht alle physikalisch irreversiblen Kipppunkte zu vermeiden. Die Frage ist nur schwer zu beantworten, weil die globale Null-Grenze nicht ohne m.E. tiefgreifende Veränderungen in unseren Strukturen (Stichwort: Strukturwandel) realisiert werden kann. Was sich konkret ändern wird oder muss, ist m.E. aus dem Vorschlag von Anders Levermann aufgrund der bestehenden Komplexität gegenwärtig nicht ableitbar.

Levermann vertritt die Auffassung, dass die absoluten Grenzen Ausnahmen bleiben müssen, weil wegen deren Radikalität hier Vorsicht walten sollte. Zu viel des Guten erstickt möglicherweise mehr als uns recht sein kann. In seinem Buch hat er dann noch drei weitere Grenzen eingezogen, die sich m. E. als eine gesellschaftlich orientierte Konsequenz aus dem naturwissenschaftlich orientierten Ansatz nachvollziehbar ergeben3:

  • Begrenzung der Unternehmensgröße
  • Begrenzung des Erbens
  • Begrenzung der Einkommensunterschiede

Levermann verlässt damit die physikalisch fundierte Sphäre und wird zum politisch denkenden Menschen, der sich fragt, wie eine Gesellschaft bei derartigen Herausforderungen zusammengehalten werden kann. Die ausführlichen Begründungen bitte ich in seinem Buch nachzulesen.

Wenn wir Wachstum durch Faltung ersetzen, so hat dieses Vorhaben nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn wir richtig große Unternehmen als wirtschaftlich inattraktive Unternehmensformen besteuern, weil der Handlungsraum für die Faltung kleiner wird und wir nicht mehr in ‚Größe‘ investieren können, sondern in die Vielfalt und Vielfalt ist mit extrem großen Unternehmen, deren Finanzkraft die unserer Staatshaushalte oft weit übertrifft, nicht herzustellen. Es muss der Primat der Politik sichergestellt bleiben.

Die Begrenzung des Erbens ist dann eine m.E. logische Folge, indem Vermögensübertragungen von Todes wegen pro Person auf z.B. 2 Mio. Euro oder Dollar begrenzt werden. Das trifft den Normalbürger nicht. Der Erblasser muss also bei großen Vermögen entsprechend viele Personen mit seiner Erbschaft beglücken. Hohe Vermögensverdichtungen sollen im Sinne der Vielfalt aufgelöst werden. Was mit „Personen“ konkret gemeint sein könnte, müsste noch geklärt werden (natürliche, juristische). Der Staat ist dabei eindeutig keine ‚Person‘, er zieht seinen Obolus über die Steuer ein. Die Idee dahinter ist die Erwartung, dass mit einem Erbe von 2 Mio. Euro sich kaum einer aus den gesellschaftlichen Pflichten eines Gemeinwesens verabschieden kann. Er wird sich einbringen müssen.

Wenn das Erben letztlich eine Rückführung von Vermögen in die Vielfalt darstellt, so ist nach dieser Logik auch der Aufbau von Vermögen im Rahmen von Einkommensunterschieden zu begrenzen. Es geht nicht darum, zu nivellieren, es geht darum, extreme Einkommensentwicklungen einzuhegen. Levermann schlägt vor, das Jahreseinkommen auf z.B. zwei Millionen Euro zu begrenzen. Die Grenze wird durch Besteuerung sichergestellt. Einkommen über 2 Millionen Euro sind zwar möglich, werden aber zu einhundert Prozent besteuert. Es wird sich also nicht lohnen, mehr zu verdienen. Mit zwei Millionen Jahreseinkommen kann man über ein normales Arbeitsleben durchaus ein ansehnliches Vermögen aufbauen. Wenn es dann zum Vererben kommt, gelten wieder die Vererbungsregeln und der Vermögensaufbau beginnt für die Erben von vorne. Damit wird finanzielle Macht nicht mehr (so einfach) vererbt werden können.

Lassen Sie uns nochmals den großen Bogen spannen: Der Neoliberalismus will uns glauben machen, dass es zu dieser Wirtschaftsform keine Alternative gibt. Margret Thatcher werden die Worte in den Mund gelegt: „There is no alternative“ (Tina). In der Ökonomie wurde diese Auffassung wie ein Glaubensbekenntnis rauf und runter gebetet. Nahezu dreißig Jahre lang hat man uns mit der Auffassung hingehalten, dass es möglich wäre, Wachstum vom Ressourcenverbrauch abzukoppeln. Das hat bis heute nicht einmal im Ansatz geklappt.

Nun kommt aus der Theorie der komplexen und dynamischen Systeme eine Erkenntnis, die es möglich macht, die unbestrittene Kraft des Wachstum umzulenken. Aus einer Wachstums-Trajektorie kann man durch eine radikale Grenzziehung die eher eindimensionale Trajektorie in eine Faltung zwingen. Aus einem schlichten Vorwärtsstreben kann man eine Faltung, einen Eintritt in die Vielheit erwarten. Die Einfalt der Trajektorie wird zur Vielfalt der Faltung. Das könnte der Punkt sein, um festzustellen: „There is a valid alternative.“ Wir brauchen jetzt noch eine historisch relevante Figur, der wir die neue ‚Erkenntnis‘ in den Mund legen können, ohne dass die Person noch die Erkenntnis dabei Schaden nimmt. Die nächsten Schritte müssen sich mit dem Narrativ befassen, um diese Alternative in eine Geschichte zu kleiden, die ein wesentlicher Teil der Gesellschaft als interessant und für sie als vorteilhaft akzeptieren kann. Das wäre eine dankbare Aufgabe für die Ökonomen, aber ich habe meine Zweifel, ob sie dazu fähig sind, weil sie plötzlich das Gegenteil von dem vertreten sollen, was sie uns jahrzehntelang gepredigt haben.

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1Anders Levermann ist am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung auf dem Feld der Komplexitätsforschung tätig. (https://www.pik-potsdam.de/)

2Ich hoffe, meine Erklärungen sind richtig und verständlich. Sie sind das Ergebnis meines Verständnisses der Ausführungen Levermanns, aber ohne die dafür notwendigen mathematischen Kenntnisse zu besitzen.

3Anders Levermann, a.a.O., S. 211ff. u. S. 261f.

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